Autor Thema: Der Turm der Stille  (Gelesen 856 mal)

Sufnus

Der Turm der Stille
« am: Januar 17, 2019, 18:37:58 »
Auch was aus dem Fundus der älteren Sachen... :)

Der Turm der Stille

Du lebst jetzt im Nest der Winde:
Verrufen und verschallt,
zeitloses Angebinde,
entwunden solider Gestalt.

Entbunden dem plumpen Bestehen:
Geist und reines Gebein,
kein Werden mehr und Vergehen,
kein Kreislauf aus Hiersein und Sein.

Und bleiben von Dir wird: Nichts
Bedeutenderes, als was ging,
erhoben im Zeichen des Lichts;

und was auch die Erde empfing,
siehe, kein Ding ist gering,
es wächst und gedeiht und dann brichts.
« Letzte Änderung: Januar 17, 2019, 19:13:46 von Sufnus »

hans beislschmidt

Re: Der Turm der Stille
« Antwort #1 am: M?RZ 06, 2020, 13:48:44 »
Lieber Sufnus,

Endlich lese ich nach Stunden des Stöberns eine lyrische Offenbarung, die man so nicht an jeder Ecke trifft.


Zitat
Du lebst jetzt im Nest der Winde:
Verrufen und verschallt,
zeitloses Angebinde,
entwunden solider Gestalt.


Die Hingabe an etwas Unausweichliches, verquickt mit der Wohligkeit des Werdegangs einer losgelösten Peristaltik. Das ist großes Lyrik-Tennis!

Allein schon der immense Aufschlag in S1 führt den Leser prophetisch gleich in Z1 zu dem Schlüsselbegriff "Winde" und wer hätte nicht schon die Unduldsamkeit in einem engen Fahrstuhl, zusammen mit anderen Menschen am eigenen Leib erfahren, wenn solche Naturphänomene sich olfaktorischer Aufmerksamkeit erfreuen?
Aber es kommt noch besser, denn in Z2 genügt der Hinweis "verrufen" um die Fragestellung einer Solidarität innerhalb dieser kleinen Fahrstuhlgruppe aufzuwerfen, um sie postwendend aufzulösen, in dem sie sich im Epizentrum der Gruppe mit akustischem Trotz (verschallt) entlädt, deren Aufmerksamkeit sich nun niemand mehr entziehen kann und verflüchtigt sich als bald in Z3 als "zeitloses Angebinde".
Großartig wie dieser wage Aggregatzustand es mit Mühe geschafft hat sich in Z4 an solider Gestalt vorbei zu zwängen, nicht ohne entsprechendes Odeur aufzunehmen.


Die weitere Entwicklung dieses bemerkenswerten Sonetts schickt sich an den geneigten Leser zwischen drei und Vierhebern in stochastischen Rhythmen zwischen Jamben und Daktylen zu schaukeln, bis zum folgerichtigen Schlusstakt "brichts".

Vielen Dank, lieber Dichterfreund für dieses Werk, welches fast der Aufmerksamkeit der Kollegen entgangen wäre.

Gerne und mit großem Interesse gelesen. Gruß vom Hans


« Letzte Änderung: M?RZ 06, 2020, 13:55:35 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Der Turm der Stille
« Antwort #2 am: M?RZ 06, 2020, 16:21:49 »
Ich schließe mich an dem an was Hans bereits schrieb!
Mir gefällt die Wortwahl und der Umgang mit der Syntax, auch die freieren Rhythmen sind wie aus dem Bilderbuch!

Besonders gefallen mir die Terzette und die Concusio mit dem Binnenreim.
Kein Ding ist gering oder geringer oder größer als das andere, am Ende steht was uns allen Blüht.
Gerechtigkeit?

Kompliment Sufnus!

Sufnus

Re: Der Turm der Stille
« Antwort #3 am: M?RZ 06, 2020, 16:41:31 »
Vielen Dank, Ihr beiden, für Euer Lob und Eure Deutungen, die offensichtlich höchst unterschiedlich sind, was mich besonders freut, da ein Gedicht kein statisches Gebilde sein soll, finde ich. :) Beim Rhythmus habe ich, wie Ihr ja bereits konstatiert habt, ein bisschen mit den Reglern gespielt... erhöht natürlich beim laut Vortragen etwas den Schwierigkeitsgrad, schafft aber auch Spielräume für den Rezitator und verhindert einen leiernden Ton. Ein schicker, festgefügter Jambus, Trochäus usw. ist aber natürlich auch was Feines - die Mischung machts. :)
Zu Deiner höchst irdischen, ja ich möchte sagen: sinnesfrohen Interpretation, lieber Hans, muss ich sagen, dass ich so verblüfft wie begeistert bin... an einen Pups im Aufzug hab ich jetzt ehrlicherweise bei diesen Zeilen nicht wirklich gedacht... aber da dieses Phänomen in der Lyrik wohl noch nicht ausreichend beschrieben wurde, bin ich sehr froh, wenn ich hier einen literarischen Beitrag zur Erhellung leisten kann. :)
LG!
S.
 

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Der Turm der Stille
« Antwort #4 am: M?RZ 06, 2020, 20:17:03 »
Dein Gedicht steht für mich Lyrikwurm als Wegweiser; wohin ich sprachlich mich befleißen und befähigen will.
Manchmal denke ich, dass der obere Rand des Kruges bereits erreicht ist, andererseits tönt in mir täglich eine Stimme auf, die mich dazu auffordert nicht aufzugeben. Es gibt Tage, da glaube ich, dass sichtbar nichts Lyrisches in meinen Händen reifen will. Im Moment geht es nur schwerlich voran. 
Selbst wenn ich mich dazu zwänge das Schreiben beiseite zu legen, zu pausieren und meine Ziele beiseite zu schieben, so gelänge es mitnichten. Es ist wie ein Zwang und wie eine Hand, wie ein Greifen, das mich immer wieder zurück zum Lyrikstern zieht.
Wahrlich: Es ist nicht immer eine Freude.

Vielleicht sollte ich für meine Gedichte mehr Zeit zum Reifen einräumen. Ich bin aber derart ungeduldig und schreibwütig, dass mir das wirklich sehr schwer fällt. 
Ja, das Gedicht gefällt mir ausnehmend gut - da rutschte Dir ein Edelstein von der Feder.

vlg

EV

Agneta

  • Gast
Re: Der Turm der Stille
« Antwort #5 am: M?RZ 10, 2020, 12:19:42 »
gut geschrieben, lieber Sifnus. Der Turm der Stille, jener unangenehmen Stille, die entsteht, wenn es nicht mehr zu sagen gibt.
LG von Agneta

Sufnus

Re: Der Turm der Stille
« Antwort #6 am: M?RZ 10, 2020, 13:07:31 »
@EV
Von Wurm kann nun wahrlich keine Rede sein! Höchstens ein mächtiger Sandwurm!  ;D
Es ehrt mich jedenfalls ungemein, wenn Du in diesem Gedicht etwas siehst, was Du für Deine Poetik nutzbar machen möchtest. :) Es ist übrigens eigentlich eins meiner Gedichte, an denen ich relativ viel herumgewurschtelt habe, ohne dass ich so richtig das Gefühl bekommen habe, jetzt ist es irgendwo angekommen.

@Agneta
Lieben Dank! Du fügst eine neue und spannende Deutungsmöglichkeit hinzu - da freue ich mich sehr! :)