die Lyrik-Wiese

Blumenwiesen => Verbrannte Erde => Thema gestartet von: Erich Kykal am Dezember 31, 2016, 11:30:44

Titel: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Dezember 31, 2016, 11:30:44
Ungeteilter Schmerz ...

Er saß am Tische wie ein Ausgebrannter,
der, aus Erbarmen in das Haus gebeten
aus kalten Stürmen, welche draußen wehten,
nicht wärmer wurde und dem Raum verwandter.

Und in den Augen, die sich selten regten,
verglommen Stunden ohne Halt und Wesen,
und wer versuchte, ihren Blick zu lesen,
erkannte nur, dass sie sich kaum bewegten.

So saß er und versickerte in Schweigen,
das ihn wie kalter Stacheldraht umhüllte,
und keiner Seele konnte er sich zeigen.

Man ließ ihn endlich los, sich andern Zielen,
nach deren Auswahl man das Leben füllte,
zu widmen, wo sie trefflicher gefielen.


… und was er uns antut

Er saß am Tische in versteinter Stille
und wusste anderen die Schuld zu geben
für alle Leiden, das verpfuschte Leben,
und rachelüstern brodelte sein Wille.

Wie grimmig würde er sie büßen lassen
für jedes Wort, das ihm Respekt versagte
und seine Würde zu verspotten wagte;
all jene, die er abgrundtief zu hassen

in Jahren lernte, da sie nie verstanden,
in wessen Gegenwart sie sich befanden,
und seine wahre Größe nie begriffen!

Den Rammsporn der Vergeltung angeschliffen
kam seinem Lebensboot der Kurs abhanden
im Sturm des Zornes über Dünkels Riffen.
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Curd Belesos am Januar 31, 2017, 23:35:51
moin moin Erich,

Zitat
Wie grimmig würde er sie büßen lassen
für jedes Wort, das ihm Respekt versagte
und seine Würde zu verspotten wagte;
all jene, die er abgrundtief zu hassen

in Jahren lernte, da sie nie verstanden,
in wessen Gegenwart sie sich befanden,
und seine wahre Größe nie begriffen!

ist für mich aktueller denn je, denn ich denke dabei an Donald und auch an Erdogan und erspare mir weitere Gedanken dazu. :-X

Sehr gerne gelesen

LG
CB
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Januar 31, 2017, 23:47:48
Hi Curd!

Ja, die Türkei hat wieder einen Sultan, Russland wieder einen Zaren - nur Amerika hat jetzt ein Trumpeltier ...  ;D >:D ::)

Hitler, Stalin oder Mao zeigen die schlimmstmöglichen Auswüchse dieses Menschentyps! (Grusel!)

LG, eKy
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: cyparis am Februar 03, 2017, 19:41:03
Lieber Erich,

ich hatte Winnenden vor Augen, jeder Vers schien mir das zu bestätigen.
Wenn es anders gemeint ist, ist es nicht wniger beeindruckend.
Die lapidaren Verse lassen kein Mitleid mit diesen (eingebildeten) Zukurzgekommenen aufkommen.

Erst nach Curds Kommentar sah ich die politischen Aspekte.
Vielleicht trage ich Scheuklappen.

Wie immer von bewährter Qualität!

Lieben Gruß
von
Cyparis



Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Februar 03, 2017, 21:06:32
Hi Cypi!

Nein, du hast genauso recht! Jeder "Amokläufer" ist gemeint, ob ein Machtbesessener mit politischem Kalkül oder einer wie in Winnenden, der nur einmal wild um sich schlagen möchte, ehe er abtritt - erweiterter Suizid nennt man das heutzutage.

Auch deine Deutung ist also korrekt.

LG, eKy
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Curd Belesos am Februar 03, 2017, 23:23:39
Amerika hat jetzt ein Trumpeltier

hoffentlich kauft das Trumpeltier nicht die Wiese auf um uns mundtot zu machen, der freien Presse hat er das ja schon angekündigt :o

Ich fürchte mich auf meine alten Tage zwar nicht, aber was habe ich meinen Kindern und Enkeln für eine Welt hinterlassen. Gekämpft gegen Strauß, als er Augstein verhaften ließ, demonstriert gegen Höcherl, dessen Mitarbeiter nicht mit dem Grundgesetz unter dem Arm rumliefen.............APO......ich friesele, wenn ich an die Zukunft denke.
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: cyparis am Februar 05, 2017, 19:43:45
Auch mich fröstelt es, obwohl ich keine Kinder habe.
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Curd Belesos am Februar 05, 2017, 22:22:59
Auch mich fröstelt es, obwohl ich keine Kinder habe.

Ach, du liebe Cyparis, dafür hast du aber ein gutes Herz und sorgst dich genauso um das Wohl folgender Generationen  :-*

LG
CB
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: cyparis am Februar 13, 2017, 11:15:54
Erwärmende und tröstliche Zeile, lieber Curd!

Dankeschön
sagt
Cyparis
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am April 30, 2020, 20:53:46
Huch, da hatte Curd ja noch einiges zu sagen, was mir damals wohl entging.

Mit Trump und Konsorten ärgern wir uns immer noch, da ist nix besser geworden.
Amokläufer gibt es nach wie vor - verbogene Jämmerlinge in beleidigter Selbstzerfleischung, die sich so wenigstens in einem gewalttätigen Abgang so was wie Bedeutung zueignen wollen.

Und mittlerweile denke ich, dieses Gedicht würde größtenteils auch gut auf islamistische Attentäter passen - deren brütender Hass auf alles nicht Koranfähige passt gut zum Bild der Amokläufer.

Vielen Dank für die späten Kommentare!  :)


PS: Liebe Cypi - dieses Forum ist dein Kind, und es ist wohl geraten!  :) Wir ziehen es in Demut groß ...
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Eisenvorhang am April 30, 2020, 21:19:12
Oh, sehr schön geschrieben, vor allem kommt gut Trübnis und die Seelenödnis rüber!

Darf ich Gedanken äußern und etwas empfehlen?

So saß er und versickerte in Schweigen

Er saß, war stumm, versickerte in Schweigen.


Auf diese Weise ersparst du dir das Füllwort und steigerst die drückende Stille!

Und der verlorengegangene Vers in der Mitte... Schreib doch einfach ein weiteres Terzett und stell das zweite Sonett aufm Kopp. So erhältst du die Form einer Sanduhr (Tickende Zeitbombe)
UND das Sonett erhielte dadurch eine völlig andere Wirkung!

Er saß am Tische wie ein Ausgebrannter,
der, aus Erbarmen in das Haus gebeten
aus kalten Stürmen, welche draußen wehten,
nicht wärmer wurde und dem Raum verwandter.

Und in den Augen, die sich selten regten,
verglommen Stunden ohne Halt und Wesen,
und wer versuchte, ihren Blick zu lesen,
erkannte nur, dass sie sich kaum bewegten.

So saß er und versickerte in Schweigen,
das ihn wie kalter Stacheldraht umhüllte,
und keiner Seele konnte er sich zeigen.

Man ließ ihn endlich los, sich andern Zielen,
nach deren Auswahl man das Leben füllte,
zu widmen, wo sie trefflicher gefielen.

[Terzett drei]

Den Rammsporn der Vergeltung angeschliffen
kam seinem Lebensboot der Kurs abhanden
im Sturm des Zornes über Dünkels Riffen,

in Jahren lernte, da sie nie verstanden,
in wessen Gegenwart sie sich befanden,
und seine wahre Größe nie begriffen!

Wie grimmig würde er sie büßen lassen
für jedes Wort, das ihm Respekt versagte
und seine Würde zu verspotten wagte;
all jene, die er abgrundtief zu hassen.

Er saß am Tische in versteinter Stille
und wusste anderen die Schuld zu geben
für alle Leiden, das verpfuschte Leben,
und rachelüstern brodelte sein Wille.

Ich bin ein Spielkind lieber Erich!  :D :-[
Aber der letzte Vers eignet sich perfekt als letzte Zeile  O0

Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 01, 2020, 00:55:03
Hi EV!

Danke für die Vorschläge, die mir gut gefallen. Leider ist das Buch, in dem dieses Werk auch zu lesen sein wird, gerade schon im Druck, da ändert sich jetzt nichts mehr, sorry.

Und hierzu:

So saß er und versickerte in Schweigen

Er saß, war stumm, versickerte in Schweigen.

Sag dir mal beide Sätze laut vor, dann wirst du feststellen, um wieviel abgehackter, ruheloser deine Version mit zwei Kommas die Sprachmelodie der Zeile macht. Ich bemühe mich immer, die Sprache obstruktionsfrei fließen zu lassen, da darf dann auch ruhig mal ein Füllwort dabei sein ...  ;)

LG, eKy
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Eisenvorhang am Mai 01, 2020, 07:07:31
Durch die Kommata entstehen tatsächlich Zäsuren, da muss ich dir zustimmen!

Etwas Informatives! Darauf stieß ich gestern, für alle, die denken, dass die Lyrik "tot" sei:
https://www.bento.de/gefuehle/instapoetry-warum-auf-instagram-jetzt-gedichte-ganz-gross-sind-a-570d093c-4f8f-48f6-b356-5ccab2d44969

Ich glaube, minimal-innerliche Ich-Lyrik ist hoch im Kurs. Das wird auch der Grund sein, warum Laie nicht mehr in den Foren ist.
https://www.instagram.com/sebastianschmausser/?hl=de

vlg

EV
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 01, 2020, 13:22:22
Schön zu sehen, dass Laie weiter tätig ist. Leider nicht hier, vielleicht gab es ihm bei uns nicht genügend Leser ...

Mir bringt das nichts, da ich mir schon vor vielen Jahren geschworen habe, dass man mich auf diesen Seiten der Oberflächlichkeit und der Missgunst nie finden würde, als da wären: Facebook, Twitter und Konsorten. Ich schätze mal, Instagram gehört (abgesehen von wenigen Ausnahmen wie eben Laie) auch in diese Kategorie ...

LG, eKy
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Curd Belesos am Mai 12, 2020, 01:13:59
Hi EV!

Danke für die Vorschläge, die mir gut gefallen. Leider ist das Buch, in dem dieses Werk auch zu lesen sein wird, gerade schon im Druck, da ändert sich jetzt nichts mehr, sorry.

Und hierzu:

So saß er und versickerte in Schweigen

Er saß, war stumm, versickerte in Schweigen.

Sag dir mal beide Sätze laut vor, dann wirst du feststellen, um wieviel abgehackter, ruheloser deine Version mit zwei Kommas die Sprachmelodie der Zeile macht. Ich bemühe mich immer, die Sprache obstruktionsfrei fließen zu lassen, da darf dann auch ruhig mal ein Füllwort dabei sein ...  ;)

LG, eKy

Moin,

Wasser versickert im Sand.
Doch:
Menschen versinken in Schweigen, meine ich.  >:D
Also:
So saß er stumm, versank in tiefes Schweigen

Nächtlichen Gruß aus der Quarantäne
von Curd
 8)
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Agneta am Mai 18, 2020, 19:47:49
ich würde da nicht nur einen Amokläufer sehen, lieber Erich. Sondern auch einen Menschen, der Schlimmes in Jugend und Kindheit erlebt hat. Traumata hat, sich abkapselte. Das In sich Versteinertsein, die Hilflosigkeit ( verglommen Stunden ohne Halt und Wesen)spiegelt sich in dem ersten Sonett, was mir poetisch stärker scheint. Was unheimlich berührt.
Das Zweite gehört jedoch unbedingt dazu, falls man es nur auf den Amokläufer münzen will. Ich denke jedoch, es passt ach auf eine bestimmte Sorte Gewalttäter, Mörder...
Stark geschrieben. LG von Agneta
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 19, 2020, 00:43:08
Hi Agneta!

Warum wir zu Gewalttätern werden bis hin zum erweiterten Siuzid, mag viele Auslöser haben. Mir ging es darum, den Moment einzufangen, wenn aus Depression, Leid und Selbstversunkenheit der Wille gerinnt, Rache zu üben oder sich mittels Aggression Gehör oder einfach nur Luft zu verschaffen.
Wenn jemand, der ein Opfer ist oder war - oder ein Opfer zu sein glaubt, weil er selbst sich dazu stilisiert hat - sich entschließt, zum Täter zu werden.

Viele von jenen differenzieren dann nicht mehr zwischen Schuldigen und Unschuldigen - es geht nur noch darum, wie im Rausch zu töten, all den angestauten Hass, die bodenlose Wut, den brennenden Zorn mittels Gewalttat in alle Welt hinauszuschreien.

Aber Achtung: Es besteht ein gravierender Unterschied zu religiösen oder politischen Selbstmordattentätern. Diese töten so viele wie möglich und zuletzt sich selbst aus einem strategischen Kalkül heraus, das andere ihnen andressiert haben.


Der Amokläufer hat keine Botschaft außer die des eigenen Schmerzes und/oder Hasses. Sie mögen schon jahrelang davor daran gedacht und es im Geiste immer wieder durchgespielt haben, um sich so seelische Erleichterung zu verschaffen, aber was sie letztendlich über die letzte Kante schubst, ist meist irgendein emotionaler Auslöser, kein politisches oder religiöses Kalkül mit Zeigefingerbotschaft an die Nachwelt.

Ich weiß das, weil ich als gemobbter Teenager selbst jahrelang von so einem endgültigen Befreiungsschlag träumte und mir nach Demütigungen aller Art immer wieder nachts im Bett die "geistige Kassette" vorspielte, wie sie alle von mir niedergemäht oder genüßlich möglichst grausam und schmerzhaft demütigend zu Tode gebracht würden, jämmerlich, aber vergebens um ihr unwürdiges Leben bettelnd, erst im letzten Augenblick erkennen müssend, dass sie sich mit dem Falschen angelegt hatten... Ich hatte eine geheime Hitliste, wer die schmerzhaftesten Strafen am meisten verdient hätte - ja, so ist man drauf als seelisch niedergeknüppeltes Kind ...
Natürlich habe ich es nie wirklich durchgezogen - ich wollte nicht mal Fliegen erschlagen und weinte als kleiner Junge um jeden toten Grashüpfer! Aber diese Folter- und Tötungsfantasien haben mir wirklich geholfen, dieses letzte Quentchen Selbstrespekt aufrecht zu erhalten, das mich damals davon abhielt, mich selbst - oder andere - zu verletzen, weil sie dem Schmerz des Verachteten ein so großes Gegengewicht (wenn auch nur in der Vorstellung) gegenüberstellten, dass die Waage unterm Strich einigermaßen ausgeglichen blieb.

Ich kann mir aber gut vorstellen, dass es Situationen gegeben haben könnte, in denen die Demütigungen so unerträglich hätten werden können, dass ich eine Kurzschlusshandling hätte begehen können, und wer weiß, wie das ausgeufert wäre, denn ich wäre ein sehr heimtückisch intelligenter Mörder gewesen, und ich hatte eine laaange Liste ...

Um eines klarzustellen: Ich heiße keine Bluttat gut, und was ich in jugendlicher Unreife womöglich angerichtet hätte, hätte mich, so ich es selbst überlebt hätte, später auf jeden Fall zerbrochen. Ich bin froh, dass es nie dazu kam. Ein klein wenig wahnsinnig bin ich damals wohl gewesen ...
Aber ich kann so zumindest jene Amokläufer verstehen, die nicht so viel Glück hatten wie ich damals, bei denen das letzte Stückchen Selbstbeherrschung nicht genügte, oder die von irgendeinem Ereignis, das sie völlig überwältigte, sozusagen getriggert wurden. Nicht, dass ich ihre Taten des Wahnsinns rechtfertigen wollte ...

LG, eKy

Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Agneta am Mai 19, 2020, 12:39:51
na, da kann man dir nur für die Stärke gratulieren, dass du dich doch im Griff hattest. Denn auch Töten aus Schmerz bleibt Mord.
Mal jemandem eine verpassen, der mobbt, ok, das habe ich auch getan als Kind. Da ich schmal war, nahm ich ein Grimms Märchenbuch zuhilfe…
Das ist nicht schön, aber legitim, finde ich. Töten jedoch rechtfertigt sich nie. Das muss man wissen, wenn man es täte.
Unschuldigen schaden, wie beim Amok, nur weil man selbst leidet, ist nicht legitim und auch nicht zu rechtfertigen. Ebenso wie Tiere quälen.
Es gibt Wege, böse Menschen zu bestrafen und du kennst sie alle, denn du bist Pädagoge und ein intelligenter Mann.
Es ist der Blickwinkel, der falsch ist beim Amokläufer.
LG von Agneta
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: gummibaum am Mai 19, 2020, 13:21:23
Das ist, lieber Erich,

eine sehr gute Beschreibung dieses Menschen: mehr der äußerern Erscheinung im ersten und der Ursachen und Ziele im zweiten Gedicht. Der Exkurs in die eigene Jugend mit der laaangen Liste hat mir auch gefallen. Ich unterwarf und befreite (welch ein Widerspruch) in meinen Fantasien auch die Welt. 

Chapeau und Grüße von
gummibaum
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 19, 2020, 15:05:01
Hi Agneta, Gum!

Danke für eure Beiträge! Natürlich gebe ich Agneta recht, die nicht extra hätte ausführen müssen, dass derlei Taten unzulässig und verdammenswert sind - das wusste ich auch damals schon, als ich mir diese saftigen Rachefantasien zusammenträumte! Und ich wusste immer schon, dass Mord an Unschuldigen absolut untragbar ist, egal wie sehr man selbst leidet.

Wirklich verstehen, was es mit einem macht, wenn man jahrelang und nachhaltig von jenen verachtet, erniedrigt und gedemütigt wird, deren Respekt und Achtung einem in diesem Alter bei weitem am wichtigsten wären, kann nur jemand, der es selbst erlebt und durchlitten hat.
Wie zutiefst zertreten, wertlos und zu Unrecht unverstanden man sich fühlt, so sehr, das man zu Zeiten Zuflucht zu Hybris und zeitweiligem Wahnsinn nehmen muss, um ein letztes Quentchen Selbstachtung zu erhalten, das einen gerade noch so funktionieren und überdauern lässt, in der vagen Hoffnung auf bessere Tage ...

Genug des Selbstmitleids - es ging ja hier nur darum, die Seelenlandschaft einzufangen, die einen sozusagen über die letzte Klinge springen lässt, und dazu war die eigene jugendliche Erfahrungswelt ein guter Ratgeber.

LG, eKy
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: AlteLyrikerin am Mai 27, 2020, 13:40:42
Lieber Erich,

bin beeindruckt. Ohne Erklärungsversuche, aber auch ohne Entschuldigung wird hier eine psychische Ausnahmesituation geschildert, die etwas von der Ausweglosigkeit eines griechischen Dramas hat. Der "Held" hat keine Chance seinem Schicksal zu entgehen, aber seine Opfer auch nicht, und um beide Seiten dieses Dramas sollte Elektra Trauer tragen.

Ob so etwas je rechtzeitig erkannt und verhindert werden kann? Die Zerstörung eines Menschen bzw. seine Wandlung in einen zur Empathie unfähigen Soziopathen kann sowohl durch grausame Vernachlässigung (von Missbrauch u.a. abgesehen) als auch durch Überbehütung, unerträgliche Bevormundung hervorgerufen werden. In einer Zeit der Überindividualisierung verringern sich die sozialen Räume, die so etwas vielleicht erkennen und auffangen können.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.
Titel: Re: Werdegang eines Amokläufers
Beitrag von: Erich Kykal am Mai 27, 2020, 19:03:15
HI AL!

Missbrauch usw. wird landläufig als Auslöser für Empathielosigkeit oder Sozoipathie überschätzt.

Die meisten Soziopathen sind "einfach so geworden", ohne sich groß in diese Richtung zu stilisieren. In der ganzen Bandbreite menschlicher Charakterbildung gibt es eben auch die Extreme - von extrem mitfühlenden und liebenden Menschen bis hin zum Gegenpol. Das ist ganz natürlich und verbessert die Überlebenwahrscheinlichkeit der Menschheit in außergewöhnlichen Umständen.
Wenn es hart auf hart kommt, wird vielleicht  - unter den richtigen Umständen - eher der Unsoziale überdauern, der rücksichtslos alles tut, um zu überleben. Moralisch mag das aus unserer Sicht verwerflich sein, und kaum ein Film kommt ohne die "gerechte Strafe" für diese Art Bösewichte aus, aber aus rein neutraler Sicht geht es nur um eine garantierte Weitergabe der Gene. Überleben der Art. Moral ist da sekundär.

In einer stabilen moralischen Kultur sind es übrigens die Soziopathen, die am ehesten Karriere machen und zu Reichtum und/oder Macht gelangen.

In meinem Doppelsonett geht es um einen Psychopathen - jemanden, der ein Soziopath mit pathloloisch pervertiertem Begehren ist (was nicht immer ein sexuelles Begehren sein muss). Er "entpuppt" sich, beschließt, nicht mehr nach den Regeln zu spielen, die ihm sein Begehren und dessen Erfüllung verweigern.
Und die Rache als Kompensation für alles als Unrecht Empfundene kann ein extrem starkes Begehren sein ...

LG, eKy