Wir funktionieren

[Erich Kykal]

Die Erde dreht sich in den neuen Morgen,
erweitert ihre Gegenwart ins Licht,
und wir erwachen in des Tages Pflicht,
getrieben von Gelegenheit und Sorgen.

Wir sind Gebeugte der Vernunft und borgen
einander immer neue Zuversicht,
bis irgendwann der Krug am Brunnen bricht
und niemand kommt, die Scherben zu entsorgen.

Wann ist die Schuld, die uns erzog, beglichen?
Wer zählt die Jahre in gewohnter Fron?
Wir sind so lange durch die Zeit geschlichen

wie fremd Gewordene, die sich nicht suchen,
und winkt der Sensenmann am Ende schon,
erbetteln wir das kleinste Stück vom Kuchen.

[Eleonore]

Hallo Erich,

obwohl dies Gedicht todtraurig ist, ist es wunderschön.
Ich frage mich, warum dies so ist.

Du beobachtest den zermürbenden Trott, der uns Richtung Tod treibt und begleitet
und uns immer kraftloser macht. Illusionslos.
Ich habe für mich die Erfahrung gemacht, dass das Weggeben der Illusionen eine sehr besondere Seinsqualität in Einem schafft.

Die schönsten Zeilen für mich sind: Wir sind Gebeugte der Vernunft und borgen einander immer neue Zuversicht. Sie erinnern mich an eine kurz aufblitzende Gedichteidee von gestern abend. Wir Menschen, jeder Einzelne, nur für die Dauer seiner/ ihrer Lebensspanne aufleuchtende DNA-BesitzerInnen, die das Dunkel im Erden"leib" erhellen.

Das Ende Deiner Gedanken finde ich schräg. Denn, dass der Sensemann was mitbringt stimmt ja so nicht. Und was wäre denn das kleinste Stück vom Kuchen? Ein kleiner Tod? Ein schlimmer Tod?
Durch dieses Nicht-Stimmige wirkt der Schluß auf mich unpassend, wie ein Fremdkörper in diesem dunklen schwermütigen Gedicht - merkwürdig frivol.

Sehr gerne gelesen.

lG Eleonore

[Erich Kykal]

Hi Eli!

Der Sensenmann bringt nichts mit - außer der Sense (und vielleicht noch einer Sandühr, je nach Darstellung ...)! 

Was die Conclusio meint, das "kleinste Stück vom Kuchen kurz vor dem Tod", ist die magere Pension, das jämmerliche staatliche Gnadenbrot nach einem Leben im aufopfernden, zermahlenden Dienste der Gemeinschaft, während jene, die sich auf deren Kosten gesundgestoßen haben, schwelgen, prassen und in Eitelkeiten baden ...

Was das Gedicht meint:
Wir werden von kleinauf zu funktionierenden Ameisen dressiert, die ihr Sozialkonglomerat zu erhalten haben, natürlich auf Kosten eigener Verwirklichung, eigener Träume, eigenen Wachstums. Das wäre erträglich, gäbe es nicht jene sozialen Missstände und Ungerechtigkeiten, die "hehre Ideen" wie Kommunismus und Sozialismus" schon ewig weitgehend erfolglos abzuschaffen suchen - so bleibt der braven abgerackerten Ameise nur ein Gehalt knapp über der Armutsgrenze und ein lächerliches Gnadenbrot im Alter.
Und das Schlimmste: die meisten fügen sich dennoch und zehren lebenslang von der illusorischen Hoffnung, selbst durch Zufall oder Glück einmal zu den Gewinnern zu zählen: Davon leben dann die Lotterien, und selbst die machen noch gute Gewinne auf Kosten der Ausgebeuteten und Ärmsten!
Und alle sind so befangen, so gewohnt an diese Bedingungen und Umstände, dass kaum einer je aufblickt und die Lüge durchschaut: Selbstbestimmung und echte Demokratie sind Scheinbilder, vor uns hergetragen die die Karotte vor dem Esel, die er nie bekommt!

Vielen Dank für dein schönes Lob! 

LG, eKy