die Lyrik-Wiese

Spielwiese => Wiesengeflüster => Thema gestartet von: Sufnus am Mai 12, 2020, 13:02:50

Titel: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 12, 2020, 13:02:50
Ihr Lieben!

Ich wollte jetzt doch einmal ausprobieren, ob wir nicht zum zuletzt in einem Gedichtefaden von mir angeschnittenen Thema der "modernen Lyrik" zu einem gewinnbringenden Austausch gelangen. :)

Der Anknüpfungspunkt hierfür ist, eKys Verdruss ob der Form-losigkeit, die in der Lyrik seit ca. 1860 vermehrt um sich gegriffen hat (Arno Holz wäre hier vielleicht als ein früher Protagonist zu nennen), gepaart mit zunehmender Sinn-Verweigerung in der Tradition von Expressionisten, Dadaisten, Surrealisten und der konkreten Poesie (bei Letzterer natürlich mit einem ganz anderem poetologischen Konzept). Am Ende dieser Entwicklung steht eine Vorstellung, die eKy (und viele andere Leser oder eben gerade auch Nicht-Leser) für sich unter dem Stichwort "moderne Lyrik" ablegen:
Ein "sinnloser", reimfreier, metrisch ungebundener Text, der sich Grammatik und Orthographie hartnäckig verweigert.

Um das, was eKy sich (denke ich mal) unter "moderner Lyrik" vorstellt, im Anschluss mal ein paar Textbeispiele (Urheberrechtsfrei, weil schon Alt, mithin also noch am Anfang der Entwicklung "moderner Lyrik" stehend).

Zu diskutieren wäre m. E.:

A.
Sind
1. Formfreiheit
2. Durchbrechen von Sprachregeln
3. Sinn-Verweigerung
definierende Kennzeichen "moderner Lyrik". Kann also ein (einigermaßen) regelhaft gebautes Sonett per definitionem keine moderne Lyrik sein?

B.
Hat der Reim noch einen Platz in moderner Lyrik oder (um das Argument umzudrehen): Ist Lyrik ohne Reim per defintionem "gar keine richtige" Lyrik?

C.
Würde heutzutags mehr Lyrik gelesen, wenn die Lyriker wieder anfingen, "traditionell" zu dichten? Und was heißt das?
Ist also die Lyrikszene selber schuld, wenn sie ein Nischendasein führt, weil sie für das "normale Publikum" (wer ist das?) einfach zu verkopft, zu verquast, zu schräg geworden ist?


Und hier erstmal ein paar Textbeispiele, die den "Beginn der Moderne" in der deutschen Lyrik etwas illustrieren sollen:


Arno Holz (1863 - 1929)

In rote Fixsternwälder, die verbluten

In rote Fixsternwälder, die verbluten,
peitsch ich mein Flügelross.
Durch!
Hinter zerfetzten Planetensystemen, hinter vergletscherten Ursonnen,
hinter Wüsten aus Nacht und Nichts
wachsen schimmernd Neue Welten – Trillionen Crocusblüten!

***

August Stramm (1874 - 1915)

Traumig

Frauen schreiten ab zersehnte Augen
Kinderlachen händelt schmerzes Blut
Fernen nicken
Blüten winken
Kommen sammeln winden
Würgen sticket klamm die tränen Schlund.

***

Hugo Ball (1886 - 1927)

Katzen und Pfauen

baubo sbugi ninga gloffa
siwi faffa
sbugi faffa
olofa fafamo
faufo halja finj

sirgi ninga banja sbugi
halja hanja golja biddim
mâ mâ
piaûpa
mjâma

pawapa baungo sbugi
ninga
gloffalor
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Eisenvorhang am Mai 12, 2020, 14:20:32
Huhu Sufnus,

interessanter Faden!

Ich glaube, dass sich die moderne "Lyrik" oder "die Lyrik" erst noch richtig entwickeln muss, bevor sie sich von altmeisterlichem Handwerk abspalten kann.
Es gibt viele Ableger von Lerner, Kling, Winkler, Zweig, die ja mit bekannten und diversen Brüchen der Sprache begonnen haben und so hat sich das dann durch die Jahre verwurzelt.
Eine feste Form braucht es auch dann, wenn die eigentliche Form des Gedichtes zerworfen scheint. Ich denke es muss funktionieren und ich denke, dass die moderne Lyrik zwingend Poesie in sich tragen sollte.
Moderne zerhacktstückelte Fragmente, deren Zugänglichkeit einer verschlossenen Höhle ähneln... Nein.
Winkler schafft da einen guten Kompromiss zwischen alt und neu.

Vielleicht ist die moderne Lyrik bereits entwickelt und eher ein Resultat aus Gespür, Intuition und kreativem Schreiben.
Lyrik wird, wie mir scheint, auch zunehmend minimaler und "haikuesqer". Schreibt man das so? Keine Ahnung.
Du schreibst ja immer viel in deinen Kritiker über Stilbrüche oder über Passagen, die nicht so ganz zu passen scheinen.
Daher vermute ich, dass sich das auch in anderen Bereichen der Lyrik auf diese Weise benehmen wird. 

Es gibt Kritiken zu neuen Werken, wo ich mich frage: "HAE? Wo ziehen die sich das aus den Fingern..."
Da zweifel ich jedes mal an meinen kognitiven Fähigkeiten...

vlg

EV
 
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 12, 2020, 14:55:35
Hi EV!
Danke, dass Du Dich auf den Diskurs einlässt, der ja zunächst vor allem eine Begriffsbestimmung ist - was ist ein Gedicht, was ist Lyrik, was ist Poesie, was bedeutet "modern" (nicht als Verb! ;D) usw...
Und bei diesen Fragen gibt es kein beweisbares richtig oder falsch - allenfalls gibt es Definitionen, die mehr oder weniger sinnvoll anwendbar sind.
Wenn jemand für sich sagt: "Ein Text mit höchstens 2000 Wörtern und viel freiem Rand rechts und links ist ein Gedicht und wenn es mir gefällt, so nenne ich es poetisch", dann sind diese Definitionen nicht "widerlegbar", man kann höchstens hinterfragen, ob sie nicht etwas zu allgemein gehalten sind, um eine Differenzierung zwischen "Gedicht" auf der einen Seite und "Kürzestgeschichte", "Witz", "Motto", "Bedienungsanleitung" und "Hinweisschild" auf der anderen Seite zu ermöglichen.
Letzten Endes hilft es bei einer Diskussion natürlich ungemein, wenn man unter den Begriffen ungefähr das gleiche versteht. :)
LG!
S.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Martin Römer am Mai 12, 2020, 14:59:16
In meinen bitteren Stunden erscheint mir deine Frage wie ein hübsches Fischgericht.
Das Thema ist das königlichste nicht und doch, das kurze Abarbeiten langweilt nicht.

1. Sind Sprach- und Sinnvergewaltigungen definierende Kennzeichen "moderner Lyrik". Kann also ein (einigermaßen) regelhaft gebautes Sonett per definitionem keine moderne Lyrik sein?

Ich würde sagen ja.
Wenn man die moderne Lyrik klassischerweise als Unrat versteht, kann das gute Sonett wohl nicht dergestalt klassifiziert werden.

2. Hat der Reim noch einen Platz in moderner Lyrik oder (um das Argument umzudrehen): Ist Lyrik ohne Reim per defintionem "gar keine richtige" Lyrik?

Hier wird gewisserweise einiges miteinander durchgeworfen. Zum besseren Verständnis sei die Malerei herangezogen:
ist der Unsinnsschmierer der moderne Maler oder der Sichbemühende, der nunmal Kind des 21. Jahrhundert ist, der moderne Maler?

Der Reim ist gewisserweise für das Mirakulöse zuständig - blutige Geschichten in diesem Gewand, hach ja....***
Prokofiev hat mal ein Stück gemacht ohne Melodie. Na ja, wie wunderbar....
Also:
der Reim ist für die Lyrik maßgebend über die Epochen hinweg, bei der zweiten Frage muss man wieder - heute ist nicht dein bester Tag - Aufdröselung betreiben:
es gibt eine recht seltene erhabene freie Lyrik und wie gesagt den Nonsens.


3. Würde heutzutags mehr Lyrik gelesen, wenn die Lyriker wieder anfingen, "traditionell" zu dichten? Und was heißt das?
Ist also die Lyrikszene selber schuld, wenn sie ein Nischendasein führt, weil sie für das "normale Publikum" (wer ist das?) einfach zu verkopft, zu verquast, zu schräg geworden ist?

Das ist gewisserweise eine widersinnige Frage.
Wenn es - vielleicht bspw. durch Corona, was ich jedoch nicht glaube - ein Bedürfnis gibt nach besseren Zuständen, so werden sie wieder ernsthaft besungen und traditionell gepriesen.
Ansonsten ist "diese" Lyrikszene angesiedelt neben Schmetterlings- und Briefmarkensammlern - seltsame Leute, die harmlos sind.


In summa - und es darf gerne zu Gelächter reizen -:
hin und wieder schleicht sich die Chose der modernen Lyrik in meinen Gerechtigkeitskummer ein.
Warum planscht dieses Gesocks für gewöhnlich im Glück und Leute mit anständigem Herzen zittern im Ungemach?
Aber wirklich nur selten. Dann ergreift die Grämnis über sich selbst wieder das Kommando!

Unsinn sind die vorgebrachten Beispiele - was sonst?


Viele Grüße
M.


***
Eine Frage, die mich mal wirklich reizen würde: kommt Kunst von Englein oder von Heroen? Geschenk oder verklärte Leiden?
Lady Anneliese hat sich wie so häufig nicht ganz festgelegt, tendierte aber wohl zum "Schmerz als wahren Schöpfer".

Oder anderer niveauvoller Austausch. Was ist von der lyrischen Kunst die innere Bedeutung?
Ist die Sonettform ein aristokratisches Gebilde für graue Seelen? In meinen Augen eher ja.
Mein Weg zu dem ganzen Singsang war übrigens der vom freien Narren, der edele Momente haben möchte...

Na ja.
Im Augenblick ergeht sich die Unerquicklichkeit.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Eisenvorhang am Mai 12, 2020, 15:09:29
Lyrik ist für mich das was sie einst war. Ein Gesang von einer Lyra begleitet. Ferner formgebundener Text, der durch rhythmische Elemente und durch den Einsatz sprachlicher Mittel zum Gedicht wurde.
Poesie ist für mich der emotionale Grundstein emotional bewegte Bilder zu schaffen, die Gänsehaut beim Lesen verursachen. Ich kenne kein modernes Gedicht, was das bisher bei mir erwirken konnte.

Ich denke schon, dass gerade Sonette modern verdichtet werden können.
Das setzt aber schon gute Fähigkeiten voraus und viel Erfahrung mit zeitgenössischer Lyrik.

:-)
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 13, 2020, 02:04:26
Hallo!

Interessante Problematik. Der Vergleich mit der abstrakten oder klassischen Malerei oder Bildhauerei funktioniert nicht. Hab an anderer Stelle schon erklärt, warum. Ich schätze manche abstrakten Maler oder Plastiker durchaus sehr, weil es im bildnerischen/figürlichen Gestalten auch um Technik, Form und Farbe geht, nicht nur um Motive. Ausdruck lässt sich hier auf vielen Ebenen generieren.
Die Sprache der Lyrik hingegen ist nicht so vieldimensinal.

Letztlich kommt es nur darauf an, wie weit man den Terminus Lyrik fassen will. Ein gutes Beispiel ist "Schtzngrmm" von Ernst Jandl. Ich verstehe die Botschaft, sie ist genial umgesetzt in eindrücklichen, beklemmenden lautmalerischen Klangbildern. Aber ist es Lyrik, nur weil es Wortkunst ist? Die Botschaft erreicht mich auf rein intellektueller Ebene - das genügt mir nicht. Lyrik nenne ich etwas, das auch mein Herz, meine Emotion berührt.
Ich brauche nur ein paar Seiten Rilke zu lesen, und schon kullern mir die Tränen - einfach allein schon, weil die Sprache so wunderschön ist! Und weil sie mich anrührt, zutiefst bewegt mit ihren Bildern in weichem, harmonischem Fluss. Ein Werk wie "Schtzngrmm", so großartig die Idee dahinter auch sein mag, vermag das bei mir nicht zu erreichen.

EV hat im vorhergehenden Kommi praktisch dasselbe gesagt, und ich pflichte bei: Lyrik ist Sprache, die das Innerste berührt. Abstrahierte Kunstbasteleien mit Sprachbausteinen, so intellektuell sie auch sein mögen, können das niemals vollbringen. Daher ist moderne Lyrik für mich KEINE Lyrik. Was mich ärgert, sind nicht die Werke der Moderne, die kann ich ja ignorieren, sondern ihre freche Einordnung unter dem Begriff Lyrik.

Wie das 3. Beispiel (von Herrn Ball), das Sufnus anführt: Fantasiesprache, Kindergelalle, onomatopoetischer Dadaismus? Es könnte auch jeder andere beliebige Titel darüber stehen, es spielte keine Rolle. Nennte man es "Sprachliche Experimentalkunst", ich hätte kein Problem damit, ob ich es nun für Schwachsinn halte oder nicht. Aber sich dazu zu versteigen, es unter Lyrik einzureihen - das ist bestenfalls verärgernd.
Die Beispiele verärgern zudem durch das bewusste Weglassen von Großschreibung und/oder Satzzeichensetzung. Für mich eindeutige Indizien dafür, dass hier jemand seinen Texten mehr "künstlerische Anmutung und Bedeutung" zu verleihen versucht, indem er sie solcherart manieristisch vergeheimnisst.
Ich nenne solche Elaborate gern recht drastisch "Hirnwixerei" - weil sie genau das für mich sind. Das muss nicht unbedingt etwas Negatives sein, aber Lyrik ist es nach meinem Verständnis eben keine. Punkt.


Zur Geschichte:

Schrieben alle Dichter heute plötzlich wieder gereimt, es würde mE. rein gar nichts bringen, denn die Lyrik als Kunstform führt seit den Weltkriegen ein Schattendasein, abgehängt von modernen Massenmedien, die für bessere Unterhaltung sorgen als komplexe Sprachbasteleien.
Die Lyrik war groß, als es noch weder Radio, TV, Kino oder Internet gab, und Oper und Theater für viele zu teuer waren, um es sich oft leisten zu können. Damals musste man die Freizeit (Sport war noch nicht angesagt) mit irgendwas füllen, und nur Hausmusik oder Spaziergänge bei gutem Wetter war eben nicht alles. Damals las oder schrieb man Gedichte in weiten Kreisen, und keine Zeitung oder Gazette kam ohne mindestens eine ganze lyrische Seite aus.
Es ist natürlich nur meine ganz persönliche Meinung, aber ich glaube, dass die vor und um die Jahrhundertwende ihre Abwege beginnenden "modernen" Schreiber diese Breitenwirkung verscherzten, weil sie sich in solch verkopfte Sprachexperimente mit künstlerischem Anspruch verstiegen, dass ihnen die breite Masse der damaligen Leserschaft nicht weiter folgen konnte oder wollte. Die Greuel der Weltkriege taten ein Übriges dazu, die Gesellschaft zu "prosaisieren". Es gab Wichtigeres als Lyrik. Die Gedichte verschwanden aus den Medien, weil viele das "moderne Zeux" nicht nachempfinden oder verstehen konnten - oder weil, wie oben beschrieben, einfach das Herz nicht mehr angesprochen wurde. Hirnwixerei eben ...

Wer alte Werbetexte oder -filme kennt, weiß, dass bis zum 2. WK und eine kurze Weile danach kaum ein Spot ohne Reim auskam. Viele waren sogar NUR in Reimform abgefasst. Aber plötzlich galt das als altbacken und verpönt. Es war ohnehin ein Fehler und vielleicht der letzte Sargnagel der Reimkunst: Werbung ist eine Lüge, eingehend verpackt. Aber wenn Lyrik lügt, verrät sie sich selbst. Die Menschen nahmen das unterbewusst durchaus wahr. So lustig und eingängig ein Werbereim auch sein mochte - man erkannte die manipulative Absicht dahinter. Man hat etwas Edles wie die Reimkunst missbraucht, um mehr Zigaretten oder was auch immer zu verkaufen, und das obendrein oft in armseliger Qualität, verglichen mit dem Schaffen wirklicher Dichter! Auch das hat viel verdorben und führte dazu, dass man Gereimtes nicht mehr ernst nahm. Nur wenige setzten noch lange weiterhin darauf, wie ZB Asbach Uralt ... (Wer kennt's noch?)

Aber warum ist ein Kinderbuch wie der Struwwelpeter noch heute ein gefragter Klassiker? Warum lesen so viele noch immer Wilhelm Busch, und nicht unbedingt nur Max und Moritz? Reime, so simpel sie für die Ansprüche kleiner Geister auch sein mögen, gehören zu unseren frühesten kindlichen Erinnerungen - und das aus gutem Grund!
Sind sie wohlgefertigt, sprechen gute Gedichte etwas in uns an, etwas Musikalisches, aber auch noch tiefer Liegendes - Basisemotion, innerster Kern. Einfach, aber mächtig. Reime sind Magie. Sie versöhnen Bewusstes und Un(ter)bewusstes in einem einzigen melodischen Gedanken. Das greift in die Saiten der Seele (oder des Bewusstseins für jene, die mit Seele nix am Hut haben ...) und lässt sie mitschwingen! DAS ist Lyrik!


LG, eKy
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: hans beislschmidt am Mai 13, 2020, 09:13:00
Lyrik war und ist Ausdruck von Klangmelodie, da kann man Jandl noch so oft durch den Wolf drehen- es wird kein Gedicht draus. Und wieso dieses Nischendasein? Lyrik ist heute präsenter denn je, als Rap, als Liedermachertext, als Schlagertext, als Poetry Slam, nur eben in einem neuen Gewand. Es zeigt jedoch, dass das Ohr auf Sprachmelodie geeicht ist und sei es nur am Beispiel von Helene Fischer. Es zeigt, dass Prosodie, gerade in Verbindung von Musik kognitiv anders verankert ist als formale Sprache, denn die Musik sitzt im Gegensatz zur Sprache in der viel älteren Gehirnrinde, im Gegensatz zur reinen Sprache, die im Kleinhirn verortet ist. Menschen haben viel früher Musik gemacht, als sie Sprache entwickelt haben. Das ist das Geheimnis der frühkindlichen la la la und der Struwelpetersymbolik, die genau darauf beruht. Lyrische Sprache ist nicht nur Bestandteil von tiefer Emotionalität, sondern sie findet sich auch rudimentär in Sprechchören bei Demonstrationen und Fußballstadien  (nieder mit dem Bayernpack) wieder und erfüllt eine politische Standortbestimmung. Lyrik in der Musik spaltet die Gesellschaft, weil sie die Positionen manifestiert und kann sogar zu Kündigungen bei RTL führen. Moderne Lyrik kann das nie, bestenfalls hat Günter Grass es mit seinem "Was zu sagen wäre" einmal geschafft. Aktuelles Beispiel ist Xavier Naidoo, der eine Lawine losgetreten hat mit einem simplen Song. Ohne Wertung möchte ich anhand dieses Textes aufzeigen, wie brisant so eine "Kiste" werden kann, fast so wie "Winds of Change" von den Skorps. Gruß vom Hans

Ihr seid verloren.

Text auf meinem Blog
https://beisl55.blogspot.com/2020/05/ihr-seid-verloren.html
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Eisenvorhang am Mai 13, 2020, 09:26:47
Was ich noch hinzufügen möchte, was für mich sehr interessant war und ist.
Ich hatte damals eine Teilzeitstelle bei einem Professor der forensische und psychologische Gutachten tätigte.
Nebenbei führt er ein Zentrum für Jugendliche, die ein Grenzgängerdasein fristen: Borderline, Autismus, Depressionen, ADHS, Lernschwächen und so weiter.
Die damaligen Patienten hatten in den seltensten Fällen Kontakt zu Literatur, Kunst oder Musik. Sie waren oft Kinder des Missbrauchs, Kinder von Hartz4 Familien, Kinder von abhängigen Eltern, eine endlos lange Liste. Damals fertigte der Prof. eine kleine Studie an, in der er herausfinden wollte, welcher Kanal für belastete Kinder der beliebteste war, ohne sie beeinflusst zu haben.
Die Kinder hatten aus allen Möglichkeiten die Wahl.

Nun dürft ihr raten, was es war. 80 Prozent der jugendlichen griffen freiwillig zur Sprache / Lyrik, wenn es darum ging ein Ventil zu haben und sich auszudrücken.
Ich hatte damals Kontakt zu einer 17 Jährigen Jugendlichen mit hoch-funktionellem Autismus, die eigentlich mit keinem sprach, nicht weil sie mutistisch war, sondern weil sie die allgemeine Kommunikation zur Rasse Mensch verweigerte.
Irgendwann steckte sie mir einen kleinen Zettel mit einem Gedicht zu, welches mich heute noch extrem berührt. Sie hatte keinerlei Bezug zur Lyrik, auch keine Affinität zur Sprache allgemein.

Das Gedicht habe ich noch, ich teile es mit euch!

Der Autisten Vater

Ich sitze hier bei mir daheim
doch einladen darf ich keinen,
drum bin ich allein.

Ich habe meine Ausbildung verloren
darüber bin ich nicht heiter,
drum mache ich mit der Autismusgeschichte,
wie immer einfach weiter.

Gläser überseh ich zum Beispiel
mal beim Aufräumen am Tag,
was mein Vater als Autismus deuten mag.

Meine Kommunikation
ist jetzt auch gestört,
weil ihm nur das interessiert was er hört.

Und komm ich mit so manch
naturwissenschaftlichen Sachen,
dann kriegt er nur das große Lachen.

Gefühle hätt ich keine und doch spüre ich die Wut,
weil das, was er mit mir macht,
mir unendlich weh tut.
 
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 13, 2020, 15:24:56
Ich bin ganz glücklich, dass sich zu diesem Thema ein vielstimmiger Chor herausbildet. :)
Wenn ich Eure Thesen etwas versuche, unter einen Hut zu packen (korrigiert mich, wenn ich dabei falsch liege), dann wären für eKy, EV, Martin und auch Hans bei dem Begriff "Lyrik" Aspekte wie Sanglichkeit oder Melodiosität, also sprachliche Musikalität im weitesten Sinne, zentral.
Ein Text, bei dem es sich um "Lyrik" handelt, müsste nach diesem Verständnis mit besonderen Klangstrukturen, einem gewissen melodischen Sprachfluss, einer irgendwie "fühlbaren" inneren Struktur aufwarten.
Und die klassischen Mittel, um diese Ziele zu erreichen, wären für Euch a) die Verwendung von Reim und/oder b) der Gebrauch einer mehr oder weniger regelhaften, "gebundenen Sprache", die also einigermaßen definierte metrische "Versfüße" (Jambus & co.) erkennen lässt.
Hans würde dabei, wenn ich das richtig verstehe, Lyrik und Gedichte weitgehend gleichsetzen, weshalb Jandls schtzngrmm, dem es sowohl an Reim als auch an Metrum mangelt, für Hans nicht nur keine Lyrik, sondern auch kein Gedicht ist.
Bei Euch anderen bin ich etwas unsicher, ob Ihr zwischen Lyrik und Gedichten für Euch noch einmal differenziert. (An dieser Stelle übrigens meine glücksbeseelte Reverenz an eKy, der den Text von Jandl hier als Beispiel aufgeführt hat - es ist von diesem (wie ich finde hochbedeutenden) Dichter einer der Texte, den ich am meisten bewundere! :) )
Weitgehend einig seid Ihr Euch auch bei dem Begriff Poesie, der für Euch ein anrührendes, auf die Gefühlsebene zielendes Element beinhaltet. Ein formsicher gebauter, gereimter Text, könnte demzufolge unter den Begriff Lyrik fallen, aber dennoch nicht sehr poetisch sein, wenn er Euch nicht "ergreift" (eine klassische Lyrik-Anthologie der frühen 1950er Jahre hieß "ergriffenes Dasein").
Auf meine Fragen A und B zu "moderner Lyrik" ist jetzt nur Martin direkt eingegangen, aber er würde, wenn ich das richtig verstehe, sagen, dass "moderne Lyrik" ein Widerspruch in sich selbst ist und so eigentlich nicht existiert, der Begriff also allenfalls als Sammelbezeichnung für aktuellen "Unrat" taugt. Wobei er noch einmal betont, dass Reim für Lyrik (mit wenigen Ausnahmen) ein für ihn ganz essentielles Element darstellt.
Und Martin und eKy dürften darin übereinstimmen, dass es sich bei einem (gut gemachten) Sonett ganz unbedingt um hochrangige Lyrik handelt, ein solcher Text aber per definitionem keine "moderne Lyrik" sein kann. Hier nähert sich eKy auch Martins Definition von "moderner Lyrik" als einem "Unrat" an.
Ich glaube diese begrifflichen Klarstellungen sind wichtig, wenn wir über die Frage diskutieren wollen, ob es im 21. Jahrhundert überhaupt noch "neue Lyrik" geben kann und wie diese aussehen könnte.
Ihr habt natürlich noch viel mehr wichtige Aspekte aufgebracht, aber ich glaube mein zunächst einmal um eine gewisse semantische Basis bemühte Text ist langsam lang genug... also lieber später mehr... ;)
LG!!!
S.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 13, 2020, 15:33:57
Und ein kleiner Nachtrag noch zum Textbeispiel von Hans: Es handelt sich bei diesem Text und dem zugehörigen Sänger um Beispiele dafür, wie Widerspruchsgeist und Streitlust (eigentlich nicht ganz unsympathische Eigenschaften) zu geistiger Brandstiftung verführen können. Ich wäre nicht glücklich, die rassistischen Tendenzen von Xavier Naidoo in diesem Thread hier zu diskutieren, da das mit dem Thema dieses Threads, der Lyrik, offenkundig überhaupt nichts zu tun hat.
Hierfür können wir aber natürlich gerne einen eigenen Faden aufmachen, in dem es dann um Ressentiments gegenüber "Fremden" geht und die Frage, wie hiermit verknüpfte gesellschaftliche Konflikte angesprochen und ausgetragen werden sollten. Wenn Ihr wollt, mach ich den Faden gerne auf, da hätte ich sicher auch Beiträge zu liefern...

EDIT: Ich mach einfach mal... sonst wirkt es so, als wollte ich Hans Beitrag einfach abwürgen... allerdings würde ich Dir empfehlen, Hans, den Originaltext von Naidoo nicht wörtlich zu zitieren, um Dich nicht in Urheberrechtsdiskussionen zu verstricken... ich würde einfach per Link auf diesen Text referieren. :)
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: hans beislschmidt am Mai 13, 2020, 15:53:04
Hi Suf, das wäre keine gute Idee, Xavier Naidoo - den Song, das spalterische Ergebnis, der Shitstorm, der Rausschmiss beim Sender usw usw  zu diskutieren. Mir ging es nur darum ein Beispiel zu geben, was aktuell ein (Song) "Gedicht" auslösen kann.
Wertfrei habe ich wohlweislich gesagt. Lassen wir's dabei bewenden, ist besser so. Gruß vom Hans

Richtig Suf .... Den Songtext hab ich auf meinen Blog genommen, damit ist die Wiese entlastet.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 13, 2020, 16:05:41
Hi Hans!

Der Text "Ihr seid verloren" ist aber von dir, und er ist genau die Art von undifferenzierender Hass- und Angstkotze, die ich so zutiefst verachte. Aufruf zur modernen Bartholomäusnacht! Lebt in Furcht, alle die ihr hierzulande dunkles Haar und dunkle Augen habt und auf Teppichen betet! Was für ein ungerechtes Konzept ...

Ich weiß, dass du gute Seiten hast, aber diese Seite an dir werde ich niemals zu schätzen wissen, egal, wieviel Rechtfertigungslametta du drumherum rascheln lässt!  ::) :o :-\

LG, eKy
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: hans beislschmidt am Mai 13, 2020, 16:12:43
Hi Erich, ist nicht mein Text.
Nachzulesen hier ..... im Rolling Stone Artikel
https://www.rollingstone.de/xavier-naidoo-video-song-fluechtlinge-rechts-rassist-1917643/
Gruß vom Hans
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 13, 2020, 16:14:01
Na... jetzt bin ich schon tätig geworden, Hans. Habe Deine Bedenken schlicht zu spät gelesen... wir können den anderen Faden natürlich auch gleich wieder einschlafen lassen, aber ich hätte das Gefühl gehabt, dass dann eine Diskussion abgewürgt wird, an der Dir vielleicht liegt.
Und @eKy: Der Text ist nicht von Hans sondern von Xavier Naidoo... den wirst Du bestimmt nicht kennen  ;), er ist viel jünger als Rilke  ;D Und in dem Fall würde ich Dir auch zustimmen, dass Nichtkennen hier im Sinne geistiger Entlastung etwas sehr positives ist. :)

EDIT: Jetzt kam mir Hans schon wieder zuvor... wie dem auch sei.. wenn wir den Text diskutieren wollen, vielleicht lieber hier: http://www.dielyrik-wiese.de/lyrik-wiese/index.php?topic=7958.0
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 13, 2020, 16:24:34
Hi Hans!

Ich entschuldige mich - alles klar, es ist der Naidoo-Text. Ich fand ihn über deinen Link in deinem Blog und nahm an, er wäre deshalb von dir.

 ;) Aber das kommt davon, dass du selbst durchaus ähnliche Texte verfasst hast, oder? Sonst hätte ich derlei nie gemutmaßt. Denk mal drüber nach! Und wenn du ihn in deinen Blog stellst, scheinst du ja inhaltlich damit übereinzustimmen - ich las jedenfalls nichts darunter von wegen: "He Leute, lest das! Das glaubt ihr nicht - was für eine hetzerische Scheiße von X. Naidoo!" - Da steht nicht mal irgendwo dabei, von wem genau der Text ist ...


Zu Xavier Naidoo:

Tolle Haltung für jemanden, dessen Name ausgerechnet SOOOO urgermanisch rüberkommt ...  ::)

Ich bin erschüttert über diesen oberflächlich seichten, aggressiv verallgemeinernden und brandschürenden Text! Das letzte, was ich von diesem Typen wusste, war sein Religionstick - all die gottverehrenden Lieder, der ganze Schmus, schon von daher nicht meine Musik. Dass er jetzt ins erzkonservative Menschenfeindelager gewechselt hat, beweist die tiefe Unsicherheit und geistige Labilität solcher Gottestrottel ... - Moral ist offenbar, was gerade angesagt erscheint ...
Ich frage mich, wie er so eine Haltung mit seinem ganzen Nächstenliebe-Gejodel aus früheren Songs in Einklang bringt! Wahrscheinlich gilt das nur für andere brave Christenmenschen ...  ::)

Ich klatsch mir an den Kopf! Was für ein Schwachmat!

LG, eKy
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: hans beislschmidt am Mai 13, 2020, 16:37:50
Hi Erich,
Jaaaa, Werbetexte....
Wenn einem soviel Gutes widerfährt,
Ist das einen Asbach Uralt wert.
 ;D ;D ;D Gruß vom Hans
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 13, 2020, 16:49:13
Hi Hans!

Der genaue Wortlaut ist:

"Wenn einem so viel Gutes widerfährt,
dann ist das einen Asbach-Uralt wert."

Um ehrlich zu sein, ich hab das Zeug nie gekostet - schmeckt sehr wahrscheinlich so grauenhaft wie jede Form von Alkohol, zumindest für mich. Aber als Kind hat sich dieser Spruch unauslöschbar in mich eingeprägt, vor allem dank der sonoren, zutiefst feierlichen, emotionalen Herrenstimme, die da sprach.
Genau diese unauslöschliche Einprägung wie in den tiefsten Wesenskern beweist die Macht von gereimter Lyrik: Es sind im Grunde Zaubersprüche ...  ;)

Ich finde es höchst bedauerlich und arrogant, dass sich die Dichter um einer avantgardistischen "Moderne" willen davon losgesagt haben. Warum? Weil ihnen sonst nichts mehr einfiel, um sich abzuheben, etwas Neues zu generieren, um im Gespräch zu bleiben an ihrer jämmerlichen kleinen Avantgardefront. Klüngelgekleister, verklebter Zeitgeist, holperndes Possenspiel, ein hampelnd um erlechzte Bedeutung strampelnder Zerrbildschatten einstiger wahrer Tiefe!

So, das saß!  ;) ;D 8)

LG, eKy
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: hans beislschmidt am Mai 13, 2020, 19:13:51
Hi Erich, richtig ist, dass ich das Werk gerade vorhin auf meinen Blog stellte, um urheberische Differenzen hier auf der Wiese zu vermeiden und nicht weil ich mich damit identifiziere. So schlecht ist meine Metrik wirklich nicht.  ; ;D . Du urteilst ein bißchen vorschnell. Gruß vom Hans

Zitat
Denk mal drüber nach! Und wenn du ihn in deinen Blog stellst, scheinst du ja inhaltlich damit übereinzustimmen
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 13, 2020, 23:07:46
Hi Hans!

Ist ja gut, ist ja gut. Ich nehme alles zurück.

Aber klär das mal ganz schnell in deinem Blog, ehe andere Leser dort denken, was sie nicht sollen. Es sollte dort dabeistehen, von wem der Text ist, und was du davon hältst.

LG, eKy
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: AlteLyrikerin am Mai 25, 2020, 14:24:03
Eisenvorhang schrieb:
Zitat
Ich kenne kein modernes Gedicht, was das bisher bei mir erwirken konnte.
und meinte damit das innere tief emotional berührt werden.Ich schlage vor, als kleinen Beitrag zu diesem Faden, die Gedichte von Hilde Domin zu lesen und zu bedenken. Für mich sind sie der Inbegriff für eine hochwirksame Lyrik ohne Reim aber mit ungeheuer starken Metaphern. Ich denke da u.a. an das Gedicht "Wen es trifft".
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 26, 2020, 11:11:56
Hi!

Vielen lieben Dank, gute AL, dass Du diesem Thread Deine Gedanken leihst! :)

Ich glaube, Du greifst einen wirklich wichtigen kritischen Gedanken von EV zu reimloser und metrisch ungebundener, "moderner Lyrik" auf (ich gebrauche den Begriff "moderne Lyrik" mal noch, bis wir eine Bessere Bezeichnung gefunden haben, Martin und eky haben ja erklärt, dass für sie dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt).

Jedenfalls hat EV darauf hingewiesen, dass für ihn die Verwendung von Reim ganz wesentlich ist, um eine emotionale Berührtheit herzustellen. Reimlose, "moderne Lyrik" wäre demnach tendenziell immer eher "verkopft" (da spricht eKy dann von Hirnwixerei  ;) ) und hätte nicht diese emotionale Unmittelbarkeit, die ein (gut gemachter) gereimter Text erzeugen kann.

Du widersprichst nun, liebe AL, und führst als Beispiel das Gedicht "Wen es trifft" von Hilde Domin auf. Ob dieses Beispiel nun als Beleg für die berührende Wirkung ungereimter Lyrik taugt oder nicht, ist natürlich wieder von Leser zu Leser sehr unterschiedlich, aber was ich wirklich eklatant fand, war die schiere Länge dieses Gedichts! Das gibt mir Gelegenheit einen wesentlichen Anspruch zu formulieren, den ich an Lyrik (und Gedichte - ich verwende die beiden Begriffe ziemlich synonym) stelle: Sie müssen (für mich - persönliche Meinung!) ziemlich kurz sein.

Einige meiner liebsten Gedichte (ob nun "modern" oder "traditionell") sind sogar ganz kurz, teilweise nur einstrophige Vierzeiler und ein Grund, warum ich Sonette so liebe, liegt in ihrer relativen Kürze. Gedichte, die den Rahmen einer üblichen Normseite sprengen, haben bei mir schon einen etwas schwereren Stand und alles, was den Umfang der zweiten Seite überragt, ist für mich fast sicher raus.... dass dieses private Kriterium durchaus anfechtbar ist, will ich natürlich nicht leugnen, aber ein bisschen liegt es sogar im Zug der Zeit... hier kommen mir die meisten modernen Gedichte eher entgegen, die auch häufig zu einer gewissen Knappheit neigen. Zwar ist das Langgedicht nie ausgestorben (der Begriff "Langgedicht" ist im Deutschen sogar ausgesprochen eng mit Diskussionen um "moderne Lyrik" verknüpft), aber in meiner Wahrnehmung hat mit dem Niedergang erzählender Lyrik ab dem Eingang des 20. Jahrhunderts die Bedeutung langer (willkürlich: bis 3-10 Normseiten) und überlanger (> 10 Normseiten) Gedichte abgenommen, auch wenn sich natürlich nach wie vor auch moderne Vertreter finden lassen (Maren Kames als wohl jüngste, bekannte Beiträgerin zu diesem Thema).

Ich glaube, ein langes Gedicht fühlt sich für mich in der Regel einengend an, es enthält fast immer "zu wenig weißen Rand", der mich dazu einlädt, die Bilder weiterzuträumen. Es geht mir also bei "kurzer Lyrik" nicht um Verdichtung (ein häufiges, aber m. E. falsches Wortspiel, Gedicht mit "dicht" zu verknüpfen), es geht mir um das Unausgesprochene, Unentwickelte, um das Fragmentarische im Gedicht. Darum liebe ich auch die Fragmente antiker Dichter so sehr, die ursprünglich sicher sorgfältig ausgearbeitete Verse waren, "bis zum Rand ausgemalt", und die sich nur durch die Verwitterung der Schriftrollen ins Fragmentarische gewandelt haben, nicht immer zu ihrem Nachteil! :)

LG!

S.

P.S.:

Ein ellenlanges Plädoyer für die Knappheit... ist es nicht ironisch... wir lieben immer das, was uns am meisten fehlt... O0
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: AlteLyrikerin am Mai 26, 2020, 12:59:51
Lieber Sufnus,

ja, sehr lange Gedichte sind ein Problem. Besonders dann, wenn sie es nicht schaffen, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten, so dass der Leser geradezu gefesselt weiterlesen mag. Bei "Wen es trifft" ging es mir so, dass ich beim ersten Lesen gar nicht aufhören konnte. Dieses Gedicht schafft es ja, gegen die Aussage von Adorno, nach Auschwitz sei keine Lyrik mehr möglich, in unerwarteten Bildern von dem zu sprechen, was geringer Begabte sprachlos zurück lässt.

Eigensinnig widerspreche ich der Aussage "berührende" Poesie erfordere den Reim. Als Beispiel möchte ich die erste Strophe eines kurzen Gedichtes von Hilde Domin zitieren.
Zitat
Aussaat

                                 In das Blumenbeet
                                 meiner Hüften
                                 will ich deine Augen säen
                                 ehe die goldenen Blätter fallen
                                 und uns zudecken.
Wenn diese Zeilen keinen Widerhall in einem Leser finden, liegt das nicht am fehlenden Reim.

Hier müssen wir auch auf die Rezeption eingehen, die ja auch literaturwissenschaftlich untersucht wird. Meine These hierzu ist. Der Leser schafft das Gedicht mit. Anders gesagt, es kann, und sei es auch ein Meisterwerk wie Rilkes Gedichte, nur dann wirken, wenn im Leser ein Resonanzraum vorhanden ist, der auf die verwendeten Stilmittel und Inhalte reagieren kann.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 26, 2020, 15:22:03
Hi AL!

Ich kann da nur entgegnen: Um wieviel noch ergreifender wäre dieses wunderschöne lyrische Bild wohl, hätte man es mit passenden Klangharmonien verbunden?  ;)

LG, eKy
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: AlteLyrikerin am Mai 26, 2020, 16:44:24
Da müssen wir, lieber Erich, unsere Differenzen wohl aushalten, denn das Diskutierte ist nichts, was man auf der faktischen Ebene ein für alle Mal klären könnte.
LG AlteLyrikerin.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Sufnus am Mai 26, 2020, 16:51:26
 :) Naja... aber klären lässt sich da schon eine ganze Menge! :) Natürlich nicht, wer "recht" hat und wer sich "irrt"... klaro... aber im Diskurs lernt jeder zunächst einmal seinen eigenen Standpunkt besser verstehen (das ist zumindest für mich gesprochen keine Selbstverständlichkeit... oft habe ich vor einer Diskussion noch gar keinen so richtigen Standpunkt) und als Dreingabe versteht man dann vielleicht auch noch die Poetologie der anderen Teilnehmer... ist doch fein sowas! :)
Ich würde - nur als Übung im ästhetischen Abgleich, nicht mit Missionierungsanspruch - zum Beispiel für mich sagen wollen, dass die beiden disktutierten Domin-Beispiele mich zwar sehr (sehr sehr sogar!) beeindruckt haben, aber nicht wirklich emotional berührt... hätte man bei mir beim Lesen dieser Zeilen irgendein fancy-funktionelles Kernspingedöns  veranstaltet, hätte man wahrscheinlich meine rationalen und analytischen Hirnareale (gibts die überhaupt?) aufleuchten sehen und weniger die emotionalen (gibts wahrscheinlich auch nicht... dann ist das jetzt eben metaphorisch gesprochen.. ;) )....
Es gibt aber sehr wohl ungereimte Gedichte, die mich emotional packen und berühren... ich werf mal Gelegenheit Beispiele in die Runde, dann kann AL kontern und fragen: "Was isn das für Käse?!"  ;D ;D ;D
LG!
S.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: AlteLyrikerin am Mai 26, 2020, 17:02:55
Na ja, mit Käse handele ich nicht, und mit wertenden Aussagen bin ich sehr vorsichtig geworden. Du hast Recht mit Deinen Bemerkungen über die Fruchtbarkeit eines Diskurses, wenn er ohne "Missionierungszwang" geführt werden darf.

Dass Dich die zitierten Beispiele von Hilde Domin sehr beeindruckt, aber nicht emotional berührt haben, ist für mich kein Hinweis, dass sie dich eher berührt hätten, wären die Verse gereimt gewesen. Gegen diese These opponiere ich ja.

Was Dich emotional berührt oder nicht hängt von unzählbaren Faktoren ab, u.a. von Deinen Erfahrungen, Prägungen, Erlebniswelten, …..
Das ist es ja, was ich mit dem Hinweis auf die Rolle des Rezipienten andeuten wollte. Wenn Verse auf nichts treffen, was im Leser mitschwingen kann, dann bleiben selbst Meisterwerke ohne Resonanz.

Liebe Grüße, AlteLyrikerin.
Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Eisenvorhang am Mai 26, 2020, 17:14:12
Ich glaube, es sind weniger die Reime, viel mehr der Charme der alten Sprache, die mich zu rühren wissen.
Aber auch die Ehrlichkeit und Herzlichkeit - in der zeitgenössischen Lyrik herrscht oft Gekünsteltsein.

In dem Faden werde ich die Tage Gedichte posten, die mir nahe gehen, welche aber ohne Reime auskommen.

Für mich persönlich ist der Widerspruch "moderne Lyrik" komprimiertes kreatives Schreiben.
Unter anderem gefallen mir auch Arbeiten von Marina Zwetajewa.

Das erste freiere Gedicht von Rilke in Reim und Metrum, den abstrakten Bruch stelle ich in kursiv dar, welchen ich als sehr interessant empfinde, aber kaum klanghaft:

Zwischen den Sternen, wie weit;
und doch, um wievieles noch weiter,
was man am Hiesigen lernt.
Einer, zum Beispiel, ein Kind...
und ein Nächster, ein Zweiter –,
o wie unfaßlich entfernt.
Schicksal, es mißt uns vielleicht
mit des Seienden Spanne,
daß es uns fremd erscheint;
denk, wieviel Spannen allein
vom Mädchen zum Manne,
wenn es ihn meidet und meint.
Alles ist weit –,
und nirgends schließt sich der Kreis.
Sieh in der Schüssel, auf heiter
bereitetem Tische,
seltsam der Fische Gesicht.
Fische sind stumm...,
meinte man einmal. Wer weiß?
Aber ist nicht am Ende ein Ort,
wo man das, was der Fische
Sprache wäre, ohne sie spricht.


Titel: Re: Probleme (mit) der (modernen) Lyrik
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 26, 2020, 18:29:07
Hi EV!

Bist du sicher, dass das ein gewollt reimloser Gedichtteil von Rilke ist, oder kann es sein, dass wir es hier mit einem seiner unfertigen Werke (Spätphase) zu tun haben? Er schrieb seine Werke oft erst mal so als Gedanken- und Sprachbildersammlung, um einen grundsätzlichen roten Faden zu entwerfen. Erst danach brachte er nach und nach alles in gereimte Form.
Ich halte es für möglich, dass dies eines seiner nie ganz Vollendeten ist, das nur teilweise endgefasst wurde, und im letzten Teil verblieb nur das Grundgerüst seiner Ideensammlung dafür.

LG, eKy