Autor Thema: Gedichte Archiv Beisl 22  (Gelesen 3583 mal)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #60 am: November 11, 2023, 18:59:42 »
Wenn der Wind sich dreht

Statt Hähnen sitzen nun zerzauste Krähen
auf Kirchturmspitzen, rufen zum Gebet,
nicht Vergebung wird gepredigt, denn sie säen
den Wind, der sich in diesen Tagen dreht.

So eifrig eilt das Volk zum Niederbeugen,
vor Herren, dem die blinde Demut gilt.
Den Versprechern Folgschaft zu bezeugen,
nun, da der Wind bedrohlicher anschwillt.

Die Fährte ist gelegt. Sieh, wie sie schmecken!
Sie halten ihre Nasen in den Wind
und wittern ihre Chancen Blut zu lecken.
Der Rausch macht sie für die Erkenntnis blind,

dass auch die Krähen nicht bei allen Wettern
in ihren Nestern hocken. Deren Frist
läuft ab, wenn Stürme jeden Turm zerschmettern.
Dann krähen sie als Hähne auf dem Mist.
.
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #61 am: November 12, 2023, 18:41:21 »
Betties Dichterzirkel

Mit Kaffee und kuscheligen Eckchen,
inmitten selbst gestickten Deckchen
und Worten in gelobter Ruhe,
bei Tand und Nippes auf der Truhe,

gibt man sich hin der Dichtermuse
als tröstlich' Teil der Alltagsbuße.
Akustisches Entsagen innrer Fülle,
während Kontostand in aller Stille

täglich wächst mit ihren Derivaten,
spielt man altersmilde gern den Paten
einer fast vergessenen Schreiberkunst,
träumt von jugendlichem Balzgebrunst.

Sieh nur wie sie voller Andacht raunen
und ergeben die Séance bestaunen,
spitzen ihre Ohren wie die Mäuschen,
diese Rentner mit den Vogelhäuschen.

Ein seltsam' Schicksal hat den Frack genäht,
der heut' per Zufall die Gefühle bläht.
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #62 am: November 13, 2023, 18:59:26 »
Der Plan

bis siebenundsechzig malochen 
dann Rente für kaputte Knochen
mit siebzig den Lappen abgeben
und Natur per pedes erleben
am Ende Eigenheim freimachen
wenn and're ins Fäustchen sich lachen
das ist doch der Plan?

"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #63 am: November 13, 2023, 19:24:24 »
November

Blätter rauschen unter meinen Schritten
und Menschen gehen dick vermummt.
Holz und Zweige knacken unter Tritten,
die Vögel sind schon längst verstummt.

Das Land trägt bald die weiße Malertracht,
an Bäumen zittert letztes Laub.
Wenn der erste Schnee zur Welt gebracht,
erstickt er uns mit kaltem Staub.

Glockenläuten schwebt über kahle Felder
und mahnt zur Einkehr ganz bedrückt,
verebbt jedoch am Saum der nahen Wälder.
Im scharfen Wind geh ich gebückt.


Bald wird die Stadt im grellen Glanz erstrahlen,
um mit Tüten und Geschenkpapier zu prahlen..
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #64 am: November 13, 2023, 19:27:17 »
Die Geister die er rief

Besen Besen sei's gewesen
es wollt partout ihn keiner lesen
nach soviel Unmut Kraut und Rüben
sagt' er zum Abschied: Tschüss ihr Lieben

nun ist er wieder da wie schade
und schreibt denselben Murksel fade
selbst Asbach Uralt wird auf's Neue
schnell animiert und ohne Reue

den Lesern lauwarm aufgetischt 
und wird wenn nötig aufgefrischt
mit abgelutschten Kommentaren
die schon damals Scheiße waren

doch werden solche nach drei Tagen
nicht besternt und mittels Fragen
hochgehievt wird er eben selbst aktiv
und beschwört die Geister die er rief

neben Selbstgesprächen so gestört
ist auch keiner da der ihn noch hört
zwischen Hegel Zeus und Michelangelo
wär ein jeder Soziopath doch froh

er könne seine Mär verbreiten
verhielte er sich nur bescheiden
doch Walle Walle wie im Schwalle
fließen Exkremente aus der Kralle

wie es trollt beim alten Hexenmeister
gegen alle Pflicht der guten Geister
will seinen Quargel gar verschenken
und versteht es Peinlichkeit zu lenken

in die Ecke alter Besen
sei's gewesen sei's gewesen

"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #65 am: November 15, 2023, 13:20:05 »
Bin nur ein Flegel          Gedicht

Ich bedau're nichts, bin nur ein Flegel,
der seinen Hut nicht zieht und nicht versteht.
Ich setze lieber Berlichingens Segel,
bin außen vor, auch wenn der Wind sich dreht.

Ich halt' schon gar nicht meine Backe hin
und irgendeinen Tod muss man ja sterben,
bin nur geschnitzt im Schaft der Kerben,
weil ich der Unverbesserliche bin.

Wie die Fluchenden der Welt entschwinden,
so plätschern auch die Braven durch die Zeit
und werden keine heile Welt erfinden.

Ich bin zwar nur ein Flegel, doch bereit -
es wird die Nachsicht uns nur dann verbinden,
wenn wir als Staubkorn uns vom Staub befreit.
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

hans beislschmidt

Re: Gedichte Archiv Beisl 22
« Antwort #66 am: November 20, 2023, 18:30:11 »
Am Wolgastrand

Es wurd' nem Bär das Tanzen beigebracht,
von seinem Herrn mit Feuerkohlen,
er tanzte selbst im Traum bei Nacht,
so glühten die verbrannten Sohlen.

Die Menschen haben alle nur gelacht
wie er im Kreis sich folgsam drehte,
kaum jemand hat den Schmerz bedacht,
auch nicht wie er um Beistand flehte.

Eines Tages, mitten in der Nummer,
irgendwann gibt es kein Weg zurück,
zu groß geworden war sein Kummer,
da brach er seinem Herrn das Genick.

Das Publikum war höchst betroffen,
der Bär samt Nasenring verschwand,
die Mäuler standen lange offen,
es stand ein Bär am kühlen Wolgastrand.
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)