die Lyrik-Wiese

Wiesengeschichten => Erzählungen von Tausend und einem Halm => Thema gestartet von: gummibaum am September 23, 2015, 17:11:56

Titel: Über Erna
Beitrag von: gummibaum am September 23, 2015, 17:11:56
Das Alter kommt in Schüben, sagt Erna. Eine Weile bleibt alles gut, dann wirst du plötzlich wieder schwächer. Jetzt, mit 89, steht sie an der Heizung und friert. Seit draußen Frost ist, wird ihr auch drinnen nicht mehr warm. Sie verachtet sich regelrecht dafür. Mit mir ist nichts mehr los, klagt sie.

Ich hätte damals vom Turm springen sollen. Aber als ich da oben stand, merkte ich, wie schwer es ist. Ich war zu feige. Und was hätten die Kinder von mir gedacht? Kein würdiges Beispiel!

Warum kann man nicht einfach tot umfallen? Schlecht eingerichtet ist das. Ich beneide meine Freundin. Es ging schnell und sie hat Ruhe.

Mit 55 hatte Erna doch noch den Führerschein gemacht. Da waren die Kinder endlich groß. Dann war sie oft verreist. Vieles nachholen. Menschen sehen, Kultur begreifen, Soziales. Erna regte sich heftig auf, wenn etwas wieder ungerecht zuging. Noch heute schreibt sie ihre Leserbriefe.

Aber jeden Tag wird ihr Gang jetzt unsicherer. Sie stützt sich auf, sucht wieder die Brille. Manchmal aber stellt sie noch den Stuhl auf den Tisch und steigt hoch, um die Gardine zurechtzuzupfen. Ich bin wieder gefallen, klagt sie.

In ein Altersheim gehen? Nein! Entschiedene Abwehr. Nur über Krankheit reden will ich nicht. Erna hat ihre Meinung. Ärzte taugen meist nicht viel. Schwiegertöchter sind schwierig. Und soziale Dienste, die für sie den Einkauf machten, hat sie gleich wieder abbestellt. Ich will keine fremden Leute im Haus, sagte sie.

Etwas schwerhörig wird sie. Als eines der Kinder, das sie besucht, darum laut zu ihr spricht, weint sie. Jetzt schreist du mich schon an, weil ich nicht mehr gleich verstehe.

Warum nur heute die Kinder nicht angerufen haben? Sie wissen doch, dass ich nicht schlafen kann und denke, sie sind im Verkehr verunglückt.


(aus dem Fundus)
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: cyparis am September 23, 2015, 19:59:30
Lieber gummibaum,


wie eindringlich hast Du beschrieben!
Ich sehe Erna vor mir, als stündich ich dabei.
Und wie erinnert mich das an meine Mutter, als sie auf die Neunzig zuging!
Heute ist sie achtundneunzig. Die Symptome haben sich verstärkt.
Aber sie besteht immer noch hartnäckig auf ihren eigenen Phantasien, die ihr alles mögliche vorgaukeln und wird sehr störrisch, wenn ich ihr nicht beipflichte.

Deine Schilderung ist eine Bereicherung für die Wiese.


Hab Dank und sei lieb gegrüßt
von
Cyparis
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: gummibaum am September 23, 2015, 21:53:11
Danke, cyparis. Da gibt wohl Ähnlichkeiten bei unseren Müttern.

Alles Liebe
gummibaum
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: Letreo71 am August 12, 2016, 08:24:21
Schlicht und ergreifend, mit sehr wenigen Worten, beeindruckend geschildert, lieber Gummibaum.
Wenn ich die Worte meines Schwiegervaters aufgeschrieben hätte, die er über seine Mutter, die 104 Jahre alt wurde erzählte, dann hätte das in etwa so geklungen.

Das hab ich ich sehr gern gelesen.

Liebe Grüße

Letreo
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: Erich Kykal am August 12, 2016, 12:23:24
Hi Gum!

Meine Mutter starb 2002 mit 84 an Lungenkrebs, aber bis kurz vor ihrem Tod war sie genauso. Noch nicht ganz so hinfällig vielleicht, außer in den letzten drei Monaten. Aber bis dahin unglaublich vital und agil, obwohl sie immer stark übergewichtig war. Eine rührige, stämmige kleine Person mit walkürenhafter Oberweite ...

(Mein Vater, dem ich körperlich überaus ähnlich bin, war die letzten sechs Jahre seines Lebens bettlägrig, wurde aber auch 84, trotz erschlafftem Dickdarm und schwerer Parkinson. Die eine Tante, Schwester des Vaters, hatte Brustkrebs, der operiert wurde und starb mit Demenz, allerdings mit über 90. Die andere Tante, Schwester der Mutter, wurde auch 84 und starb an Alzheimer.
Ich werde voraussichtlich nicht so alt.)

Wehmütig gelesen.

LG, eKy
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: a.c.larin am August 12, 2016, 20:05:00
hallo gummibaum,

ich hab zwar noch lange nicht ernas alter erreicht, kann aber dem ersten satz nur beipflichten : das alter kommt in schüben!
das kenne ich mittlerweile genauso. immer wiedermal eine kleine stufe zurück. ( wenn man glück hat, wenn man pech hat, steigt man nämlich gleich auf die rutschbahn.)
das ist, gewissermaßen, der umkehrschub der entwicklung: denn bis mitte vierzig gings immer wieder mal eine stufe voran.

ob mans zur kenntnis nehmen muss, weiß ich nicht. verhindern kann man es jedenfalls nicht.
erna könnte jeder von uns sein: wer will schon sein leben einfach nur aufgeben und alles den anderen zur bestimmung überlassen?
also erträgt man stoisch, was es zu ertragen gibt.

abschiede sind es allemal, größere und kleinere.
man sollte sich angewöhnen, nichts bestimmtes mehr zu wollen und sich über x-beliebiges freuen zu können.
dann hat man es etwas leichter.

carpe diem!

lg, larin

Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: gummibaum am September 04, 2019, 00:36:32
Liebe Letreo, lieber Erich, liebe larin,

ein sehr später Dank an euch.

Liebe Grüße
gummibaum
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: Sufnus am September 04, 2019, 12:21:40
Lieber gum,
offenbar hat Deine Mutter Pate für diesen Text gestanden?
Vielleicht hatte sie gestern Geburtstag?
Auch ich kann sie vor mir sehen.
Lg,
S.
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: gummibaum am September 05, 2019, 00:32:18
Danke, lieber Sufnus. Meine Mutter war Sternzeichen Löwe.

LG g
Titel: Re: Über Erna
Beitrag von: Sufnus am September 05, 2019, 11:27:36
Der Text ist ein wirklich schönes Angedenken an Deine Mutter, lieber gum.
Viele Grüße,
S.