Autor Thema: Blickwinkel(Haibun)  (Gelesen 891 mal)

Agneta

  • Gast
Blickwinkel(Haibun)
« am: August 12, 2017, 10:12:23 »
Blickwinkel (Haibun)

Der Mann und seine Frau standen an Gleis acht. Hektik klirrte um sie wie ein verirrtes Glockenspiel. Menschen wimmelten, Koffer rollten, schrille Pfiffe gellten, Gesprächsfetzen hallten.
Bleiern hing die Luft von über dreißig Grad unter den schweren Eisenträgern, die das schmutzige Glasdach hielten.
Bei dem Quietschen eines einfahrenden Zuges begann der große, schwere Mann plötzlich zu zucken. Die kleine Frau griff ihm beherzt unter die Armbeuge, und hielt ihn, als er fiel. So landete er nicht ganz so hart auf dem Pflaster auf seinen Knien.

Blicke gleiten,
sehen nichts und fliehen doch
vor Unbekanntem


Ein Schild schrie: „ Nichtraucherbahnhof“ – es muss alles seine Ordnung haben. Die Glieder des Mannes verkrampften sich. Reisende liefen vorbei, starrten auf den am Boden Liegenden. Stimmen flüsterten:
„Ob er besoffen ist? Oder geisteskrank!“.

Füße laufen
schneller dort,
wo man nicht gerne ist.


Irgendjemand holte die Sanitäter. Sie brachten ihn fort, die kleine Frau zog die Koffer und trabte hinter der Bahre her. Sie wusste, es war nicht lebensgefährlich- ein epileptischer Anfall geht vorüber. In ein paar Stunden sah man ihrem Mann nichts mehr an. Er konnte sich an nichts erinnern.
Nur die Blicke schwebten noch in der schwülen Luft, hatten sich auf die Eisenträger gesetzt und grinsten ihr zu.

Blicke stechen
dem wie Nadeln,
der allen fremd geblieben ist.


Anm. Aus meinem neuesten Buch: "Geschichten der Wüste".

Erich Kykal

Re: Blickwinkel(Haibun)
« Antwort #1 am: August 12, 2017, 13:24:50 »
Hi Agneta!

Schöne Geschichte, durchwoben mit japanischer Lyrik. Das passt dazu, als wären es Bilder dazu, Momenteindrücke auch emotionaler Natur, bzw. Gedankenverdichtungen mit Metaebenen, die die Geschichte zusätzlich würzen.

Richtiger fände ich im 3. Haibun: "Blicke stechen // den wie Nadeln, ...".

Kleines Detail am Rande: Eine Bahre ist für Tote, eine TRAGE für die Lebenden. Diese Unterscheidung würde uns damals bei der Ausbildung zum Sani (Zivildienst) nachhaltig eingebläut!  ;D

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Blickwinkel(Haibun)
« Antwort #2 am: August 12, 2017, 18:17:16 »
ja, so ist es gedacht, lieber Erich. So ist ein Haibun formal vorgegegen.Ich persönlich habe die Haikus tatsächlich genutzt, so wie du es auch empfunden hast, eine Metaebene zu schaffen. Ob das so im Haibun üblich ist, weiß ich nicht, aber es gefiel mir.

Was man so alles als Zivi lernt ;D, das wusste ich nicht.

"Dem"erscheint mir im figürlichen Sinne passender. Denn sie stehcen ihn ja nicht wie eine Biene, dann wäre es wohl eher "den".

Lieben Dank, dass du dich mit dieser Lyrikform auseinandergesetzt hast und sie kommentiert. Ich mag Haibuns sehr gerne, aber da es immer irgendwie mit "Reise" zu tun haben soll, fallen mir nicht ungezählte ein.

LG von Agneta