Autor Thema: Herbst  (Gelesen 880 mal)

Jana

Herbst
« am: Oktober 09, 2020, 12:05:27 »
Und ich erblicke seit einiger Zeit schon den Wandel des Lebens:
Kaltes Erröten in Braun. Hörst du den Boten, den Tod?
Klagen des Windes, ein eilendes, heulendes Drängen nach Wärme,
aber sie bleibt weithin fort. Fadtriste Bräune weicht Rot.
Wie sich die Blätter vom Aste durch zwirbelndes Drängen entfernen,
nimmt mir die Freude der Herbst; sie wird zur Melancholie.
Will ich, ach! kann ich das Leben im gräulichen Stürmen genießen?
Schwerer noch stürmt nur mein Herz. Schweigen vermochte es nie.

Sufnus

Re: Herbst
« Antwort #1 am: Oktober 09, 2020, 12:35:18 »
Ui! Das gefällt mir gut!!! :) (und nein: keine Belobigungsretourkutsche :) ).
Deine Zeilen sind sparsam gereimt, lesen sich fast ungereimt, sind aber - ganz banal gesagt - relativ lang und das verleiht den Versen Atem.
Ich glaube, viele ungereimte Gedichte (auch von mir) haben, so doof das klingt, einfach zu kurze Zeilen. Mit dieser Zeilenknappheit soll letzten Ende eine Abgrenzung von einem "richtigen" Prosatext erzeugt werden, der textliche Erguss also quasi auf Gedicht getrimmt werden.
Die Versuchung dazu ist groß, weil man ja dem Leser so zurufen will: Achtung, moderne Lyrik! Bitte nicht als Prosa missverstehen!
Ich finde es prima, dass Du dieser Versuchung hier widerstehst und so, ganz passend zum Thema, einen ruhigen Lesefluss ermöglichst. Der Sprachrhythmus ist dabei zunächst völlig frei, was den Text noch näher an das prosaische Reden rückt. Der "lyrische" Aspekt wird aber auch in den ersten Zeilen für mich aber durch die gehobene, bildreiche Sprache und den irgendwie "hymnischen" Gestus immer noch realisiert.
In den Zeilen 5 und 6 (bis zum Semikolon) wechselst Du dann etwas unvermittelt in ein gebundenes, durchrhythmisiertes Sprechen, das um der Metrik willen ein altertümliches Dativ-e (Aste) und die Inversion in Zeile 6 erzwingt. Das rückt den Text in dieser Passage etwas in die Nähe einer etwas unmodernen Übersetzung aus dem Lateinischen. In Zeile 7 und teilweise auch in Zeile 8 blitzt dann hingegen ein Reden wie zu Zeiten der Stürmer-und-Dränger auf.
Wenn ich überhaupt etwas Verbesserwisserisches zum Besten geben will, dann vielleicht die Frage, ob nicht ein noch etwas freierer Sprachrhythmus dem Text noch mehr Kraft schenken würde.
Und dann lasse ich noch eine Autorität vergangener Tage zum Thema Lyrik zu Wort kommen, weil in Deinen Zeilen ja braun, rot und Gräulichkeit eine wichtige Rolle spielen. :)
Ich betone aber, dass ich mir die folgende Meinung nicht zu eigen mache!!! Dennoch hier mal (einfach als harmloses Hintergrundsgegrummel) ein (von ihm damals sicher bewusst provokant formuliertes) Statement von Gottfried Benn:
"Beachten Sie, wie oft in den Versen Farben vorkommen. Rot, purpurn, opalen, silbern mit der Abwandlung silberlich, braun, grün, orangefarben, grau, golden — hiermit glaubt der Autor vermutlich besonders üppig und phantasievoll zu wirken, übersieht aber, daß diese Farben ja reine Wortklischees sind, die besser beim Optiker und Augenarzt ihr Unterkommen finden."
Wie gesagt... ich gehe da keineswegs mit, aber seit Big Benn das in seiner berühmten Rede zu "Problemen moderner Lyrik" vom Stapel gelassen hat, sollte man es als Dichter im Sinne einer Metaebene "mitwissen" (und dann gerne fröhlich ignorieren), wenn man Farben in Gedichten auffährt. :)
LG!
S.



Erich Kykal

Re: Herbst
« Antwort #2 am: Oktober 09, 2020, 15:20:48 »
Hi Jana!

Gefällt mir auch!

Ein paar Tipps:

Z4 - "Fadtriste" ist ein regelrechter Konsomnantenauffahrunfall (d-t), ist nur aufwändig zu artikulieren und klingt einfach nicht angenehm. Ein zischlautiges Riff für den Fluss der Sprachmelodie ...

Z5 - Dasselbe gilt für "zwirbelndes": Warum unbedingt der Zischlaut? "Wirbelndes" klingt viel harmonischer im Satzgefüge.

Z8 - Entweder: "Zu schweigen vermochte es nie." oder "Schweigen mochte es nie." Deine Version wirkt falsch oder unvollständig.


Gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Herbst
« Antwort #3 am: Oktober 09, 2020, 23:16:01 »
fadtrist ist fast eine Tautologie, was auch noch suboptimal ist.
zwirbeln bedeutet wohl (anders als wirbeln), dass sich das Blatt durch Rotation um die Längsachse des Stiels vom Zweig löst.       

Jana

Re: Herbst
« Antwort #4 am: Oktober 12, 2020, 16:28:19 »
Hallo zusammen,

danke euch vorab für euer Feedback!

Lieber Sufnus,

freut mich, dass dir meine Verse gefallen. Ich habe seit jeher ein Faible für Langverse und habe mir nie Gedanken darüber gemacht, ob ein Gedicht durch sie zu prosaisch wirken könnte.
Der von dir angemerkte freiere Sprachrhythmus muss tatsächlich der Form weichen; typisch für eine Elegie sind eben ihre klagenden Distichen. ;)
Das (mir bis dato unbekannte) Zitat Benns kann ich, trotz üppiger Platzierung diverser Farben in meinem Gedicht, tatsächlich sogar im Ansatz nachvollziehen. Andererseits intendiere ich das Aufkommen genau dieser Farbklischees bei der Leser*innenschaft. Eine definitiv spannende Anmerkung, danke auch dafür!

Lieber eKy,

ich gebe dir vollkommen Recht,"Fadtriste" stört den Lesefluss enorm. Ich habe die Tautologie zwar eigentlich  bewusst gewählt, aber im Endeffekt stört die schwierige Artikulation wohl vordergründig. Da lasse ich mir mal was einfallen. Eventuell würde "sterbende" oder "leblose" Bräune (beides tatsächlich mal Überlegungen zu diesem Gedicht) wirklich besser passen.
Was das Zwirbeln angeht, da kann ich dem lieben gummibaum nur zustimmen, soll damit doch der Akt des Blätterfallens eingeläutet werden.

Danke euch allen nochmals!
Liebe Grüße
Jana

Erich Kykal

Re: Herbst
« Antwort #5 am: Oktober 12, 2020, 18:29:14 »
Hi Jana!

Auf Anhieb fiele mir "kargtriste" ein, wenn du eins der Worte behalten willst. Ansonsten gibt es eine erkleckliche Anzahl hier wählbarer Adjektive, die in die Stimmung und die Wortmelodie passen.

LG, eKy
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Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.