die Lyrik-Wiese

Spielwiese => Wiesenspiele => Thema gestartet von: Seeräuber-Jenny am Januar 19, 2010, 21:11:47

Titel: Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Januar 19, 2010, 21:11:47
(http://static.twoday.net/amazone1/images/modersohn3.jpg)
(Paula Modersohn-Becker, Bildnis Rainer Maria Rilke)

Rainer Maria Rilke

Der Sänger singt vor einem Fürstenkind

Dem Andenken von Paula Modersohn-Becker

Du blasses Kind, an jedem Abend soll
der Sänger dunkel stehn bei deinen Dingen
und soll dir Sagen, die im Blute klingen,
über die Brücke seiner Stimme bringen
und eine Harfe, seiner Hände voll.

Nicht aus der Zeit ist, was er dir erzählt,
gehoben ist es wie aus Wandgeweben;
solche Gestalten hat es nie gegeben, -
und Niegewesenes nennt er das Leben.
Und heute hat er diesen Sang erwählt:

Du blondes Kind von Fürsten und aus Frauen,
die einsam warteten im weißen Saal, -
fast alle waren bang, dich aufzubauen,
um aus den Bildern einst auf dich zu schauen:
auf deine Augen mit den ernsten Brauen,
auf deine Hände, hell und schmal.

Du hast von ihnen Perlen und Türkisen,
von diesen Frauen, die in Bildern stehn
als stünden sie allein in Abendwiesen, -
du hast von ihnen Perlen und Türkisen
und Ringe mit verdunkelten Devisen
und Seiden, welche welke Düfte wehn.

Du trägst die Gemmen ihrer Gürtelbänder
ans hohe Fenster in den Glanz der Stunden,
und in die Seide sanfter Brautgewänder
sind deine kleinen Bücher eingebunden,
und drinnen hast du, mächtig über Länder,
ganz groß geschrieben und mit reichen, runden
Buchstaben deinen Namen vorgefunden.

Und alles ist, als wär es schon geschehn.

Sie haben so, als ob du nicht mehr kämst,
an alle Becher ihren Mund gesetzt,
zu allen Freuden ihr Gefühl gehetzt
und keinem Leide leidlos zugesehn;
so daß du jetzt
stehst und dich schämst.

Du blasses Kind, dein Leben ist auch eines, -
der Sänger kommt dir sagen, daß du bist.
Und daß du mehr bist als ein Traum des Haines,
mehr als die Seligkeit des Sonnenscheines,
den mancher graue Tag vergißt.
Dein Leben ist so unaussprechlich Deines,
weil es von vielen überladen ist.

Empfindest du, wie die Vergangenheiten
leicht werden, wenn du eine Weile lebst,
wie sie dich sanft auf Wunder vorbereiten,
jedes Gefühl mit Bildern dir begleiten, -
und nur ein Zeichen scheinen ganze Zeiten
für eine Geste, die du schön erhebst. -

Das ist der Sinn von allem, was einst war,
daß es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere,
daß es zu unserm Wesen wiederkehre,
in uns verwoben, tief und wunderbar:
So waren diese Frauen elfenbeinern,
von vielen Rosen rötlich angeschienen,
so dunkelten die müden Königsmienen,
so wurden fahle Fürstenmunde steinern
und unbewegt von Waisen und von Weinern,
so klangen Knaben an wie Violinen
und starben für der Frauen schweres Haar;
so gingen Jungfraun der Madonna dienen,
denen die Welt verworren war.
So wurden Lauten laut und Mandolinen,
in die ein Unbekannter größer griff, -
in warmen Samt verlief der Dolche Schliff, -
Schicksale bauten sich aus Glück und Glauben,
Abschiede schluchzten auf in Abendlauben, -
und über hundert schwarzen Eisenhauben
schwankte die Feldschlacht wie ein Schiff.
So wurden Städte langsam groß und fielen
in sich zurück wie Wellen eines Meeres,
so drängte sich zu hochbelohnten Zielen
die rasche Vogelkraft des Eisenspeeres,
so schmückten Kinder sich zu Gartenspielen, -
und so geschah Unwichtiges und Schweres,
nur, um für dieses tägliche Erleben
dir tausend große Gleichnisse zu geben,
an denen du gewaltig wachsen kannst.
Vergangenheiten sind dir eingepflanzt,
um sich aus dir, wie Gärten, zu erheben.

Du blasses Kind, du machst den Sänger reich
mit deinem Schicksal, das sich singen läßt:
so spiegelt sich ein großes Gartenfest
mit vielen Lichtern im erstaunten Teich.
Im dunklen Dichter wiederholt sich still
ein jedes Ding: ein Stern, ein Haus, ein Wald.
Und viele Dinge, die er feiern will,
umstehen deine rührende Gestalt.
Titel: Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Januar 19, 2010, 21:36:52
(http://www.ringelnatz.de/assets/images/morgenstern_lehnstuhl2.jpg)

Dich ruf ich, Schmerz; mit aller deiner Macht
triff dieses Herz, dass es gemartert werde
und, das ich bin, dies Häuflein arme Erde,
emporhält aus der allgemeinen Nacht.


Dich ruf ich, Menschenfreund der besten Art;
mißtraue nicht, dass ich dich je verkennte;
du Schmerz, durch den uns wohl das Größte ward,
was Menschenwert von Gott und Tiere trennte.


Dich ruf ich; gib mir deinen bittern Krug;
und siehst du mich auch bang mich von ihm wenden;
da mir das Glück allein nicht Kraft genug,
so hilf denn du mein Tagwerk mir vollenden.



Von Christian Morgenstern
Titel: Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Januar 20, 2010, 20:24:43
(http://freiesicht.files.wordpress.com/2010/07/heinrich-heine.jpg?w=226&h=300)

Heinrich Heine

Deine weißen Lilienfinger

Deine weißen Lilienfinger,
Könnt ich sie noch einmal küssen,
Und sie drücken an mein Herz,
Und vergehn in stillem Weinen!

Deine klaren Veilchenaugen
Schweben vor mir Tag und Nacht,
Und mich quält es: was bedeuten
Diese süßen, blauen Rätsel?
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Januar 21, 2010, 12:30:38
(http://gutenberg.spiegel.de/gutenb_load/autoren/bilder/uhland.jpg)

LUDWIG  UHLAND

 

Abreise

So hab’ ich nun die Stadt verlassen,
Wo ich gelebet lange Zeit;
Ich ziehe rüstig meiner Straßen,
Es gibt mir niemand das Geleit.

Man hat mir nicht den Rock zerrissen,
Es wär’ auch schade für das Kleid!
Noch in die Wange mich gebissen
Vor übergroßem Herzeleid.

Auch keinem hat’s den Schlaf vertrieben,
Dass ich am Morgen weitergeh’;
Sie konnten’s halten nach Belieben,
Von e i n e r aber tut mir’s weh.




.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Januar 21, 2010, 14:26:25
(http://www.expressionismus-oldenburg.de/Grafik/images/Staatstheater/GeorgHeym.jpg)

Georg Heym

Ophelia

I
           Im Haar ein Nest von jungen Wasserratten,
Und die beringten Hände auf der Flut
Wie Flossen, also treibt sie durch den Schatten
Des großen Urwalds, der im Wasser ruht.

Die letzte Sonne, die im Dunkel irrt,
Versenkt sich tief in ihres Hirnes Schrein.
Warum sie starb? Warum sie so allein
Im Wasser treibt, das Farn und Kraut verwirrt?

Im dichten Röhricht steht der Wind. Er scheucht
Wie eine Hand die Fledermäuse auf.
Mit dunklem Fittich, von dem Wasser feucht
Stehn sie wie Rauch im dunklen Wasserlauf,

Wie Nachtgewölk. Ein langer, weißer Aal
Schlüpft über ihre Brust. Ein Glühwurm scheint
Auf ihrer Stirn. Und eine Weide weint
Das Laub auf sie und ihre stumme Qual.


.
.

Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Januar 21, 2010, 15:17:23
(http://www.kulturportal-mv.de/images/niederdeutsch/wossidlo.jpg)

Paul Boldt

Wir Dichter

Wie Einsamkeit das Ich im Auge dämmt.
Du ist nicht feil, und Du beginnt zu fehlen.
Geh durch die Menge, um Lächeln zu stehlen,
Verbrauche deine Küsse ungehemmt –:

Ein Schrei wärmt dir den Leib! Zu sehr allein.  
Es gibt nur dies, unser Blut-Hoch und Ja,
Unsere Kunst, das Labsal anima!
Das Herz bewegt sich in das Wort herein.

Von den Stummheiten sollen wir aufbrechen!
Nicht nur anjahren in der Existenz.  
Von Antlitzfrauen aufreizend umschwiegen

Werden wir jetzt, einmal und wenigstens,
Die Herzensröte an den Lippen kriegen.
Unseren Dialekt des Menschen sprechen.  
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Mai 10, 2010, 00:31:19
(http://www.gedichte-lyrik-poesie.de/Goethe_Marienbader_Elegie/Ulrike_von_Levetzow.jpg)
Ulrike von Levetzow

Johann Wolfgang von Goethe

Marienbader Elegie

Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,
Gab mir ein Gott zu sagen, was ich leide.


Was soll ich nun vom Wiedersehen hoffen,
Von dieses Tages noch geschloßner Blüte?
Das Paradies, die Hölle steht dir offen;
Wie wankelsinnig regt sich's im Gemüte! -
Kein Zweifeln mehr! Sie tritt ans Himmelstor,
Zu ihren Armen hebt sie dich empor.

So warst du denn im Paradies empfangen,
Als wärst du wert des ewig schönen Lebens;
Dir blieb kein Wunsch, kein Hoffen, kein Verlangen,
Hier war das Ziel des innigsten Bestrebens,
Und in dem Anschaun dieses einzig Schönen
Versiegte gleich der Quell sehnsüchtiger Tränen.

Wie regte nicht der Tag die raschen Flügel,
Schien die Minuten vor sich her zu treiben!
Der Abendkuß, ein treu verbindlich Siegel:
So wird es auch der nächsten Sonne bleiben.
Die Stunden glichen sich in zartem Wandern
Wie Schwestern zwar, doch keine ganz den andern.

Der Kuß, der letzte, grausam süß, zerschneidend
Ein herrliches Geflecht verschlungner Minnen -
Nun eilt, nun stockt der Fuß, die Schwelle meidend,
Als trieb' ein Cherub flammend ihn von hinnen;
Das Auge starrt auf düstrem Pfad verdrossen,
Es blickt zurück, die Pforte steht verschlossen.

Und nun verschlossen in sich selbst, als hätte
Dies Herz sich nie geöffnet, selige Stunden
Mit jedem Stern des Himmels um die Wette
An ihrer Seite leuchtend nicht empfunden;
Und Mißmut, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere
Belasten's nun in schwüler Atmosphäre.

Ist denn die Welt nicht übrig? Felsenwände,
Sind sie nicht mehr gekrönt von heiligen Schatten?
Die Ernte, reift sie nicht? Ein grün Gelände,
Zieht sich's nicht hin am Fluß durch Busch und Matten?
Und wölbt sich nicht das überweltlich Große,
Gestaltenreiche, bald Gestaltenlose?

Wie leicht und zierlich, klar und zart gewoben
Schwebt seraphgleich aus ernster Wolken Chor,
Als glich' es ihr, am blauen Äther droben
Ein schlank Gebild aus lichtem Duft empor;
So sahst du sie in frohem Tanze walten,
Die lieblichste der lieblichsten Gestalten.

Doch nur Momente darfst dich unterwinden,
Ein Luftgebild statt ihrer festzuhalten;
Ins Herz zurück! dort wirst du's besser finden,
Dort regt sie sich in wechselnden Gestalten;
Zu vielen bildet eine sich hinüber,
So tausendfach, und immer, immer lieber.

Wie zum Empfang sie an den Pforten weilte
Und mich von dannauf stufenweis beglückte,
Selbst nach dem letzten Kuß mich noch ereilte,
Den letztesten mir auf die Lippen drückte:
So klar beweglich bleibt das Bild der Lieben
Mit Flammenschrift ins treue Herz geschrieben.

Ins Herz, das fest wie zinnenhohe Mauer
Sich ihr bewahrt und sie in sich bewahret,
Für sie sich freut an seiner eignen Dauer,
Nur weiß von sich, wenn sie sich offenbaret,
Sich freier fühlt in so geliebten Schranken
Und nur noch schlägt, für alles ihr zu danken.

War Fähigkeit zu lieben, war Bedürfen
Von Gegenliebe weggelöscht, verschwunden,
Ist Hoffnungslust zu freudigen Entwürfen,
Entschlüssen, rascher Tat sogleich gefunden!
Wenn Liebe je den Liebenden begeistet,
Ward es an mir aufs lieblichste geleistet;

Und zwar durch sie! - Wie lag ein innres Bangen
Auf Geist und Körper, unwillkommner Schwere:
Von Schauerbildern rings der Blick umfangen
Im wüsten Raum beklommner Herzensleere;
Nun dämmert Hoffnung von bekannter Schwelle,
Sie selbst erscheint in milder Sonnenhelle.

Den Frieden Gottes, welcher euch hienieden
Mehr als Vernunft beseliget - wir lesen's -,
Vergleich ich wohl der Liebe heitern Frieden
In Gegenwart des allgeliebten Wesens;
Da ruht das Herz, und nichts vermag zu stören
Den tiefsten Sinn, den Sinn, ihr zu gehören.

In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträtselnd sich den ewig Ungenannten;
Wir heißen's: fromm sein! - Solcher seligen Höhe
Fühl ich mich teilhaft, wenn ich vor ihr stehe.

Vor ihrem Blick, wie vor der Sonne Walten,
Vor ihrem Atem, wie vor Frühlingslüften,
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,
Der Selbstsinn tief in winterlichen Grüften;
Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.

Es ist, als wenn sie sagte: "Stund um Stunde
Wird uns das Leben freundlich dargeboten,
Das Gestrige ließ uns geringe Kunde,
Das Morgende, zu wissen ist's verboten;
Und wenn ich je mich vor dem Abend scheute,
Die Sonne sank und sah noch, was mich freute.

Drum tu wie ich und schaue, froh verständig,
Dem Augenblick ins Auge! Kein Verschieben!
Begegn' ihm schnell, wohlwollend wie lebendig,
Im Handeln sei's, zur Freude, sei's dem Lieben!
Nur wo du bist, sei alles, immer kindlich,
So bist du alles, bist unüberwindlich."

Du hast gut reden, dacht ich: zum Geleite
Gab dir ein Gott die Gunst des Augenblickes,
Und jeder fühlt an deiner holden Seite
Sich augenblicks den Günstling des Geschickes;
Mich schreckt der Wink, von dir mich zu entfernen -
Was hilft es mir, so hohe Weisheit lernen!

Nun bin ich fern! Der jetzigen Minute,
Was ziemt denn der? Ich wüßt es nicht zu sagen;
Sie bietet mir zum Schönen manches Gute,
Das lastet nur, ich muß mich ihm entschlagen.
Mich treibt umher ein unbezwinglich Sehnen,
Da bleibt kein Rat als grenzenlose Tränen.

So quellt denn fort und fließet unaufhaltsam;
Doch nie geläng's, die inn're Glut zu dämpfen!
Schon rast's und reißt in meiner Brust gewaltsam,
Wo Tod und Leben grausend sich bekämpfen.
Wohl Kräuter gäb's, des Körpers Qual zu stillen;
Allein dem Geist fehlt's am Entschluß und Willen,

Fehlt's am Begriff: wie sollt' er sie vermissen?
Er wiederholt ihr Bild zu tausend Malen.
Das zaudert bald, bald wird es weggerissen,
Undeutlich jetzt und jetzt im reinsten Strahlen;
Wie könnte dies geringstem Troste frommen,
Die Ebb' und Flut, das Gehen wie das Kommen?

Verlaßt mich hier, getreue Weggenossen!
Laßt mich allein am Fels, in Moor und Moos;
Nur immer zu! euch ist die Welt erschlossen,
Die Erde weit, der Himmel hehr und groß;
Betrachtet, forscht, die Einzelheiten sammelt,
Naturgeheimnis werde nachgestammelt.

Mir ist das All, ich bin mir selbst verloren,
Der ich noch erst den Göttern Liebling war;
Sie prüften mich, verliehen mir Pandoren,
So reich an Gütern, reicher an Gefahr;
Sie drängten mich zum grabeseligen Munde,
Sie trennen mich, und richten mich zugrunde.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 13, 2010, 23:28:40
(http://www.goethezeitportal.de/fileadmin/Images/wd/projekte-pool/rezeption_nibelungen/heinrich_heine.jpg)

Heinrich Heine

Vitzliputzli


Präludium

Dieses ist Amerika!
Dieses ist die neue Welt!
Nicht die heutige, die schon
Europäisieret abwelkt. -

Dieses ist die neue Welt!
Wie sie Christoval Kolumbus
Aus dem Ozean hervorzog.
Glänzet noch in Flutenfrische,

Träufelt noch von Wasserperlen,
Die zerstieben, farbensprühend,
Wenn sie küßt das Licht der Sonne.
Wie gesund ist diese Welt!

Ist kein Kirchhof der Romantik,
Ist kein alter Scherbenberg
Von verschimmelten Symbolen
Und versteinerten Perucken.

Aus gesundem Boden sprossen
Auch gesunde Bäume - keiner
Ist blasiert und keiner hat
In dem Rückgratmark die Schwindsucht.

Auf den Baumesästen schaukeln
Große Vögel. Ihr Gefieder
Farbenschillernd. Mit den ernsthaft
Langen Schnäbeln und mit Augen,

Brillenartig schwarz umrändert,
Schaun sie auf dich nieder, schweigsam -
Bis sie plötzlich schrillend aufschrein
Und wie Kaffeeschwestern schnattern.

Doch ich weiß nicht, was sie sagen,
Ob ich gleich der Vögel Sprachen
Kundig bin wie Salomo,
Welcher tausend Weiber hatte

Und die Vögelsprachen kannte,
Die modernen nicht allein,
Sondern auch die toten, alten,
Ausgestopften Dialekte.

Neuer Boden, neue Blumen!
Neue Blumen, neue Düfte!
Unerhörte, wilde Düfte,
Die mir in die Nase dringen,

Neckend, prickelnd, leidenschaftlich -
Und mein grübelnder Geruchsinn
Quält sich ab: Wo hab ich denn
Je dergleichen schon gerochen?

Wars vielleicht auf Regentstreet,
In den sonnig gelben Armen
Jener schlanken Javanesin,
Die beständig Blumen kaute?

Oder wars zu Rotterdam,
Neben des Erasmi Bildsäul,
In der weißen Waffelbude
Mit geheimnisvollem Vorhang?

Während ich die neue Welt
Solcher Art verdutzt betrachte,
Schein ich selbst ihr einzuflößen
Noch viel größre Scheu - Ein Affe,

Der erschreckt ins Buschwerk forthuscht,
Schlägt ein Kreuz bei meinem Anblick,
Angstvoll rufend: »Ein Gespenst!
Ein Gespenst der alten Welt!«

Affe! fürcht dich nicht, ich bin
Kein Gespenst, ich bin kein Spuk;
Leben kocht in meinen Adern,
Bin des Lebens treuster Sohn.

Doch durch jahrelangen Umgang
Mit den Toten, nahm ich an
Der Verstorbenen Manieren
Und geheime Seltsamkeiten.

Meine schönsten Lebensjahre,
Die verbracht ich im Kyffhäuser,
Auch im Venusberg und andern
Katakomben der Romantik.

Fürcht dich nicht vor mir, mein Affe!
Bin dir hold, denn auf dem haarlos
Ledern abgeschabten Hintern
Trägst du Farben, die ich liebe.

Teure Farben! Schwarz-rot-goldgelb!
Diese Affensteißcouleuren
Sie erinnern mich mit Wehmut
An das Banner Barbarossas.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am November 14, 2010, 00:04:50
Liebe Dichterfreunde, liebe Phalanx!


Jetzt wünsche ich mir gar, daß zu den "Lieblingsgedichten" Kommentare geschrieben werden!

Es wäre bedauerlich, wenn solche großen Werke lediglich gelesen untergingen!


Zu Heine kann ich im Moment nur schmerzlich berührt sagen:

Wie wahr und wahrhaftig quälte er sich in seiner Matratzengruft!


cyparis
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 15, 2010, 19:18:22
Ja, ein wahrhafter und aufrechter Mensch!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 15, 2010, 19:41:19
(http://www.cheminsdememoire.gouv.fr/image/PagesAnnexes/LesEcrivainsAllemands/Richard_Dehmel.jpg)

Richard Dehmel

Der letzte Traum

(zum Gedenken an den Freund Detlev v. Liliencron)

Es war am sechsten Abend, und Gott sprach:
Alles ist gut geworden. Alles. Nur
der Mensch: was ist der Mensch? Er träumt wie Ich.
Er möchte ewig leben, ewig träumen.
Wenn ich nur schlafen könnte! endlich schlafen! -

Es war am sechsten Abend, und ein Dichter
sprach auf dem Sterbebett: Was ist der Mensch?
Er hielt die Hand des liebsten Freunds umklammert,
er wollt ihn ansehn mit den Schöpferaugen,
sie irrten durch ihn hin wie Säuglingsaugen
durch eine fremde, unerschöpflich fremde,
traumvolle Welt - er stammelte:

Sechs Tage keinen Schlaf. Nur Träume. Hörst du?
Alles war gut. Nur Ich - was ist mit mir?
Ich seh da immer Menschenscharen ziehn -
da an der Wand - Heerscharen - Kriegerscharen -
von Land zu Land mit mir - Erobrerscharen -
von Stern zu Stern - zur Schlacht - Schlachtopferscharen -
im Traum - sie opfern sich für Gott hin - hörst du?
die ganze Welt hin - sich hin - mich hin - Gott! -
Wenn ich nur endlich schlafen könnte - schlafen - -
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am November 16, 2010, 18:05:59
Hallo Phal.....Führerin.

Mich interessieren viel mehr nackte Weiber,
als verstaubte Schreiber.
Ich weiß, ich bin ein Pachulke.
Aber einer mit abgeschlossener Halbbildung.

Wenn die ollen Dichter von heutigen, modernen
Lektoren lektoriert würden, das wäre Interessant!

Nur mal so, weil sonst keener wat schreibt.
Wahrscheinlich, weil se alle selber googlen können.

Sämtliche Schmähbriefe bitte an die Kommandantin.

Viele Jrüße. Jünta.

Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 17, 2010, 09:21:02
:(

Dann stell doch mal deinen Lieblingsdichter rein. Muss auf der Wiese aber jugendfrei sein.  ;)

Gruß Jenny
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am November 17, 2010, 11:18:13
Liebe Petra, denk an mich.
Lieblingsdichter, das bin ich.

Danach vielleicht dann noch Brecht.
Erhard, der war auch nicht schlecht.

Zwei Grüße. Jünta.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am November 17, 2010, 11:29:48
(http://static.twoday.net/amazone1/images/modersohn3.jpg)
(Paula Modersohn-Becker, Bildnis Rainer Maria Rilke)

Rainer Maria Rilke

Der Sänger singt vor einem Fürstenkind

Dem Andenken von Paula Modersohn-Becker

Du blasses Kind, an jedem Abend soll
der Sänger dunkel stehn bei deinen Dingen
und soll dir Sagen, die im Blute klingen,
über die Brücke seiner Stimme bringen
und eine Harfe, seiner Hände voll.

Nicht aus der Zeit ist, was er dir erzählt,
gehoben ist es wie aus Wandgeweben;
solche Gestalten hat es nie gegeben, -
und Niegewesenes nennt er das Leben.
Und heute hat er diesen Sang erwählt:

Du blondes Kind von Fürsten und aus Frauen,
die einsam warteten im weißen Saal, -
fast alle waren bang, dich aufzubauen,
um aus den Bildern einst auf dich zu schauen:
auf deine Augen mit den ernsten Brauen,
auf deine Hände, hell und schmal.

Du hast von ihnen Perlen und Türkisen,
von diesen Frauen, die in Bildern stehn
als stünden sie allein in Abendwiesen, -
du hast von ihnen Perlen und Türkisen
und Ringe mit verdunkelten Devisen
und Seiden, welche welke Düfte wehn.

Du trägst die Gemmen ihrer Gürtelbänder
ans hohe Fenster in den Glanz der Stunden,
und in die Seide sanfter Brautgewänder
sind deine kleinen Bücher eingebunden,
und drinnen hast du, mächtig über Länder,
ganz groß geschrieben und mit reichen, runden
Buchstaben deinen Namen vorgefunden.

Und alles ist, als wär es schon geschehn.

Sie haben so, als ob du nicht mehr kämst,
an alle Becher ihren Mund gesetzt,
zu allen Freuden ihr Gefühl gehetzt
und keinem Leide leidlos zugesehn;
so daß du jetzt
stehst und dich schämst.

Du blasses Kind, dein Leben ist auch eines, -
der Sänger kommt dir sagen, daß du bist.
Und daß du mehr bist als ein Traum des Haines,
mehr als die Seligkeit des Sonnenscheines,
den mancher graue Tag vergißt.
Dein Leben ist so unaussprechlich Deines,
weil es von vielen überladen ist.

Empfindest du, wie die Vergangenheiten
leicht werden, wenn du eine Weile lebst,
wie sie dich sanft auf Wunder vorbereiten,
jedes Gefühl mit Bildern dir begleiten, -
und nur ein Zeichen scheinen ganze Zeiten
für eine Geste, die du schön erhebst. -

Das ist der Sinn von allem, was einst war,
daß es nicht bleibt mit seiner ganzen Schwere,
daß es zu unserm Wesen wiederkehre,
in uns verwoben, tief und wunderbar:
So waren diese Frauen elfenbeinern,
von vielen Rosen rötlich angeschienen,
so dunkelten die müden Königsmienen,
so wurden fahle Fürstenmunde steinern
und unbewegt von Waisen und von Weinern,
so klangen Knaben an wie Violinen
und starben für der Frauen schweres Haar;
so gingen Jungfraun der Madonna dienen,
denen die Welt verworren war.
So wurden Lauten laut und Mandolinen,
in die ein Unbekannter größer griff, -
in warmen Samt verlief der Dolche Schliff, -
Schicksale bauten sich aus Glück und Glauben,
Abschiede schluchzten auf in Abendlauben, -
und über hundert schwarzen Eisenhauben
schwankte die Feldschlacht wie ein Schiff.
So wurden Städte langsam groß und fielen
in sich zurück wie Wellen eines Meeres,
so drängte sich zu hochbelohnten Zielen
die rasche Vogelkraft des Eisenspeeres,
so schmückten Kinder sich zu Gartenspielen, -
und so geschah Unwichtiges und Schweres,
nur, um für dieses tägliche Erleben
dir tausend große Gleichnisse zu geben,
an denen du gewaltig wachsen kannst.
Vergangenheiten sind dir eingepflanzt,
um sich aus dir, wie Gärten, zu erheben.

Du blasses Kind, du machst den Sänger reich
mit deinem Schicksal, das sich singen läßt:
so spiegelt sich ein großes Gartenfest
mit vielen Lichtern im erstaunten Teich.
Im dunklen Dichter wiederholt sich still
ein jedes Ding: ein Stern, ein Haus, ein Wald.
Und viele Dinge, die er feiern will,
umstehen deine rührende Gestalt.

Ick wees et ja, ick hab keen Dunst,
von sojenannte jroße Kunst.

Aba diese Moderson.
Toter Mann in rosa Ton?!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am November 22, 2010, 01:04:07
Guten Morgen Petra.

Danke für das Gedicht.
Kannte ich ja noch nicht.
Trotz Poesie, so wie er ist,
bleibt er auch hierbei Realist.

Gute nacht.

Günter.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 22, 2010, 11:41:19
Liebe Dichterfreunde,

ich musste das Gedicht von Bertolt Brecht leider wieder rausnehmen und außerdem folgende Autoren löschen: Erich Fried, Jan Wagner, Nelly Sachs und Pablo Neruda. Denn Löwenzahn hat mich zu Recht daran erinnert, dass die Werke dieser Dichter noch nicht ohne Genehmigung veröffentlicht werden dürfen. Erst wenn ein Dichter schon 70 Jahre tot ist, ist sein Werk nach dem deutschen Urheberrecht "gemeinfrei".

Ich bitte um Verständnis, lieber Cebrail, dass Nelly Sachs und Pablo Neruda nun nicht mehr hier zu lesen sind. Aber wem die Gedichte, die du vorgestellt hast, gefallen haben, der kann ja mal googeln oder sich am besten einen Gedichtband dieser Autoren kaufen oder zu Weihnachten wünschen. Kann ich sehr empfehlen. Ich habe zu Hause einen dicken Wälzer mit Nerudas Gedichten und lese häufig darin.

Lieber Günter, aus den genannten Gründen kann in diesem Faden auch nicht ein weiterer Lieblingsdichter von dir vorgestellt werden, nämlich Heinz Erhardt. Anders verhält es sich mit den Werken des großen Günter Mehlhorn. Dieser gab uns freundlicherweise seine Lyrik zur Veröffentlichung frei.

Liebe Grüße
Seeräuber-Jenny
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am November 22, 2010, 16:41:46
Hallo Petra.

Das ist mir nicht bekannt. Bisher habe ich angenommen,
dass man alles veröffentlicheen kann, mit dem Quellennachweis!?
Wo kann man denn sowas nachlesen?
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 22, 2010, 17:20:14
Hallo Günter,

das steht im Urheberrechtsgesetz und auch hier auf der letzten Seite:
http://blog.zeit.de/schueler/files/2010/09/6.1-Urheberrecht_u_neue_Medien.pdf (http://blog.zeit.de/schueler/files/2010/09/6.1-Urheberrecht_u_neue_Medien.pdf)

Lieben Gruß
Petra
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cebrail am November 22, 2010, 21:43:30
Hallo Jenny,
eigentlich schade, dass der Dichter für das Volk nicht vom Volk gelesen werden kann. ;-)
Ich habe auch einen Gedichtband von Neruda und er weist schon starke Gebrauchsspuren auf.
Liebe Grüße
Cebrail
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am November 22, 2010, 22:20:28
So ist es halt in Rechtes Wesen:
Jedenmann darf man heut lesen.
Zitieren jedoch dann noch nicht,
wenn Tod ihn 70 Jahr nicht sticht.



Es hat sich aber sehr gewandelt.
Wilhelm Busch "durfte" nach 50 Jahren.


Dahinter steckt - was sonst? - die Tanti  Ehme!



Sonderbar?
Nee  -  b a r !


Na, ran an den über ziebzigjährigen "Speck" .
Da gibt es auch gute Seiten!


cyparis

Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 23, 2010, 13:29:30
Lieber Cebrail,

der Dichter fürs Volk hat sich diese Gesetze leider nicht ausgedacht. Sie wären sicher nicht in seinem Sinne, zumal der Urheber selbst gar nichts davon hat.

Aber gut, dass der großartige und engagierte Lyriker Pablo Neruda durch deine Präsentation hier ein bisschen bekannter geworden ist. Sowohl seine politischen Gedichte als auch die Liebesgedichte sind sehr lesenswert. Sein Zyklus "Canto general" (Der große Gesang) über die wechselvolle Geschichte des amerikanischen Kontinents erregte großes Aufsehen und wurde von Mikis Theodorakis vertont.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am November 23, 2010, 15:11:22
Hallo Petra.

Da muss man wohl noch tiefer graben.

Aus dem hier:

Sie beschränken das Recht des Urhebers,
zu kontrollieren, wie sein Werk genutzt werden darf.
So muss er es beispielsweise dulden, dass Teile seiner
Werke im Unterricht genutzt oder für private,
nichtgewerbliche Zwecke kopiert werden.


kann man viel ableiten.

Wie gesagt, ich bin der Meinung,
dass man für private Zwecke alles kopieren darf.

Für nicht gewerbliche Verwendungen genügt der Quellennachweis.

Der oft benutzte copyright Hnweis ist z.B. im Forum überflüssig,
weil hier alles dadurch geschützt ist.

Kann aber auch anders sein.

Mir ejal. Mir könnta mit Hinweis kopiern!

L.G. Lünta.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 23, 2010, 15:26:11
Lieber Günter,

Zitat
Für nicht gewerbliche Verwendungen genügt der Quellennachweis.

Ja, aber nur, wenn der Urheber bzw. der Rechteinhaber zugestimmt hat.

Ich hatte schon mal einen unerfreulichen Briefwechsel mit einem Schauspieler, weil ich auf meinem Blog ein Gedicht von Ringelnatz veröffentlicht hatte. Jener Schauspieler behauptete, die Familien von Ringelnatz und anderen Dichtern, die auf meinem Blog zu lesen sind, hätten ihm die Rechte übertragen, und drohte mir mit Schadenersatzklagen. Ich konnte ihn schließlich widerlegen, weil die Autoren alle schon über 70 (damals waren es, glaube ich, noch 60 Jahre) tot waren.

Wie ich von Forenbetreibern erfuhr, gibt es zahlreiche Winkeladvokaten, die das Netz auf Urheberrechtsverletzungen durchsuchen und im Auftrag ihrer Mandanten Schadenersatzforderungen geltend machen. dotcom z. B. hat dies schon mal zu spüren bekommen und musste ziemlich viel bezahlen.

Was mir noch unklar ist: Ich bin auch schon auf Texte von Autoren gestoßen, die eigentlich gemeinfrei sein müssten, aber es anscheinend noch nicht sind, weil deren Erben immer noch die Rechte besitzen.

Lieben Gruß
Petra
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 24, 2010, 20:43:32
(http://www.jena.de/fm/43/thumbnails/Friedrich%20Schiller-klein.jpg.jpg.3984.jpg)

Friedrich Schiller

Die Worte des Glaubens

Drei Worte nenn' ich euch, inhaltsschwer,
    Sie gehen von Munde zu Munde,
Doch stammen sie nicht von außen her,
    Das Herz nur giebt davon Kunde,
Dem Menschen ist aller Werth geraubt,
Wenn er nicht an die drei Worte glaubt.

Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei,
    Und würd' er in Ketten geboren;
Laßt euch nicht irren des Pöbels Geschrei,
    Nicht den Missbrauch rasender Thoren.
Vor dem Sclaven, wenn er die Kette bricht,
Vor dem freien Menschen erzittert nicht.

Und die Tugend, sie ist kein leerer Schall,
    Der Mensch kann sie üben im Leben;
Und sollt' er auch straucheln überall,
    Er kann nach der göttlichen streben,
Und was kein Verstand der Beständigen sieht,
Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth.

Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt,
    Wie auch der menschliche wanke;
Hoch über der Zeit und dem Raume webt
    Lebendig der höchste Gedanke;
Und ob Alles im ewigen Wechsel kreist,
Es beharret im Wechsel ein ruhiger Geist.

Die drei Worte behaltet euch, inhaltsschwer,
    Sie pflanzet von Munde zu Munde;
Und stammen sie gleich nicht von außen her,
    Euer Inneres giebt davon Kunde.
Dem Menschen ist nimmer sein Werth geraubt,
So lang' er noch an die drei Worte glaubt.

(Gedankengedichte, vierter Teil)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cebrail am November 24, 2010, 22:01:10
Hallo, ich mal wieder.
Nachdem die Gedichte von Nelly Sachs und Pablo Neruda aus urheberrechtlichen Gründen
nicht hier stehen dürfen, habe ich noch ein paar Zeilen die mir sehr am Herzen liegen.
Es ist das Gedicht „Willkommen und Abschied von Johann Wolfgang Goethe.
Dieses Gedicht ist in zwei verschiedenen Versionen überliefert.
Ich stelle hier die erste Version aus dem Jahre 1771 ein, weil es für mich die ehrlichere ist.
Man sagt das Goethe die Zeilen schrieb als er sich in Friderike Brion verliebte.
Besonders gefällt mir die dritte Strophe.
Lieben Gruß
Cebrail

(http://www.hschamberlain.net/kant/goethe.jpg)


Johann Wolfgang Goethe


"Willkommen und Abschied"





Frühe Fassung (1771)


Es schlug mein Herz, Geschwind, zu Pferde!
Und fort, wild wie ein Held zur Schlacht.
Der Abend wiegte schon die Erde,
Und an den Bergen hing die Nacht;
Schon stand im Nebelkleid die Eiche,
Wie ein getürmter Riese, da,
Wo Finsternis aus dem Gesträuche
Mit hundert schwarzen Augen sah.

Der Mond von einem Wolkenhügel
Sah schläfrig aus dem Duft hervor,
Die Winde schwangen leise Flügel,
Umsausten schauerlich mein Ohr;
Die Nacht schuf tausend Ungeheuer,
Doch tausendfacher war mein Mut:
Mein Geist war ein verzehrend Feuer,
Mein ganzes Herz zerfloss in Glut.

Ich sah dich, und die milde Freude
Floß aus dem süßen Blick auf mich;
Ganz war mein Herz an deiner Seite
Und jeder Atemzug für dich.
Ein rosenfarbnes Frühlingswetter
Lag auf dem lieblichen Gesicht,
Und Zärtlichkeit für mich, ihr Götter!
Ich hofft es, ich verdient es nicht!

Der Abschied, wie bedrängt, wie trübe!
Aus deinen Blicken sprach dein Herz.
In deinen Küssen welche Liebe,
O welche Wonne, welcher Schmerz!
Du gingst, ich stund und sah zur Erden,
Und sah dir nach mit nassem Blick:
Und doch, welch Glück, geliebt zu werden!
Und lieben, Götter, welch ein Glück!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am November 25, 2010, 17:47:16
Dies ist seit Jugendtagen eines meiner Lieblingsgedichte (und derer gibt es viele!).

Ja, hier sind wir leider durch die copyrights eingeschränkt, aber das ist auch eine der wenigen Einschränkungen, die wir uns gefallen lassen (müssen).

Ganz lieben Gruß
von
cyparis
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 26, 2010, 19:59:31
(http://www.drhdl.de/fotos_goethe/Schiller.jpg)

Friedrich Schiller

Die Worte des Wahns

Drei Worte hört man bedeutungschwer
    Im Munde der Guten und Besten.
Sie schallen vergeblich, ihr Klang ist leer,
    Sie können nicht helfen und trösten.
Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,
So lang' er die Schatten zu haschen sucht.

So lang' er glaubt an die goldene Zeit,
    Wo das Rechte, das Gute wird siegen, -
Das Rechte, das Gute führt ewig Streit,
    Nie wird der Feind ihm erliegen,
Und erstickst du ihn nicht in den Lüsten frei,
Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.

So lang' er glaubt, daß das bulende Glück
    Sich dem Edeln vereinigen werde.
Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick,
    Nicht dem Guten gehöret die Erde.
Er ist ein Fremdling, er wandert aus,
Und suchet ein unvergänglich Haus.

So lang' er glaubt, daß dem ird'schen Verstand
    Die Wahrheit je wird erscheinen,
Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand,
    Wir können nur rathen und meinen.
Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,
Doch der freie wandelt im Sturme fort.

Drum edle Seele, entreiß dich dem Wahn
    Und den himmlischen Glauben bewahre!
Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,
    Es ist dennoch das Schöne, das Wahre!
Es ist nicht draußen, da sucht es der Thor,
Es ist in dir, du bringst es ewig hervor.

(Gedankengedichte, vierter Teil)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am November 27, 2010, 12:03:49
Liebe Jenny -

ich bin immer wieder überwältigt von Schillers klaren und wahren Worten.
Mag er auch der geballten Goetheschen Romantik ermangeln -
von beiden Genies war er der Hehre.

Unzulänglicher Kommentar, besser konnt ich es im Augenblick nicht.

Hab Dank!

cyparis
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am November 29, 2010, 16:48:12
Habe auf der Kurt-Tucholsky-Infoseite noch folgende Notiz zum Urheberrecht gefunden:

Zitat
Mit dem Jahresende des 70. Todesjahres von Tucholsky, also dem Ablauf des 31.12.2005, wurden alle seine Werke gemeinfrei, das heisst es gibt keine individuellen Rechte mehr auf diese Werke, sondern sie gehören der Gemeinschaft. Sie dürfen frei kopiert werden.

Zuvor waren sie nicht frei, sondern gehörten den jeweiligen Rechteinhabern. Schließlich galt es zu schützen, was das wertvollste in unserer Gesellschaft ist. Nicht das Freie Wort oder die Kunst, sondern der Profit!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am M?RZ 04, 2011, 23:37:53
(http://www.richard-dehmel.de/dehmelgifs/zeitgenossen/liliencron.gif)

Detlev von Liliencron

Trutz, Blanke Hans

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers zitterte, stöhnte,
aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
            Trutz, blanke Hans.

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
            Trutz, blanke Hans.

Im Ozean, mitten, schläft bis zur Stunde
ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen,
und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
            Trutz, blanke Hans.

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tiefer Atem ein
und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
viel reiche Länder und Städte versinken.
            Trutz, blanke Hans.

Rungholt ist reich und wird immer reicher,
kein Korn mehr faßt selbst der größte Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom
staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
            Trutz, blanke Hans.

Auf allen Märkten, auf allen Gassen
lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
»Wir trutzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!«
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
            Trutz, blanke Hans.

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
belächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
            Trutz, blanke Hans.

Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
Das Scheusal wälzte sich, atmete tief
und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
kommen wie rasende Rosse geflogen.
            Trutz, blanke Hans.

Ein einziger Schrei - die Stadt ist versunken,
und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
die Stadt ging unter vor fünfhundert Jahren.
            Trutz, blanke Hans?

Vertont von Achim Reichel: http://www.youtube.com/watch?v=4i6TXKRx9A8 (http://www.youtube.com/watch?v=4i6TXKRx9A8)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am M?RZ 15, 2011, 00:33:12
(http://3.bp.blogspot.com/_scZalK3p0EE/Se4KSAN-1EI/AAAAAAAAC40/CS2YZFzueic/s400/GeorgHeym.jpg)

Georg Heym

Der Frühling

Er stirbt am Waldrand. Mit verhaltnem Laut
Klagt schon sein Schatten an des Hades Tor.
Der Kranz von Lattich, den sein Haupt verlor,
Fiel unter Disteln und das Schierlingskraut.

Den Pfeil im Hals, verschüttet er sein Blut,
Das schwarze Faunsblut, in den grünen Grund
Der abendlichen Halde aus dem Mund
Drauf schon der Tod, ein schwarzer Falter, ruht.

Der Himmel Thrakiens glänzt im Abend grün,
Ein Silberleuchter seinem Sterbeschrei,
Auf fernen Bergen, wo die Eichen glühn.

Tief unter ihm verblaßt die weite Bai,
Darüber hoch die weißen Wolken ziehn,
Und fern ein Purpursegel schwimmt vorbei.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am M?RZ 15, 2011, 14:21:07
Nu ma äährlich.

Wozu ist denn dieses Faden gut?
Googlen kann doch jeder selbst!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am M?RZ 15, 2011, 17:02:08
Naja, in einer Suchmaschine findet man ja nur etwas, was man sucht. Wer Georg Heym nicht kennt, hätte vermutlich nicht nach ihm gegoogelt.
Doch ich finde, er und andere Lieblingsdichter sind es wert, einem größeren Leserkreis vorgestellt zu werden. Deshalb dieser Faden.

Deiner Argumentation folgend dürfte es in anderen Foren auch keine Fäden "I'm currently listening"/"Was ich gerade höre" geben.
Doch habe ich dort schon Musik entdeckt, die ich noch nicht kannte und die mir überaus gut gefiel. Oder Songs, die ich kannte, aber schon lange nicht mehr gehört hatte.

Lieben Gruß
Jenny
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am M?RZ 15, 2011, 19:14:06
Nu hab ick dia aber uffn Schlips jetreten, wa?
Currently in andre Foren?
Jeh ick nich!

Küsschen. Jünta.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am M?RZ 15, 2011, 19:25:55
Umso schlimmer, wenn man bedenkt, dass ich nur einen Schlips und sonst nichts trage...
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am M?RZ 16, 2011, 10:05:52
Ich  l i e b e   diese Rubrik.
Mit einem Klick kann ich viele meiner Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte aufrufen.
Und immer wieder hinzufügen.

Sonst müßte ich dauernd in meine ca 50 Gedichtbänden rumwühlen.

Also kein Gemähre, bitte, mein Liebster!

cyparis :)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Guenter Mehlhorn am M?RZ 16, 2011, 15:31:22
(http://www.facebook.com/profile/pic.php?oid=AQDZ0xtzndCfOQezAqbc8uzddxvrF_1k_mDZQ35aNbRaLtrdnq6Su2_6ie0wk-2S2ug&size=normal&usedef=1)

Na, wenn eine Administratorin die andere nicht unterstützt,
zumal sie das ja erfunden haben, watn denn?

Jenausojut und mit der gleichen Bejründung könnt a ja ooch ne Rubrik:

MEINE LIEBSTEN ANGELPLÄTZE.
MEINE LIEBSTEN NACKTEN SCHAUSPIELER,
MEINE LIEBSTEN KIFFER,
MEINE BESTEN PUFFADRESSEN, (Bitte weitere Vorschlage!)  u.s.w. uffmachen.

Ha, Hah, Hah, Grööööhl!!!

Denn is aba hier wat los!

Die PETRA mitn Schlips vorm Bauch,
Und die ANNE mit ne Fliege.
Der JÜNTA, der liebt sowat auch.
Ob ick LARIN dazu kriege?

Mann, kann ick mia beöln!!!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am M?RZ 23, 2011, 12:03:00
Mööönsch, Jünta!

Mach doch mal!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am M?RZ 24, 2011, 18:15:54
(http://www.wilfried-hartje.de/images/storm1.gif)



Lebensweg



Ich bin durchs Leben auf dich zugegangen,
so fest und klar, wie übers grüne Land
die Taube flog, die lange eingefangen
und doch den Weg zur süßen Heimat fand.
 
Und denke ich an Sturm und Streit und Streben,
an meiner Jugend Wandern dort und hier,
so ist mir oft: Es war mein ganzes Leben
ein stiller, unbeirrter Weg zu dir.



 
Börries Freiherr von Münchhausen 1845-1931
 





Liebe Jenny!
Hab Dank für das Portrait!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am M?RZ 24, 2011, 22:18:21
(http://www.zitate-online.de/grafik/portrait/ringelnatz-joachim.jpg)

Joachim Ringelnatz

Frühling

Die Bäume im Ofen lodern.
Die Vögel locken am Grill.
Die Sonnenschirme vermodern.
Im übrigen ist es still.

Es stecken die Spargel aus Dosen
die zarten Köpfchen hervor.
Bunt ranken sich künstliche Rosen
in Faschingsgirlanden empor.

Ein Etwas, wie Glockenklingen,
den Oberkellner bewegt,
mir tausend Eier zu bringen,
von Osterstören gelegt.

Ein süßer Duft von Havanna
verweht in ringelnder Spur,
ich fühle an meiner Susanna
erwachende neue Natur.

Es lohnt sich manchmal, zu lieben,
was kommt, nicht ist oder war.
Ein Frühlingsgedicht, geschrieben
im kältesten Februar.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am April 04, 2011, 02:17:28
(http://www.oefilm.de/pictures/ichbinm01.jpg)

Martin Pohl

Das Dein-und-Mein-Lied

Dein Bauch ist ein voller Bauch,
meiner ist ein leerer.
Voller Bauch und leerer Bauch,
welcher Bauch ist schwerer?

Dein Schuh ist ein ganzer Schuh,
meiner ein entzweier.
Deiner einen Sechser kost',
meiner einen Dreier.

Dein Bett ist ein reines Bett,
meins ist ein beflecktes.
Du schläfst rein, ich schlafe raus,
freilich, beiden schmeckt es.

Dein Gott ist ein reicher Gott,
meiner ist ein armer.
Deiner ist ein Halsabschneid',
meiner ein Erbarmer.

Dein Hund ist ein braver Hund,
meiner ist ein böser.
Deiner bellt und meiner pißt
an die Welterlöser.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am April 16, 2011, 10:20:42
Heimweh


Wann seh ich wieder Dich, geliebtes Tal,
mit Schlüsselblumen jetzt auf Deiner bunten Wiese,
mit Deinem Birkengrün, dem Wasserfall,
all Deiner Schönheit, die so fremd hier diesen
verlornen Plätzen mit ein wenig Grün,
wo selbst die Luft drückt wie zu schwere Lasten,
die Ströme dunkel mich und traurig ziehn.
Wann seh ich wieder Dich, geliebtes Tal,
wo ich zu Haus bin, alles nah ist, mein -
Nicht fremd wie hier, wo überall
das große Heimweh nur will bei mir sein.



A.E. Meißner-Lugenbiehl
geschrieben 1939
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Juni 24, 2011, 19:21:49
(http://t1.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcR0BrL-9Pn8qEMQf5X9rrJR9Rhs3JHZ8CUqcSjsJY5ym_cTIS-nMw)

W enn das SCHLIEMANN* aus ist dann
I st das LSD** im hades
R ollt des ökospießers fades

B unt heran: no way no sun
L aßt nur eure hiwis machen
E ure zivis laßt nur los
I hr zieht kuckuckskinder groß
B rühheiß wird’s wenn die erwachen
E twas buckelt sich und bockt
N achts wenn ihr in totsanierten

A ufgemotzt modernisierten
L uxuskalten häusern hockt
L äden runter spinnen: webt
E in gespenst geht um: das lebt

Hel Toussaint

*   Legendäre Hausbesetzerkneipe in der Schliemannstraße, Prenzlauer Berg, die vor einem Jahr schließen musste. Heute befindet sich in den Räumen eine Cocktailbar.
** Das "LSD"-Viertel, benannt nach den Anfangsbuchstaben der parallel liegenden Straßen Lychener, Schliemann-, Dunckerstraße.

Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 30, 2011, 19:37:58
(http://static.twoday.net/amazone1/images/Hans_Baluschek_Bildnis_Richard_Dehmel.jpg)

Richard Dehmel

Chinesisches Trinklied
Nach Li-Tai-Pe

Der Herr Wirt hier - Kinder, der Wirt hat Wein!
Aber laßt noch, stille noch, schenkt nicht ein:
ich muß euch mein Lied vom Kummer erst singen!
Wenn der Kummer kommt, wenn die Saiten klagen,
wenn die graue Stunde beginnt zu schlagen,
wo mein Mund sein Lied und sein Lachen vergißt,
dann weiß Keiner, wie mir ums Herz dann ist,
dann wolln wir die Kannen schwingen -
die Stunde der Verzweiflung naht.

Herr Wirt, dein Keller voll Wein ist dein,
meine lange Laute, die ist mein,
ich weiß zwei lustige Dinge:
zwei Dinge, die sich gut vertragen:
Wein trinken und die Laute schlagen!
Eine Kanne Wein zu ihrer Zeit
ist mehr wert als die Ewigkeit
und tausend Silberlinge!-
Die Stunde der Verzweiflung naht.

Und wenn der Himmel auch ewig steht
und die Erde noch lange nicht untergeht:
wie lange, du, wirst Du's machen?
du mitsamt deinem Silber- und Goldklingklange?
Kaum hundert Jahre! Das ist schon lange!
Ja, leben und dann mal sterben, wißt,
ist Alles, was uns sicher ist;
Mensch, ist es nicht zum Lachen?!-
Die Stunde der Verzweiflung naht.

Seht ihr ihn? Seht doch, da sitzt er und weint!
Seht ihr den Affen? Da hockt er und greint
im Tamarindenhain, hört ihr ihn plärren?
über den Gräbern, ganz alleine,
den armen Affen im Mondenscheine? -
Und jetzt, Herr Wirt, die Kanne zum Spund!
jetzt ist es Zeit, sie bis zum Grund
auf einen Zug zu leeren -
die Stunde der Verzweiflung naht.

(Hans Baluschek, Bildnis Richard Dehmel)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 30, 2011, 19:45:45
Paul Boldt
Friedrichstraßendirnen

Sie liegen immer in den Nebengassen,
Wie Fischerschuten gleich und gleich getakelt,
Vom Blick befühlt und kennerisch bemakelt,
Indes sie sich wie Schwäne schwimmen lassen.

Im Strom der Menge, auf des Fisches Route.
Ein Glatzkopf äugt, ein Rotaug‘ spürt Tortur,
Da schießt ein Grünling vor, hängt an der Schnur
Und schnellt an Deck einer bemalten Schute,

Gespannt von Wollust wie ein Projektil!
Die reißen sie aus ihm wie Eingeweide,
Gleich groben Küchenfrauen ohne viel

Von Sentiment. Dann rüsten sie schon wieder
Den neuen Fang. Sie schnallen sich in Seide
Und steigen ernst mit ihrem Lächeln nieder.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Martin R. am Juli 24, 2012, 18:13:30
Friedrich Nietzsche
Alt Mütterlein

In Sonnenglut, in Mittagsruh
Liegt stumm das Hospital;
Es sitzt ein altes Mütterlein,
Am Fenster bleich und fahl.

Ihr Aug' ist trüb, ihr Haar schneeweiß,
Ihr Mieder rein und schlicht,
Sie freut sich wohl und lächelt still,
Im warmen Sonnenlicht.

Am Fenster blüht ein Rosenstock
Viel Bienlein rings herum,
Stört denn die stille Alte nicht
Das emsige Gesumm?

Sie schaut in all' die Sonnenlust
So selig stumm hinein:
Noch schöner wird's im Himmel sein,
Du liebes Mütterlein!

(angeblich 1860)

Eines meiner Lieblingsgedichte, passt auch sonst gut zum jetztigen Sommer, wie ich finde.
 :)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Martin R. am Juli 25, 2012, 18:49:56
Rainer Maria Rilke
Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

(1902)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Juli 25, 2012, 18:55:21
Schöne Neuheiten!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Martin R. am August 09, 2012, 10:13:38
Johann W. von Goethe
An Luna

Schwester von dem ersten Licht,
Bild der Zärtlichkeit und Trauer!
Nebel schwimmt mit Silberschauer
Um dein reizendes Gesicht;
Deines leisen Fußes Lauf
Weckt aus tagverschloßnen Höhlen
Traurig abgeschiedne Seelen,
Mich und nächtge Vögel auf.

Forschend übersieht dein Blick
Eine großgemeßne Weite.
Hebe mich an deine Seite!
Gib der Schwärmerei dies Glück,
Und in wollustvoller Ruh
Säh der weitverschlagne Ritter
Durch das gläserne Gegitter
Seines Mädchens Nächten zu.

Des Beschauens holdes Glück
Mildert solcher Ferne Qualen,
Und ich sammle deine Strahlen
Und ich schärfe meinen Blick;
Hell und heller wird es schon
Um die unverhüllten Glieder,
Und nun zieht sie mich hernieder,
Wie dich einst Endymion.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am August 09, 2012, 11:43:53
Oh ja - unerreicht und unvergessen!

Hab Dank, Martin
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Erman am August 09, 2012, 13:45:16
Moritz von Strachwitz, 1822 - 1847

Ich will ja nur


Ich will ja nur an Deiner Lippe sterben,
Als Sonnenstaub in Deinem Kuss verfliegen,
Will nur den Schmerz, den tiefen, schweren, herben,
Mit Deines Mundes Lethetrank besiegen.

Ich will ja nicht an Deinem Munde saugen,
Nur fromm und gläubig in Dein Antlitz schauen
Und auf dem Strahle Deiner Wunderaugen
Zum Äther hin demant'ne Brücken bauen.

Ich will ja nicht in Deinem Aug' mich sonnen,
Nur Worte tauschen süßer Minnefehde,
Nur rauschen hören Deiner Lippe Bronnen
In sanften Wellen zarter Frauenrede.

Ich will ja nicht Dich sehen, küssen, hören,
Ich will ja nur Dein denken im geheimen
Und hoffnungslos der Saite Gold empören
Und mich ergehn in zarten Liebesreimen.



Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Martin R. am August 10, 2012, 15:22:30
Heinrich Heine
Der Schmetterling ist in die Rose verliebt

     Der Schmetterling ist in die Rose verliebt,
Umflattert sie tausendmal,
Ihn selber aber goldig zart,
Umflattert der liebende Sonnenstrahl.

     Jedoch, in wen ist die Rose verliebt?
Das wüßt’ ich gar zu gern.
Ist es die singende Nachtigall?
Ist es der schweigende Abendstern?

     Ich weiß nicht, in wen die Rose verliebt;
Ich aber lieb’ Euch all:
Rose, Schmetterling, Sonnenstrahl,
Abendstern und Nachtigall.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am August 10, 2012, 15:40:09
Sehr schön!
Heine: einer der Großen!!!

aber den Übertragungs-Tippfehler in V2 darfst Du entfernen.
Ich geb Dir demnächst einen Hinweis, wie man das geschickter machen kann.

Lieben Gruß!
cyparis
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 18, 2012, 21:16:55
Das Hundegrab auf Oxia
Ein Mahnruf

Ein kahles Eiland in der Meereswüste
Von Menschen unbewohnt, da nicht ein Quell
Hervorbricht aus dem starren Felsengrund,
Der Nahrung böte einem Grashalm nur,
Indes die Sonne südlich hohe Glut
Herniedersendet. So Jahrtausendlang
Stand allgemieden, trostlos, wie verfemt
Die Klippe da.
Doch heute, wer im Boot
Der Insel naht – auf einmal staunend sieht
Sein Aug' ein wimmelnd Leben dort am Strand,
Wo einst des Todes Schweigen nur geherrscht.
Und Grauen wird das Staunen, wenn er sieht:
Was dort sich regt, ist schauriger als Tod,
Der Wohltat wär' den Unglückseligen,
Verdammt zu langsamen Verschmachtens Qual,
Ein Schicksal, das dem schlimmsten Mörder nicht
Verhängt das härtste Strafgesetz.
Wer sind
Die Jammervollen? Was verbrachen sie?
Unschuld'ge sind's, hier grausam eingepfercht
Von Menschen, die unmenschlich sind, denn gut
Und edel sei der Mensch, indessen sie
Vergaßen aller Güte, da es hier
Nur Tiere gilt, und für die Folterung
Von armen Hunden keine Rechenschaft
Zu geben ist am Tage des Gerichts!

Wohl! Überhandnahm, nicht zu dulden mehr,
Die Hundeplage, die des Sultans Stadt
Gemacht zu räudiger Streuner Tummelplatz,
Wohl durften endlich ihres Herrenrechts
Die Menschen sich bedienen, notgedrängt.
Doch dann auch, wenn es Selbsterhaltung gilt,
Geziemt Erbarmen. Der Gerechte, heißt's
Im heil'gen Buch, erbarmt sich seines Viehs.
Und wenn auch der Prophet kein solch Gebot
Der Milde seinen Gläubigen eingeschärft,
Hat er sein Pferd und seine Katze doch
Zärtlich geliebt, und in der Notwehr wohl
Hätt' er den scharfen Stahl auch auf ein Tier
Gezückt, doch es dem Tode nie geweiht
Durch marterndes Verdursten, obdachlos
Dem Brand der Sonnenpfeile ausgesetzt,
Bis es die Wut befällt und brechend sich
Der Blick der schwachen Kreatur, die gern
Den Freund im Menschen sieht, verzweiflungsvoll
Zu seinem Henker hebt.
Wohl ist die Welt
Noch heut der Greuel voll, die Menschen auch
An Menschen üben. Doch ein letzter Trost
Bleibt den Verzweifelnden, wenn übergroß
Die Qual ward, mit freiwilligem Entschluß
Sie enden, was versagt ist dem Geschöpf,
Das ach, vernunftlos, doch nicht seelenlos
Sich knechtisch beugen muß dem blinden Recht
Des Stärkern.
Also in der Zeitung stand
Die Mär vom Hundegrab in Oxia.
Wohl niemand, will ich glauben, hätt' er auch
Für diesen treuen Spiel- und Leidgefährten
Des Menschen sonst kein Herz, konnt' ungerührt
Die Kunde lesen des Entsetzlichen,
Das hier nicht blöde Roheit einzelner,
Nein, kalte Staatsweisheit verordnet hat,
Zur Schmach dem ganzen Volk, das drein sich fügt.
Doch, die es schaudernd lasen, fühlten sie
Sich tiefer aufgeregt, als wenn sie sonst
Von einem Unglück hörten: Daß im Berg
Verschüttet wurden arme Häuer, daß
Ein Schiff mit aller Mannschaft untersank,
Die Pest vieltausend Menschen hingerafft,
Was einzig blinder Elemente Schuld?
Und keinem fiel es ein, daß täglich hier
Ein unerhörter Frevel wird verübt,
Den stumm mit anzusehn, das Herzblut ihm
Empören sollte? Wirken segensreich
In unsrer Stadt und in den Ländern rings
Vereine zu gequälter Tiere Schutz,
Und geht von keinem, keinem ein Protest
Bis hin zum goldnen Horn, da solchen Gräul
Zu dulden, dem Jahrhundert Schande macht?

Noch will ich hoffen. Doch was kommen soll,
Geschehe bald, bevor die Todesqual
Des letzten Opfers diese Christenwelt
Verklagt, die das Gebot der Liebe kennt,
Und doch so lässig übt die heil'ge Pflicht
Der Menschlichkeit!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Daisy am Februar 01, 2013, 19:53:15
Sehnsuchtslied

von Selma Meerbaum-Eisinger

Leise schlägst in deinem Lied du einen Ton an -
und dir ist, als fehlte noch etwas.
Und du suchst verwirrt bei allen Tönen,
ob sie dir nicht sagen können,
wo's zu finden, wo und wie und wann ...
Doch der eine ist zu blaß
und zu lüstern ist der zweite
und der dritte ist so voll mit Weite -
viel zu voll.

Du suchst lange - Moll und Dur und Moll
werden lebend unter deinen Händen.
Und dann schlägst du plötzlich eine Taste an,
und - es kommt kein Ton.
Und das Schweigen ist dir wie ein dumpfer Hohn,
denn du weißt es plötzlich ganz genau:
Dieser fehlt dir. Wenn ihn deine Hände fänden,
fiele ab von deinem Lied der Bann,
wär' das Ende nicht mehr leer und grau.

Und du rührst und rührst die Taste -
fragst dich, wo hier wohl die Hemmung liegt,
suchst, ob nicht doch deiner Hände Weiche siegt,
deine Augen betteln voll Verlangen.
Kein Ton kommt. Einsamkeit bleibt nun zu Gaste
in dem Lied, das dir so schwer und süß gereift.
Um den ungespielten Ton wirst du nun ewig bangen,
bangen um das Glück, das dich nur leicht gestreift
in den leisen Nächten, wenn der Mond dich wiegt
und die Stille deine Tränen nicht begreift.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Februar 02, 2013, 18:18:59
Sehr schön!

Danke!

Lieben Gruß
von
cyparis
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Mai 23, 2013, 15:59:24
Friedrich Hölderlin

Achill

Herrlicher Göttersohn! da du die Geliebte verloren,
Gingst du ans Meergestad, weintest hinaus in die Flut,
Weheklagend hinab verlangt' in den heiligen Abgrund,
In die Stille dein Herz, wo, von der Schiffe Gelärm
Fern, tief unter den Wogen, in friedlicher Grotte die blaue
Thetis wohnte, die dich schützte, die Göttin des Meers.
Mutter war dem Jünglinge sie, die mächtige Göttin,
Hatte den Knaben einst liebend, am Felsengestad
Seiner Insel, gesäugt, mit dem kräftigen Liede der Welle
Und im stärkenden Bad ihn zum Heroen genährt.
Und die Mutter vernahm die Weheklage des Jünglings,
Stieg vom Grunde der See, trauernd, wie Wölkchen, herauf,
Stillte mit zärtlichem Umfangen die Schmerzen des Lieblings,
Und er hörte, wie sie schmeichelnd zu helfen versprach.
 
Göttersohn! o wär ich, wie du, so könnt' ich vertraulich
Einem der Himmlischen klagen mein heimliches Leid.
Sehen soll ich es nicht, soll tragen die Schmach, als gehört ich
Nimmer zu ihr, die doch meiner mit Tränen gedenkt.
Gute Götter! doch hört ihr jegliches Flehen des Menschen,
Ach! und innig und fromm liebt' ich dich heiliges Licht,
Seit ich lebe, dich Erd' und deine Quellen und Wälder,
Vater Aether, und dich fühlte zu sehnend und rein
Dieses Herz - o sänftiget mir, ihr Guten, mein Leiden,
Daß die Seele mir nicht allzu frühe verstummt,
Daß ich lebe und euch, ihr hohen himmlischen Mächte,
Noch am fliehenden Tag danke mit frommem Gesang,
Danke für voriges Gut, für Freuden vergangener Jugend,
Und dann nehmet zu euch gütig den Einsamen auf.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Mai 23, 2013, 16:45:34
Überwältigend!

Obwohl ich gestehen muß, daß ich mit Hölderlin nicht immer zurechtkam.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 09, 2014, 19:14:54
(http://static.twoday.net/amazone1/images/georg_heym.jpg)

Georg Heym

Der Krieg

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.

Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.

Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.

Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am September 09, 2014, 20:06:50
O ja -

wie gut, daß es dem Vergessen hier entrissen wurde!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 09, 2014, 20:22:34
Ja. Die ersten drei Strophen sind brandaktuell, finde ich.

Lieben Gruß
Jenny
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Erich Kykal am September 10, 2014, 18:30:24
Rainer Maria Rilke

Fünf Gedichte, die mich jedesmal zum Weinen bringen, wenn ich sie lese... (Extra solche, die nicht ohnehin jeder kennt, wenn er an Rilke denkt...)


DER BLINDE KNABE

An allen Türen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter bleiche Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe."
Und alle weinten über ihn.

An allen Türen blieb der blinde Knabe.

Die Mutter aber zog ihn leise mit;
weil sie die andern alle weinen schaute.
Er aber, der nicht wusste, wie sie litt,
und nur noch tiefer seinem Dunkel traute,
sang: "Alles Leben ist in meiner Laute."

Die Mutter aber zog ihn leise mit.

So trug er seine Lieder durch das Land.
Und als ein Greis ihn fragte, was sie deuten,
da schwieg er, und auf seiner Stirne stand:
Es sind die Funken, die die Stürme streuten,
doch einmal werd ich breit sein wie ein Brand.

So trug er seine Lieder durch das Land.

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.
Sie mussten immer an den Blinden denken
und wollten etwas seiner Armut weihn;
er nahm sie lächelnd an den Handgelenken
und sang: "Ich selbst bin kommen euch beschenken."

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.

Und alle Mädchen wurden blass und bang.
Und waren wie die Mutter dieses Knaben,
der immer noch in ihren Nächten sang.
Und fürchteten: wir werden Kinder haben, -
und alle Mütter waren krank . .

Da wurden ihre Wünsche wie ein Wort
und flatterten wie Schwalben um die Eine,
die mit dem Blinden zog von Ort zu Ort:
"Maria, du Reine,
sieh, wie ich weine.
Und es ist seine
Schuld. In die Haine
führe ihn fort!"

Bei allen Bäumen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter müde Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe -"
Und alle blühten über ihm.


DER SCHAUENDE

Ich sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit und ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien:
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.


DER APFELGARTEN

Komm gleich nach dem Sonnenuntergange,
sieh das Abendgrün des Rasengrunds;
ist es nicht, als hätten wir es lange
angesammelt und erspart in uns,

um es jetzt aus Fühlen und Erinnern,
neuer Hoffnung, halbvergeßnem Freun,
noch vermischt mit Dunkel aus dem Innern,
in Gedanken vor uns hinzustreun

unter Bäume wie von Dürer, die
das Gewicht von hundert Arbeitstagen
in den überfüllten Früchten tragen,
dienend, voll Geduld, versuchend, wie

das, was alle Maße übersteigt,
noch zu heben ist und hinzugeben,
wenn man willig, durch ein ganzes Leben
nur das Eine will und wächst und schweigt.


DER FREMDE

Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten,
die er müde nichtmehr fragen hieß,
ging er wieder fort, verlor, verließ - .
Denn er hing an solchen Reisenächten
anders als an jeder Liebesnacht.
Wunderbare hatte er durchwacht,
die mit starken Sternen überzogen
enge Fernen auseinanderbogen
und sich wandelten wie eine Schlacht;

andre, die mit in den Mond gestreuten
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten;
sich ergaben, oder durch geschonte
Parke graue Edelsitze zeigten,
die er gerne in dem hingeneigten
Haupte einen Augenblick bewohnte,
tiefer wissend, dass man nirgends bleibt;
und schon sah er bei dem nächsten Biegen
wieder Wege, Brücken, Länder liegen
bis an Städte, die man übertreibt.

Und dies alles immer unbegehrend
hinzulassen, schien ihm mehr als seines
Lebens Lust, Besitz und Ruhm.
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines
täglich ausgetretnen Brunnensteines
Mulde manchmal wie ein Eigentum.


RÖMISCHE FONTÄNE

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 11, 2014, 10:52:12
(http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/dc/Eminescu.jpg)

Mihai Eminescu

Sonette I

Draußen ist Herbst; verstreuten Laubes Schaum.
Der Wind wirft Tropfen gegens Fenster schwer.
Aus alter Post in brüchigem Couvert –
was steigt da auf in einer Stunde kaum!

So gibst du süßen Nichtigkeiten Raum;
an deiner Türe klopfe nirgendwer ...
Doch schöner noch, bei Schnee und Eis umher,
am Feuer sitzen, übermannt vom Traum.

Vom Traum, der mir in die Gedanken greift:
Die Fee des Märchens, Dochia, steigt hernieder,
indes ein dichter Nebel mich umschweift.

Das Rauschen eines Kleides hör ich wieder,
gelinden Schritt, der kaum die Diele streift;
und dünne Hände decken meine Lider.

(nach Geraldine Gabor)  
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Erich Kykal am September 11, 2014, 17:54:19
Rainer Maria Rilke

Nochmal fünf Gedichte, zum Weinen schön! (Ich schreibe hier extra jene, die nicht ohnehin jeder kennt!)


SONETT XXIX (aus dem 2. Teil der Sonette an Orpheus)

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atmen noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidenste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.


DER BALL

Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgibt, sorglos wie
sein eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,

zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug

noch Unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit hinaufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt - , und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,

um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.


DIE GAZELLE (Gazella Dorcas)

Verzauberte: Wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals

das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.


DER SCHWAN

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
während er unendlich still und heiter
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.


AUS DEM STUNDENBUCH (Von der Armut und vom Tode)

Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit.

Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach:
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrinnt,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am September 11, 2014, 18:16:39
Auch wenn es  allen bekannt ist:




Archaischer Torso Apollos



Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt,
darin die Augenäpfel reiften. Aber
sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber,
in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt,
     
sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug
der Brust dich blenden, und im leisen Drehen
der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen
zu jener Mitte, die die Zeugung trug.
 
Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz
unter der Schultern durchsichtigem Sturz
und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;
     
und bräche nicht aus allen seinen Rändern
aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle,
die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.



(Rainer Maria Rilke)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Erich Kykal am September 12, 2014, 18:20:58
Rainer Maria Rilke

Ein paar mehr teils selten genannte Kostbarkeiten:


DIE HEILIGE

Das Volk war durstig; also ging das eine
durstlose Mädchen, ging die Steine
um Wasser anflehn für ein ganzes Volk.
Doch ohne Zeichen blieb der Zweig der Weide,
und sie ermattete am langen Gehn
und dachte endlich nur, dass einer leide,
(ein kranker Knabe, und sie hatten beide
sich einmal abends ahnend angesehn).
Da neigte sich die junge Weidenrute
in ihren Händen dürstend wie ein Tier:
jetzt ging sie blühend über ihrem Blute,
und rauschend ging ihr Blut tief unter ihr.


EINSAMKEIT

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen . . .


WELCHE WIESEN . .

Welche Wiesen duften deine Hände?
Fühlst du wie auf deine Widerstände
stärker sich der Duft von draußen stützt.
Drüber stehn die Sterne schon in Bildern.
Gib mir, Liebe, deinen Mund zu mildern;
ach, dein ganzes Haar ist unbenützt.

Sieh, ich will dich mit dir selbst umgeben
und die welkende Erwartung heben
von dem Rande deiner Augenbraun;
wie mit lauter Liderinnenseiten
will ich dir mit meinen Zärtlichkeiten
alle Stellen schließen, welche schaun.


DER TOD DER GELIEBTEN

Er wusste nur vom Tod was alle wissen:
dass er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst,

hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, dass sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:

da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden

und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gutgelegene, das immersüße -
und tastete es ab für ihre Füße.


DER BLINDE (Paris)

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt,
die nicht ist auf seiner dunkeln Stelle,
wie ein dunkler Sprung durch eine helle
Tasse geht. Und wie auf einem Blatt

ist auf ihm der Widerschein der Dinge
aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein.
Nur sein Fühlen rührt sich, so als finge
es die Welt in kleinen Wellen ein:

eine Stille, einen Widerstand - ,
und dann scheint er wartend wen zu wählen:
hingegeben hebt er seine Hand,
festlich fast, wie um sich zu vermählen.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Erich Kykal am September 13, 2014, 12:48:24
Rainer Maria Rilke


EINE WELKE

Leicht, wie nach ihrem Tode
trägt sie die Handschuh, das Tuch.
Ein Duft aus ihrer Kommode
verdrängte den lieben Geruch,

an dem sie sich früher erkannte.
Jetzt fragte sie lange nicht, wer
sie sei (: eine ferne Verwandte),
und geht in Gedanken umher

und sorgt für ein ängstliches Zimmer,
das sie ordnet und schont,
weil es vielleicht noch immer
dasselbe Mädchen bewohnt.


DER BALKON

Von der Enge, oben, des Balkones
angeordnet wie von einem Maler
und gebunden wie zu einem Strauß
alternder Gesichter und ovaler,
klar im Abend, sehn sie idealer,
rührender und wie für immer aus.

Dieses aneinander angelehnten
Schwestern, die, als ob sie sich von weit
ohne Aussicht nacheinander sehnten,
lehnen, Einsamkeit an Einsamkeit;

und der Bruder mit dem feierlichen
Schweigen, zugeschlossen, voll Geschick,
doch von einem sanften Augenblick
mit der Mutter unbemerkt verglichen;

und dazwischen, abgelebt und länglich,
längst mit keinem mehr verwandt,
einer Greisin Maske, unzugänglich,
wie im Fallen von der einen Hand
aufgehalten, während eine zweite
welkere, als ob sie weitergleite,
unten von den Kleidern hängt zur Seite

von dem Kinderangesicht,
das das Letzte ist, versucht, verblichen,
von den Stäben wieder durchgestrichen
wie noch unbestimmbar, wie noch nicht.


DON JUANS KINDHEIT

In seiner Schlankheit war, schon fast entscheidend,
der Bogen, der an Frauen nicht zerbricht;
und manchmal, seine Stirne nicht mehr meidend,
ging eine Neigung durch sein Angesicht

zu einer die vorüberkam, zu einer
die ihm ein fremdes altes Bild verschloss:
er lächelte. Er war nicht mehr der Weiner,
der sich ins Dunkel trug und sich vergoß.

Und während ein ganz neues Selbstvertrauen
ihn öfter tröstete und fast verzog,
ertrug er ernst den ganzen Blick der Frauen,
der ihn bewunderte und ihn bewog.


DAME VOR DEM SPIEGEL

Wie in einem Schlaftrunk Spezerein
löst sie leise in dem flüssigklaren
Spiegel ihr ermüdetes Gebaren;
und sie tut ihr Lächeln ganz hinein.

Und sie wartet, dass die Flüssigkeit
davon steigt; dann gießt sie ihre Haare
in den Spiegel, und, die wunderbare
Schulter hebend aus dem Abendkleid,

trinkt sie still aus ihrem Bild. Sie trinkt,
wie ein Liebender im Taumel tränke,
prüfend, voller Mißtraun; und sie winkt

erst der Zofe, wenn sie auf dem Grunde
ihres Spiegels Lichter findet, Schränke
und das Trübe einer späten Stunde.


DIE FLAMINGOS

In Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war

noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne

sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.

Auf einmal kreischt ein Neid durch die Volière;
sie aber haben sich erstaunt gereckt
und schreiten einzeln ins Imaginäre.


DER PAVILLON

Aber selbst noch durch die Flügeltüren
mit dem grünen regentrüben Glas
ist ein Spiegeln lächelnder Allüren
und ein Glanz von jenem Glück zu spüren,
das sich dort, wohin sie nicht mehr führen,
einst verbarg, verklärte und vergaß.

Aber selbst noch in den Steingirlanden
über der nicht mehr berührten Tür
ist ein Hang zur Heimlichkeit vorhanden
und ein stilles Mitgefühl dafür - ,

und sie schauern manchmal, wie gespiegelt,
wenn ein Wind sie schattig überlief;
auch das Wappen, wie auf einem Brief
viel zu glücklich, überstürzt gesiegelt,

redet noch. Wie wenig man verscheuchte:
alles weiß noch, weint noch, tut noch weh - ,
Und im Fortgehn durch die tränenfeuchte
abgelegene Allee

fühlt man lang noch auf dem Rand des Dachs
jene Urnen stehen, kalt, zerspalten:
doch entschlossen, noch zusammzuhalten
um die Asche alter Achs.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am September 22, 2014, 13:15:38
von Gummibaums Gedicht in Erinnerung gerufen:





Gebet


Dich ruf ich, Schmerz; mit aller deiner Macht
triff dieses Herz, daß es gemartert werde
und, das ich bin, dies Häuflein arme Erde,
emporhält aus der allgemeinen Nacht.

Dich ruf ich, Menschenfreund der besten Art;
mißtraue nicht, daß ich dich je verkennte;
du Schmerz, durch den uns wohl das Größte ward,
was Menschenwert von Gott und Tiere trennte.

Dich ruf ich; gib mir deinen bittern Krug;
und siehst du mich auch bang mich von ihm wenden;-
da mir das Glück allein nicht Kraft genug,
so hilf denn du mein Tagwerk mir vollenden.





Christian Morgenstern


Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am September 22, 2014, 18:50:38
(http://static.twoday.net/amazone1/images/Arno-Holz.jpg)

Arno Holz

Ich bin der reichste Mann der Welt

Ich bin der reichste Mann der Welt!

Meine silbernen Yachten
schwimmen auf allen Meeren.

Goldne Villen glitzern durch meine Wälder in Japan,
in himmelhohen Alpenseeen spiegeln sich meine Schlösser,
auf tausend Inseln hängen meine purpurnen Gärten.

Ich beachte sie kaum.

An ihren aus Bronze gewundenen Schlangengittern
geh ich vorbei,
über meine Diamantgruben
lass ich die Lämmer grasen.

Die Sonne scheint,
ein Vogel singt,
ich bücke mich
und pflücke eine kleine Wiesenblume.

Und plötzlich weiss ich: ich bin der ärmste Bettler!

Ein Nichts ist meine ganze Herrlichkeit
vor diesem Thautropfen,
der in der Sonne funkelt.
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Jana am September 27, 2014, 23:10:38
Edgar Allen Poe
The Raven

Once upon a midnight dreary, while I pondered weak and weary,
Over many a quaint and curious volume of forgotten lore,
While I nodded, nearly napping, suddenly there came a tapping,
As of some one gently rapping, rapping at my chamber door.
`'Tis some visitor,' I muttered, `tapping at my chamber door -
Only this, and nothing more.'

Ah, distinctly I remember it was in the bleak December,
And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.
Eagerly I wished the morrow; - vainly I had sought to borrow
From my books surcease of sorrow - sorrow for the lost Lenore -
For the rare and radiant maiden whom the angels name Lenore -
Nameless here for evermore.

And the silken sad uncertain rustling of each purple curtain
Thrilled me - filled me with fantastic terrors never felt before;
So that now, to still the beating of my heart, I stood repeating
`'Tis some visitor entreating entrance at my chamber door -
Some late visitor entreating entrance at my chamber door; -
This it is, and nothing more,'

Presently my soul grew stronger; hesitating then no longer,
`Sir,' said I, `or Madam, truly your forgiveness I implore;
But the fact is I was napping, and so gently you came rapping,
And so faintly you came tapping, tapping at my chamber door,
That I scarce was sure I heard you' - here I opened wide the door; -
Darkness there, and nothing more.

Deep into that darkness peering, long I stood there wondering, fearing,
Doubting, dreaming dreams no mortal ever dared to dream before;
But the silence was unbroken, and the darkness gave no token,
And the only word there spoken was the whispered word, `Lenore!'
This I whispered, and an echo murmured back the word, `Lenore!'
Merely this and nothing more.

Back into the chamber turning, all my soul within me burning,
Soon again I heard a tapping somewhat louder than before.
`Surely,' said I, `surely that is something at my window lattice;
Let me see then, what thereat is, and this mystery explore -
Let my heart be still a moment and this mystery explore; -
'Tis the wind and nothing more!'

Open here I flung the shutter, when, with many a flirt and flutter,
In there stepped a stately raven of the saintly days of yore.
Not the least obeisance made he; not a minute stopped or stayed he;
But, with mien of lord or lady, perched above my chamber door -
Perched upon a bust of Pallas just above my chamber door -
Perched, and sat, and nothing more.

Then this ebony bird beguiling my sad fancy into smiling,
By the grave and stern decorum of the countenance it wore,
`Though thy crest be shorn and shaven, thou,' I said, `art sure no craven.
Ghastly grim and ancient raven wandering from the nightly shore -
Tell me what thy lordly name is on the Night's Plutonian shore!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

Much I marvelled this ungainly fowl to hear discourse so plainly,
Though its answer little meaning - little relevancy bore;
For we cannot help agreeing that no living human being
Ever yet was blessed with seeing bird above his chamber door -
Bird or beast above the sculptured bust above his chamber door,
With such name as `Nevermore.'

But the raven, sitting lonely on the placid bust, spoke only,
That one word, as if his soul in that one word he did outpour.
Nothing further then he uttered - not a feather then he fluttered -
Till I scarcely more than muttered `Other friends have flown before -
On the morrow he will leave me, as my hopes have flown before.'
Then the bird said, `Nevermore.'

Startled at the stillness broken by reply so aptly spoken,
`Doubtless,' said I, `what it utters is its only stock and store,
Caught from some unhappy master whom unmerciful disaster
Followed fast and followed faster till his songs one burden bore -
Till the dirges of his hope that melancholy burden bore
Of "Never-nevermore."'

But the raven still beguiling all my sad soul into smiling,
Straight I wheeled a cushioned seat in front of bird and bust and door;
Then, upon the velvet sinking, I betook myself to linking
Fancy unto fancy, thinking what this ominous bird of yore -
What this grim, ungainly, ghastly, gaunt, and ominous bird of yore
Meant in croaking `Nevermore.'

This I sat engaged in guessing, but no syllable expressing
To the fowl whose fiery eyes now burned into my bosom's core;
This and more I sat divining, with my head at ease reclining
On the cushion's velvet lining that the lamp-light gloated o'er,
But whose velvet violet lining with the lamp-light gloating o'er,
She shall press, ah, nevermore!

Then, methought, the air grew denser, perfumed from an unseen censer
Swung by Seraphim whose foot-falls tinkled on the tufted floor.
`Wretch,' I cried, `thy God hath lent thee - by these angels he has sent thee
Respite - respite and nepenthe from thy memories of Lenore!
Quaff, oh quaff this kind nepenthe, and forget this lost Lenore!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

`Prophet!' said I, `thing of evil! - prophet still, if bird or devil! -
Whether tempter sent, or whether tempest tossed thee here ashore,
Desolate yet all undaunted, on this desert land enchanted -
On this home by horror haunted - tell me truly, I implore -
Is there - is there balm in Gilead? - tell me - tell me, I implore!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

`Prophet!' said I, `thing of evil! - prophet still, if bird or devil!
By that Heaven that bends above us - by that God we both adore -
Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn,
It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore -
Clasp a rare and radiant maiden, whom the angels name Lenore?'
Quoth the raven, `Nevermore.'

`Be that word our sign of parting, bird or fiend!' I shrieked upstarting -
`Get thee back into the tempest and the Night's Plutonian shore!
Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken!
Leave my loneliness unbroken! - quit the bust above my door!
Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door!'
Quoth the raven, `Nevermore.'

And the raven, never flitting, still is sitting, still is sitting
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming,
And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor;
And my soul from out that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted - nevermore!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Thomas am Oktober 03, 2014, 08:55:24
Der Rabe (von E.A.Poe - eine Nachdichtung - eingestellt für Jana)

Mitternacht war längst vorüber, als ich müde grübelnd über
Einem Buch studierend saß und längst vergess‘ne Lehren las –
Schläfrig wurde mir im Kopfe, plötzlich dachte ich es klopfe,
Als ob jemand leise pochte, pochte an des Hauses Tor.
'Ein Besucher', sprach ich murmelnd, 'ein Besucher vor dem Tor?'
Etwas seltsam kam‘s mir vor.

O, ich kann mich klar entsinnen an den trostlos, öden Winter.
Jede Glut wob im Verglimmen ihren Geist im Boden ein.
Sehnlich wartend auf den Morgen, suchte Linderung von Sorgen
Ich durch lesen zu erborgen, von den Sorgen um Lenor –
Dieses reine, holde Mädchen nennen Engel nun Lenor –
Engel, den ich hier verlor.

Und das seidensachte Schwanken meines Purpurvorhangs plagte,
Jagte rasend mich mit Ängsten, Ängsten nie gekannt zuvor.
Ich erhob mich, um mein schlagend Herz zu stillen, nochmals sagend:
'Einlass fordert ein Besucher, spät noch, vor des Hauses Tor –
Was erklärte sonst das Pochen, spät noch, vor des Hauses Tor?
Ein Besucher steht davor!'

Meine Seelenkräfte wuchsen. Und ich konnte eilig rufen:
'Dame oder Herr, ich bitte herzlich um Entschuldigung.
Ihr habt schlafend mich getroffen und so leise war das Pochen,
Ein verschwindend leises Pochen hörte ich an meinem Tor,
Schwach nur, aus der Ferne klingend.' – und ich öffnete das Tor.
Dunkle Leere fand ich vor.

Lange in das Dunkel starrend, stand ich bange, fragend harrend,
Träumte Träume, die zu träumen keiner je gewagt zuvor.
Doch die Stille wollt' nicht weichen. Nirgends gab die Nacht ein Zeichen.
Nur ein Wort durchbrach das Schweigen, flüsternd klang das Wort 'Lenor?'
Antwort, leiser als zuvor, gab mein Echo mir 'Lenor?'
Stille war es, wie zuvor.

Meine wunde Seele brannte, als ich mich zur Kammer wandte.
Da vernahm ich das bekannte Pochen lauter als zuvor.
Sicher glaubt' ich zu erraten, kommt es von dem Fensterladen:
'Lass mich das Geheimnis sehen, dass mir seltsam täuscht das Ohr.
Rasend Herz, hör auf zu jagen, ein Geräusch nur täuscht das Ohr,
Schreckt dich schon der Wind, du Tor?'

Und ich öffnete den Laden. Flatternd und mit Flügelschlagen
Kam ein stattlich großer Rabe aus der Dunkelheit hervor.
Ohne Gruß und ohne Stocken sprang er, um sich hinzuhocken,
Auf die Büste an der Tür, schwang zur Büste sich empor.
Gravitätisch flügelschlagend schwang der Rabe sich empor.
Saß – und still war’s wie zuvor.

Und der schwarze Vogel machte, dass ich für mich selber lachte,
Sein gewichtiges Gebaren löste meiner Trauer Flor.
'Euer Helmbusch ist geschoren, dennoch scheint ihr hochgeboren.
Welch' plutonisch fernes Ufer, sagt mir, brachte Euch hervor?
Sagt mir eurer Lordschaft Namen, die sich in der Nacht verlor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

Staunend hörte ich ihn sprechen, eines Rabens Radebrechen.
Ohne Sinn sind ihm die Worte, doch er bringt sie klar hervor.
Sicher werden Sie gestehen, sprechend, einen schwarzen Raben
Stehn auf weißer Pallas-Büste, das sah nie ein Mensch zuvor,
Solch ein Biest, solch einen Raben, das sah nie ein Mensch zuvor,
Mit dem Namen 'Nevermore'.

Doch der Rabe sprach alleine dieses Wörtchen, nur das eine,
Ganz als wäre seine Seele mit dem Worte ausgehaucht.
Keine Silbe von sich gebend, keine Feder mehr bewegend,
Saß er nun, bis ich gemurmelt: 'Andre Freunde floh’n zuvor,
Und auch ihn werd‘ ich verlieren, wie die Hoffnung ich verlor.'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

Als die Stille nun gebrochen, als so passend er gesprochen,
Sprach ich: 'Dieses Wort alleine – zweifellos sein ganzer Schatz –
Hat er dort wohl aufgelesen, wo sein Herr verfolgt gewesen
Von des Schicksals bösen Mächten. Als die Hoffnung er verlor
Und als Ausdruck der Verzweiflung dieses dunkle Wort erkor.
Dieses 'Never-nevermore''.

Mit verführerischer Fessel band der Rabe meine Seele.
Sachte rückte ich den Sessel Richtung Türe weiter vor,
Sank in samtne Kissen nieder, der Gedankenketten Glieder
Gaukelten mir immer wieder düst're Rabenbilder vor,
Bis mein Geist in dunkeln Kreisen bei der Frage sich verlor,
Was er meint, mit 'Nevermore'?

Brütend saß ich da und schweigend, nicht die kleinste Regung zeigend,
Als des Vogel Feuerauge tief sich in mein Herz gebohrt.
Suchend nach dem tiefsten Wissen, lehnte ich den Kopf ins Kissen,
In des Sessels samtnes Kissen, dessen purpurnes Dekor
Strahlte in der Lampe Schimmer. – Bei dem purpurnen Dekor
Sitzt sie nie mehr wie zuvor.

Dichter war die Luft und dichter. Lichter schienen und entschwanden,
wie wenn Weihrauchfässer schwingend, niedersinkt ein Engelchor.
'Kerl', rief ich, 'ob Gott ob Engel dich zu mir herniedersandte,
Gib mir Ruhe, gib Befreiung vom Gedenken an Lenor!
Gib die Droge des Vergessens für die Trauer um Lenor!'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.


'Ein Prophet bist du ohn' Zweifel, Vogel bist du und ein Teufel.
Ob dich der Versucher sandte, ob der Sturm dich trug hervor,
In Verlassenheit zu stranden – meiner Seele Wüstenlanden –
Wo nur Schreckgespenster hausen, gieße Balsam mir ins Ohr!
Sag mir, gibt es Trost auf Erden? Trost für die, die ich verlor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

'Ein Prophet bist du ohn' Zweifel, Vogel bist du und ein Teufel.
Sage, ob in Himmels Weiten an des Paradieses Tor –
Bei dem Gott, zu dem wir beten! – sage, ob ich einst in Eden
Wiederfinde dieses Wesen, dessen Name ist Lenor?
Jemals finde dieses Wesen, dessen Name ist Lenor?'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

'Unhold geh, wir sind geschieden!' rief ich, 'Lasse mich in Frieden!
An plutonisch fernem Ort verglimme, wie ein Meteor!
Keine Feder lass hier liegen, geh mit deinen schwarzen Lügen!
Geh, verlass die Pallas-Büste, nimm den Schatten mir vom Tor!
Nimm den Schnabel aus dem Herzen, lass mein Herz mir wie zuvor!'
Sprach der Rabe 'Nevermore'.

Und der Rabe sitzt noch immer, ohne Regung, sitzt noch immer
Auf der Büste in dem Zimmer, die als Thron er sich erkor.
Um die Augen glüht im Dunkeln ein dämonenhaftes Funkeln.
Aus dem Boden rings im Zimmer tritt sein Schattenbild hervor.
Meine Seele hebt sich nimmer aus dem Rabenschwarz empor,
Hebt sich nimmermehr empor.



Bemerkungen zu dieser Übersetzung.

Das Gedicht „The Raven“ von E.A.Poe ist schon sehr häufig übersetzt worden. Allein bei Wikisource findet man 14 Übertragungen ins Deutsche. Was kann es also rechtfertigen, das Gedicht nochmals zu übertragen? Was ist das Besondere an meiner Übertragung ins Deutsche?

Ich habe den Refrain des Gedichtes, der lediglich aus dem Wort „nevermore“ besteht, in der Originalsprache bestehen lassen und nicht mit dem entsprechenden deutschen Wort „nimmermehr“ übersetzt. Ich kenne keine andere Übersetzung, die das getan hat und habe gute Gründe für diese außergewöhnliche Vorgehensweise?

Poe beschreibt in dem kurzen Aufsatz „Philosophy of Composition“ Schritt für Schritt, wie er „The Raven“ konzipiert hat, wobei von ihm die Bedeutung des Klanges von „nevermore“ mit dem Langen O, gefolgt von einem R, als Voraussetzung für die Wirkung des Gedichts beschrieben wird. Diese Wirkung wird durch das E des Deutschen „nimmermehr“ nicht erreicht, außerdem gibt es keinen Mädchennamen, der (entsprechend zu „Nevermore – Lenor“) im deutschen zu „nimmermehr“ gewählt werden könnte.

Einige wenige Übersetzungen versuchen deutsche Worte mit langem O ans Ende jeder Strophe zu setzten, um den Klang von „nevermore“ zu erzeugen, was jedoch dazu führt, dass ein zweites wesentliches Kompositionsprinzip, welches Poe in dem erwähnten Aufsatz beschreibt, nicht erfüllt ist. Poe erachtet es für die Wirkung des Gedichts als ganz wesentlich, dass das immer gleiche Refrain-Wort in jeder Strophe aus einer neuen Perspektive erscheint, weswegen es einerseits ein sprachbegabtes Wesen ohne menschliche Intelligenz (der Rabe) ausspricht, andererseits jedoch von einem verständigen Wesen (dem trauernden Menschen) interpretiert wird. Reproduziert die Übertragung ins Deutsche den Klang des O, muss sie zwangsläufig im deutschen auf das Refrain-Wort „nimmermehr“ verzichten, und wird diesem zweiten wesentlichen Kompositionsprinzip nicht gerecht.

Ich sehe keinen anderen Ausweg aus dieser Zwickmühle, als einfach das englische Wort „nevermore“ zu lassen, und darauf zu vertrauen, dass dieses in einer Zeit, in der Anglizismen sehr gebräuchlich sind, den Leser nicht abstößt oder stört.

Mein Argument könnte dadurch entkräftet werden, dass Poes Behauptung über die grundlegende Bedeutung des Tones für die Wirkung des Gedichtes falsch ist – dem, was er über den Refrain sagt, wir kaum Widerspruch finden. Obwohl ich gewisse Zweifel hege, ob Poe in seiner Beschreibung der Entstehung des Gedichts tatsächlich in jedem Punkt wirklich so rational konstruierend vorgegangen ist, wie er es in „Philosphy of Composition“ beschreibt, so bin ich mir doch ziemlich sicher, dass er bezüglich der Bedeutung des Klanges von „nevermore“ Recht hat, weil dieses auch von anderen Dichtern in gleicher Weise beschreiben wird. Friedrich Schiller sagt z.B. in einem Brief vom 22.5.1792 an Körner: „Das Musikalische eines Gedichtes schwebt mir weit öfter vor der Seele, wenn ich mich hinsetze, es zu machen, als der klare Begriff vom Inhalt, über den ich oft kaum mit mir einig bin.“ und an Goethe in einem Brief vom 18.3.1796: „Bei mir ist die Empfindung anfangs ohne bestimmten Gegenstand, dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Grundstimmung geht vorher und auf diese folgt erst die poetische Idee.“ Das stimmt genau mit dem überein, was Poe sagt.

Zusätzlich möchte ich noch anfügen, dass ich mir große Mühe gegeben habe, die Entwicklung der poetischen Bilder möglichst genau zu übertragen. Man kann die Qualität einer Übertragung recht gut ermessen, wenn man nur die zweite Zeile der zweiten Strophe (And each separate dying ember wrought its ghost upon the floor.) mit den Schlusszeilen des Gedichts (And the lamp-light o'er him streaming throws his shadow on the floor; / And my soul from out that shadow that lies floating on the floor / Shall be lifted - nevermore!) vergleicht, denn die Entwicklung des wesentlichen Schlussbildes beginnt bereits in dieser Zeile der zweiten Strophe.

Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Oktober 03, 2014, 10:31:33
Großartig!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Aspasia am Oktober 03, 2014, 10:36:16
Ich bewundere Mascha Kaléko, die es wunderbar verstand, nüchterne Sachlichkeit mit romantischen Untertönen, Einfühlungsvermögen in die menschliche Seele und großer Herzlichkeit zu verbinden. Als außerordentlich mutige Frau - sie hatte im Dritten Reich einem Menschen durch öffentliche Warnung vor den Nationalsozialisten das Leben gerettet und sich selbst damit  in Gefahr gebracht (sie war Jüdin) - ist sie mir ein Vorbild. Allerdings ein Vorbild, das ich weder literarisch noch sozial erreichen kann.


Sogenannte Mesalliance

Die Herren offerierten Hof und Haus,
Um mir die Zukunft „rosig“ zu gestalten.
Sie hielten sie mir hin wie einen Strauß.
Ich lachte mir mein Teil und lief hinaus:
Da saßen sie mit ihren Bügelfalten.

Die klugen Nachbarn schüttelten das Haupt:
Die wird es nie zu etwas Rechtem bringen.
Und Zeiten gab’s, da ich es selbst geglaubt.
Da aber kam der Wanderer, bestaubt,
Und als er sprach, begann mein Herz zu singen.

Er hatte nichts als seine wilden Träume,
Auch war der Kindheit ferner Widerschein
In seiner Art – wie Tiere oder Bäume -
So ganz und unverhüllt er selbst zu sein.

Er glich in keinem Atemzug den andern,
Denn ihn besaß nicht Haus noch Hof und Feld.
Das Ufer jenseits war sein Ziel beim Wandern
Und nachts das Sternbild über seinem Zelt.

- Wer tauschte nicht des Krösus Scheckbuch ein,
In seiner Nähe bettelarm zu sein …

(Mascha Kaléko, 1938)
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am Oktober 05, 2014, 10:15:57
Danke!!!
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Seeräuber-Jenny am Februar 26, 2015, 01:13:28
(http://www.erichfried.de/KatzeundSofa.jpg)

Erich Fried

Zu guter Letzt

Als Kind wusste ich:
jeder Schmetterling
den ich rette
jede Schnecke
und jede Spinne
und jede Mücke
jeder Ohrwurm
und jeder Regenwurm
wird kommen und weinen
wenn ich begraben werde

Einmal von mir gerettet
muss keines mehr sterben
alle werden sie kommen
zu meinem Begräbnis

Als ich dann groß wurde
erkannte ich:
das ist Unsinn
keines wird kommen
ich überlebe sie alle

Jetzt im Alter
frage ich: Wenn ich sie aber
rette bis ganz zuletzt
kommen doch vielleicht zwei oder drei?
Titel: Re:Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: cyparis am M?RZ 06, 2015, 17:46:38
Fried ist nicht mein Fall, dies aber ist niedlich-philosophisch und natürlich nach dem Herzen aller Tierliebhaber.
Titel: Re: Lieblingsdichter und Lieblingsgedichte
Beitrag von: Grüngold am Dezember 11, 2020, 15:26:58
Joseph Freiherr von Eichendorff

Sehnsucht

Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab' ich mir heimlich gedacht:
Ach wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!

Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.

Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die über'm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
Wann der Lauten Klang erwacht,
Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht.