die Lyrik-Wiese
Blumenwiesen => Im Gras wispert Hoffnung => Thema gestartet von: Erich Kykal am Dezember 25, 2014, 11:48:58
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Du Augenblick, der mich aus Dingen formte,
die in dir waren, rings um mich herum,
der Menschen Dinge nicht, das Wohlgenormte,
und dienende Natur, bezähmt und stumm -
gedenken will ich deiner alle Tage!
Du Augenblick warst wild und ohne Zügel,
ein Wald der Märchen wie aus ferner Zeit,
ein Sturmgewitter über nacktem Hügel,
und wie erträumte Ozeane weit -
die Szenenbilder einer alten Sage!
Du Augenblick hast mich aus dir geboren,
in deinen Bildern ging ich einst einher,
und habe ich auch manche schon verloren,
verbraucht und trag an andern überschwer -
ich finde selten einen Grund zur Klage!
Du Augenblick behieltest meine Freude
und hegst sie still für jeden neuen Tag,
auf dass ich keinen Augenblick vergeude,
der nach dir ist und fürder kommen mag -
ein fester Stand, aus dem ich Leben wage!
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Hallo Erich,
schöne Danksagung an den geglückten Griff des Entstehungsmomentes in die Tasten der rauschhaften Akkorde, deren Nachlassen noch lange kein Verklingen bedeutet. Hier ist viel Kraft spürbar, und die strophenübergreifenden Reime im jeweils letzten Vers halten doch alles gut zusammen. Der Titel leuchtet mir nicht ganz ein und die Betonung des "und" in 1/4 (vor "stumm") macht mir Mühe.
Erfreut gelesen
LG gummibaum
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Hi, Gum!
Hier ist nicht der physische Entstehungsmoment gemeint, sondern quasi die Geburt eines neuen Bewusstseins aus einem Augenblick der Klarsicht heraus, der zu einer wesentlichen Veränderung führte.
Demgemäß der Titel. Übersetzt: "Offenbarung" (was hier allerdings nicht religiös gemeint ist - leider wird der Begriff meist sofort in dieser Richtung gedeutet!)
LG, eKy
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Ah, danke. Ich kannte nur die religiöse Bedeutung und habe so auch das Moment des Durchbruchs zu neuen Horizonten übersehen.
LG gummibaum
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Lieber Eky,
Für diesen so schönen und klaren Gedanken, der hinter diesem Gedicht steckt, hätte das Gedicht für meine Gefühl mehr sprachliche Schlichtheit vertragen.
Die Botschaft tut sich schwer aus dem etwas zu dichten Unterholz der Wortkunst emporzuwachsen und der Titel unterstreicht dies noch.
Lieben Gruß
charis
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Hi, Charis!
Zu meiner Entschuldigung: Ich hatte zuvor in meinem geliebten Rilke geschmökert - und wollte der Wortkunst einfach mal die Zügel schießen lassen, das Herz so übervoll der schönen Sprache! ;) :D
LG, eKy
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Zitat:
Zu meiner Entschuldigung: Ich hatte zuvor in meinem geliebten Rilke geschmökert - und wollte der Wortkunst einfach mal die Zügel schießen lassen, das Herz so übervoll der schönen Sprache!
Das ist Dir hervorragend gelungen - einfach berauschend!
Auch ich war irritiert vom Titel (Erscheinung), aber Deine Erklärung stellt mich zufrieden.
Hingerissenen Gruß
von
Cyparis
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Ei, vielen Dank, liebe Cyparis!
"Epiphanie" hat mehrere Bedeutungen, eine davon ist eben "Offenbarung". Die Bedeutung "Erscheinung" wird meist in religiösem Kontext strapaziert: "Erscheinung des Herrn". "Offenbarung" kann aber auch etwas anderes sein als eine Offenbarung des Glaubens - und genau sowas ist hier gemeint: ein tief empfundener Augenblick, der ein Leben ändert!
LG, eKy
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Ja, lieber Erich,
und ich verknüpfe gerne Beides miteinander -
denn die Erscheinung eines Regenbogens, Abendrotes, flammenden Ginsterbusches oder geliebten Gesichts (um nur einige zu nennen) kann für mich eine Offenbarung sein!
Wie ein Gedicht auch - ja, vor allem wie ein Gedicht.
Ganz ohne geistigen oder religiösen Hintergrund. :)
Lieben Gruß
von
Cyparis
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Moin moin Erich,
ein Gedicht, das zu Nachdenken zwingt, mit einer schönen Melodie.
Doch es fällt mir sehr schwer, die 1. Strophe flüssig zu lesen und auch bei der dritten werde ich aus dem Takt geworfen, da mich in beiden die vierte Zeile ins Stolpern bringt, zumal die Silbenzahl mich nicht glücklich macht.
S1/Z2-10 Silben
S1/Z4-11 Silben
S2/Z2-10 Silben
S2/Z4-10 Silben
S3/Z2-10 Silben
S3/Z4-08 Silben
S4/Z2-10 Silben
S4/Z4-10 Silben
Einen nachdenklichen Gruß
CB
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Hi, Curd!
Das Silbenschema in diesem Gedicht lautet für alle Strophen: 11 - 10 - 11 - 10 - 11
Das ergibt sich aus dem Wechsel von weiblichen und männlichen Kadenzen. Die Heberzahl beträgt immer 5.
Bei S3Z4 gebe ich dir recht - die Zeile hatte einen Heber zu wenig. Vielen Dank für den Hinweis! :)
LG, eKy
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Hallo Erich,
Dein Gedicht habe ich zwar inhaltlich noch nicht ganz erfasst; da muss ich es noch ein paar Mal lesen. Es scheint um dem Augenblick der Entstehung des Lebens, und zwar das des lyrischen Ichs zu gehen. Es könnte aber auch eine Art Neugeburt, ein sich Neuentdecken gemeint sein.
Die Sprache aber, die wirkt auch ohne den Inhalt. Mit einer erstaunlichen Routine schreibst Du Texte, die Rilke ohne Zögern auch in sein Repertoire übernommen hätte.
Interessant ist das Reimschema: In den letzten Versen wird immer der gleiche Reim verwendet.
Ich hab nun lang nichts mehr von Dir gelesen und ich muss sagen, Du hast nichts verlernt. Chapeau!
Alles Gute fürs neue Jahr!
Herzlichen Gruß!
Charly
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Hi, Charly!
Vielen Dank für das freundliche Lob! Ich las eben einen Text von dir und darf das Kompliment zurückgeben: Auch du hast nichts verlernt! Weiter so! :)
Zur Klärung des Inhaltes darf ich dich auf Antwort Nr. 7 verweisen - der Titel des Gedichtes weist schon darauf hin, worum es geht: Eine Art geistiger Wiedergeburt, die muss ja nicht unbedingt religiös motiviert sein. Ein einschneidendes Erlebnis bewegt zum Umdenken, zu einem neuen Kurs auf dem Lebensweg, vielleicht führt es sogar zu einem ganz anderen Charakter!
LG, eKy
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Hallo Erich,
den vorangegangenen Kommentaren möchte ich mich, soweit es um das Herausstreichen deines enormen Beherrschens der Wortkunst geht, voll und ganz anschließen.
Was Vers 4 in der ersten Strophe betrifft, muss ich wie gummibaum und Curd anmerken, dass ich hier ebenfalls ins Stocken gerate. Die Stelle "..., beruhigt und stumm -" liest sich einfach nicht so flüssig, wie man das von deinen Versen sonst gewöhnt ist.
Ansonsten natürlich wieder Lyrik vom Feinsten!
LG Daisy
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Hi, Daisy!
Okay - soll sein! Ich habe das "beruhigt" durch ein "bezähmt" ersetzt - hoffe, das passt besser. Hatte auch "gerahmt", "gefasst", "gepflügt" usw. im Angebot.
Seltsam - ich hatte bei "beruhigt und stumm" nie den Eindruck, es wäre nicht flüssig. Vielleicht liegt es daran, dass ich das "h" nicht spreche - das "u" geht bei mir direkt und rasch in ein "i" über, so wie wenn einer "Ui" sagt. Das "u" allerdings bekommt etwas mehr Betonung und wird einen Hauch länger gehalten.
Vielen Dank für das lyrische Dauerlob - immer wieder gern vernommen und verschämt verinnerlicht! ;) :) (Vor allem, wenn es von jemandem kommt, der sich in punkto lyrischer Präsenz sicher nicht weniger wacker schlägt!!!)
LG, eKy
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Hallo Erich,
den Wechsel zu "bezähmt" empfinde ich als wahren Gewinn, auch der Klang der aufeinanderfolgenden Vokale begünstigt nun das melodische Fließen dieser Zeile.
Da meine Aussprache stets "be-ru-higt" lautet, war dieser Teil des Verses für mich automatisch unrund. Außerdem gefiel mir auch das mehrmals aufeinanderfolgende "u" nicht so gut, aber jetzt ist es perfekt.
Es ist übrigens wahnsinnig nett von dir meine lyrische Präsenz so freundlich zu erwähnen, aber in dieser Hinsicht (ohne damit kokettieren zu wollen) weichen unsere Meinungen doch ziemlich voneinander ab. :)
Lieben Gruß - vielleicht bis demnächst mal? -
von
Daisy