die Lyrik-Wiese

Blumenwiesen => Verbrannte Erde => Thema gestartet von: Sufnus am Oktober 15, 2018, 16:59:37

Titel: Verspätung
Beitrag von: Sufnus am Oktober 15, 2018, 16:59:37
Nochmal ein Altmodell...

Verspätung

Der Himmel ist gründlich vergeben:
Wir handelten widers Gebot
und mästen die Seele am Leben
und aus tiefster Atemnot

rufen wir unseren Namen,
einen anderen haben wir nicht,
die Ewigkeit senkt ihre Fahnen
von jetzt bis zum jüngsten Gericht.

Und wenn mal die Wolken verschwinden,
ists hier wieder wüst und leer,
das Himmelslicht wollt lang nicht zünden,
und dann intressierts keinen mehr.
Titel: Re: Verspätung
Beitrag von: Agneta am November 18, 2018, 11:15:11
Lieber Sufnus,
du reimst hier im 3 hebigen Anapäst , was den Zeilen immer ein gewisses Pathos gibt.
Da es um das Nachsinnen eines Prots über den Sinn von Religion, Gläubigkeit und Zuversicht im Leben geht, ist diese Metrikform sehr passend.
Allerdinngs hast du ein paasr Holperer drin:
schau:
-/--/--/-
Der Himmel ist gründlich vergeben:
Wir handelten widers Gebot
und mästen die Seele am Leben
und aus tiefster Atemnot -/--/--?

rufen wir unseren Namen, /--/--/-
einen anderen haben wir nicht, --/--/--/
die Ewigkeit senkt ihre Fahnen -/--/--/-
von jetzt bis zum jüngsten Gericht. -/--/--/

Und wenn mal die Wolken verschwinden,
ists hier wieder wüst und leer, _/--/-/ ?
das Himmelslicht wollt lang nicht zünden,
und dann intressierts keinen mehr.

Sehr gerne gelesen mit lG von Agneta
Titel: Re: Verspätung
Beitrag von: Erich Kykal am November 18, 2018, 11:48:10
Hi Suf!

Dazu kämen noch der Senkungsprall und die fehlenden unbetonte Silbe in der vorletzten Zeile:
"Das Himmelslicht wollt lang nicht zünden"
xXxxxXx()Xx

Okay, wenn man das "wollt" betont liest, ginge es sich aus - aber eigentlich möchte dort das "lang" betont sein, zumindest nach meinem Sprachgeschmack.
Korrekturvorschlag:
"Ein Lichtlein ist nirgends zu finden" - damit wäre auch der Reim rein.

Metrisch saubere Version für den ganzen Text:

Der Himmel ist gründlich vergeben:
Wir handelten wider's Gebot
und mästen die Seele am Leben,
und aus tief empfundener Not

zerrufen wir unsere Namen,
denn andere haben wir nicht.
Die Ewigkeit senkt ihre Fahnen
von jetzt bis zum jüngsten Gericht,

und wenn mal die Wolken verschwinden,
ist's hier wieder öde und leer,
ein Lichtlein ist nirgends zu finden,
und dann intressiert's keinen mehr.


Gern gelesen und damit gespielt!  :)

LG, eKy
Titel: Re: Verspätung
Beitrag von: Sufnus am November 20, 2018, 13:08:51
Vielen Dank Ihr Lieben für die Lektüre und metrischen Analysen! :)

Insbesondere S1Z4 möchte ich so "schwierig lesbar" belassen - hier soll die Atemnot beim Vortrag erkennbar werden.
Ich würde es so vorlesen, dass die Betonungen relativ verschliffen sind und am ehesten das "aus" und - Hebungsprall - das "tiefster" als Betonung erkennbar werden mit einer kleinen Zäsur dazwischen, was die Atemlosigkeit signalisiert. Das Wort Atemnot selbst würd ich dann wieder entsprechend der natürlichen Betonung lesen. :)

Ein schönes literarisches Beispiel für bewusst "schwierig" gestaltete Metrik zur Verdeutlichung eines Inhalts findet sich bei Eichendorff (Herbstlklage):

"Da krachen die Wipfel und fallen
zum Abgrund Strom, Baum und Stein."

Das geht mit xXxxXxxXx los... und dann "weiß keiner mehr, wie das zu lesen ist" (Peter v. Matt).

Grüße!

S.