Autor Thema: Gebete an der Klippe  (Gelesen 1707 mal)

AlteLyrikerin

Gebete an der Klippe
« am: Mai 28, 2020, 12:26:33 »
Gebete an der Klippe

Manchmal hängt mein Gebet
zwischen Schlaf und Traum
an einer brüchigen Klippe.

Weil ich mit wachen Stunden
geizig war.

Du aber, nicht bedürftig,
weder unseres Stammelns,
noch des reinsten Lobgesangs,

fügst noch aus dürrsten,
traumverblassten Worten,
die Dir achtlos vorgeworfen sind,

den zarten und doch starken Klang,
der wie ein Liebeslied
in unsre kalte Ödnis dringt.


--- Diese Sicht auf das Beten möchte ich in Kontrast setzen zu folgender ---


Gebete

Ist Gott ein Automat?
Du wirfst Gebete ein
und erhältst ein Wunder?

Ist Gott ein Sparschwein?
Gebetsgefüttert
für Dein Himmelskonto?

Herr befreie uns
vom Geben, damit Du gibst,
und Schenke uns die Freude
des zwecklosen Gebets.
« Letzte Änderung: Mai 28, 2020, 12:32:05 von AlteLyrikerin »

Erich Kykal

Re: Gebete an der Klippe
« Antwort #1 am: Mai 28, 2020, 14:03:17 »
Hi AL!

Was kann ich als im Kopf aufgeräumter Mensch dazu sagen? Für mich ist Gott - ist JEDER Gott - nur ein menschgemachtes Konstrukt zur Bewältigung von Angst. Angst vor weltlichen Fährnissen ("Gott beschütze mich!"), Angst vor dem absoluten Ende durch den Tod ("Es gibt ein Jenseits, hurra!"), Angst, seine verstorbenen Liebsten nie wieder zu sehen ("Wir sehen uns drüben wieder", "Ich seh dich in der Hölle!" usw...).

Interessanterweise wird die Religion, das Konstrukt, dann selbst zum Instrument der Angst: Angst zu sündigen, Angst, nicht mehr Teil der Gemeinschaft zu sein, wenn man abtrünnig wird, Angst vor grausamen Strafen für Häresie - und damit zum Machtinstrument für jene, die die Religionen gerne missbrauchen, um sich Kontrolle über ganze Völker zu sichern. Oder glaubt irgendjemand wirklich, dass ein Trump wirklich voller Hingabe glaubt, wenn er am Ende einer Rede sagt: "Gott mit Amerika!"? Von islamistischen Regimen ganz zu schweigen, wo man schon enthauptet wird, wenn man auch nur verdächtig ist, sich je einmal kritisch geäußert zu haben ...

Aber all das ist "Gott im Großen", sind die menschgemachten Auswüchse dessen, was dem einzelnen Kraft gibt. Wer nie missionieren wollte, seinen Glauben lebt, ohne andere damit zu bedrängen oder allzu große Bigotterie vor sich herzutragen, den kann ich respektieren. Zumindest von der emotionalen Seite.
Dass jeder, der sich, warum auch immer, in den Glauben an Götter flüchtet, sein Gehirn nicht richtig benützt - oder benützen will, bleibt für mich immer die wahrscheinlichere Annahme als die tatsächliche Existenz ebenjener Überwesen.

Was mich dabei am meisten abstößt, ist diese offene Bedürftigkeit der willig glaubenden Menschen nach Abgabe von Eigenverantwortlichkeit nach Unterwerfung, blinder Hingabe, sturer Anbetung und kritikloser Unterordnung. Nicht nur unter ein restriktives Regelsystem, nach dem er in einer Religionsgemeinschaft leben soll oder muss, nein, ich meine auch die innere Aufgabe der Eigenverpflichtung, nur um inneren Trost und die Illusion von Schutz und Geborgenheit zu gewinnen, die dann in so treffenden Aussagen mündet wie: "Es ist Gottes Wille!", "Gott hat es so gewollt!", "Gott wird es schon richten!", "Wir sind alle in Gottes Hand!", usw.. - nur um sich defaitistisch einem Schicksal ergeben zu können, ohne sich für die möglichen Folgen auch nur annähernd verantwortlich fühlen zu müssen.
Mit diesem psychologischen Drehmoment haben Mächtige seit Jahrtausenden geherrscht, ihre Untertanen auf passive Duldung eingeschworen, als unangezweifelte Herrscher von "Gottes Gnaden".

Ich weiß schon, liebe AL, dass es auch den selbstlosen Glauben gibt, der eine (behauptete!) Mutter Teresa trug - aber wie viele solcher "Heiligen" erträgt eine Religion, ehe sich die "Schäfchen" säuerlich abwenden, weil das schlechte Gewissen sie zu sehr plagt? Das Bild der Reinheit zu unerträglich wird, weil man doch weiß, wie weit man selbst davon entfernt bleibt, ergeben den weltlichen Genüssen und der Liebäugelei für den "leichteren Weg"?
Du selbst bewältigst diesen Zwiespalt ja mit - wie du erwähntest - Engagement in der Hospizbewegung. Das ist aller Ehren würdig, aber ich würde es nicht eines Glaubens wegen tun wollen, sondern weil mir die Menschen dort wichtig sind und ich ihr Leid lindern will, und zwar ganz egal, ob sie auch an einen Gott glauben wollen oder nicht. Wenn das bei dir der Fall ist: Hut ab! Dann tust du es nämlich aus rein menschlichen Mitgefühl - und nicht für einen Gott oder zur Sicherung eines fiktiven Jenseits.

Es gibt dieses Zitat von Armin Müller-Stahl am Ende des Filmes "Illuminati", wo er einen Kardinal spielt, der sagt: "Urteilen sie nicht zu streng über uns. Die Religion ist unvollkommen - aber nur, weil der Mensch unvollkommen ist."
Aber in der Bibel steht: "Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde!". Also ist entweder Gott schon als Vorlage unvollkommen, oder er hat den Menschen unvollkommen geschaffen, weil er ein mieser Handwerker ist und damit auch unvollkommen, oder absichtlich - aber dann muss man sich fragen: Warum? Konnte er es einfach nicht besser oder brauchte er ein Setup mit unvollkommenen Gestalten zur eigenen Unterhaltung?
Oder wollte er Zeuge einer Entwicklung sein? Damit wäre die Evolution religionsimmanent bewiesen, gegen die sich viele Kirchengemeinschaften bis heute wehren ...
Zudem gibt der Kardinal damit zu, dass der Mensch trotz offensichtlicher Unvollkommenheit seiner Religionskonstrukte ständig den Anspruch auf Ausschließlichkeit und absolute Verschworenheit für die "einzige Wahrheit" stellt, die als unumstößlich und undiskutierbar propagiert wird.

Ach, ich könnte Stunden über die logischen Widersprüche in jedem Glaubenssystem referieren - aber ich weiß, dass es nichts fruchten wird: Wer glaubt, braucht/will keinen funktionalen Verstand ...
Also übe ich mich für die sicher noch nächsten zehntausend Jahre in dem, was die Kirchen dieser Erde nie so recht verinnerlichen konnten: Toleranz ...  ;)

LG, eKy
« Letzte Änderung: September 11, 2022, 11:00:44 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Gebete an der Klippe
« Antwort #2 am: Mai 28, 2020, 14:27:45 »
Dieses Gedicht spricht mich sehr an, wieder auch durch seine Machart, aber auch durch eine Aussage.
Eine, die sucht, im Glauben fest sein möchte spiegelt eine andere, die dies schon kann. Wer zweifelt nicht, selbst wenn er glaubt?
Gebet an der Klippe. Ein genialer Titel dafür. Es kann kippen, das gebet, fallen, es kann schwanken, es kann aber auch von der Kippe über alles hinwegschauen.
Tolle Bilder, die da im Kopf entstehen.
Den zweiten Teil braucht es für mich nicht. Ohne ihn hat der Leser die Freiheit, selbst zu finden, zu denken...
" dürrsten" finde ich vom Klang her etwas unglücklich. Dürren würde reichen, oder?
Klasse geschrieben.
Sehr gerne gelesen mit lG von Agneta

AlteLyrikerin

Re: Gebete an der Klippe
« Antwort #3 am: Mai 28, 2020, 17:49:41 »
Lieber Erich,
ich habe ja schon an anderer Stelle gesagt, dass ich Deine Position gut nachvollziehen kann. Leider hast Du auch mit den kritischen Anmerkungen zu Machtmissbrauch nur allzu recht. Vielleicht wird es Jahrhunderte dauern, bis sich ein neues Vertrauen aufbauen kann in das, was Religion positiv ausmachen kann.

Liebe Agneta,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Mir gefällt, was Du Dir aus den Zeilen genommen hast, obwohl ich meinte, etwas noch ganz anderes hinein gelegt zu haben. Aber ich lernte schon vor langem, das Gedichte ein Eigenleben entfalten, wenn sie in die Welt entlassen werden.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Agneta

  • Gast
Re: Gebete an der Klippe
« Antwort #4 am: Mai 28, 2020, 18:27:41 »
da gebe ich dir recht, AL. Wir schrieben ein Werk aus einer gewissen Perspektive, Erlebnis heraus, aus unserem. Der Leser liest es aus seinem und manchmal sagt es ihm etwas ganz anderes als vielleicht vom Autor intentiert war. Aber ich denke, wenn das so sein kann, dann ist das Werk in sich schlüssig und gut.
LG von Agneta