Autor Thema: Was ist schon Geschichte  (Gelesen 706 mal)

hans beislschmidt

Was ist schon Geschichte
« am: Januar 12, 2022, 12:29:27 »
Was ist schon Geschichte

Auf Tafeln steht es noch geschrieben,
sag, du habest uns hier liegen gesehn.
Dort, wo die Tapfersten dereinst zerrieben,
das wollen Schüler heute nicht verstehn.

Am Kahlenberg auf nackter Klippe,
bei Tours, am roten Strand der Vienne,
Im Feld der Amsel nah der Sippe
spürt mancher noch den Hauch von Benn.

Wer schon Kalkutta nicht gekannt
und Scholl Latour vom Hörensagen -
die Eulenworte scheinen heut vakant,
man braucht sie nicht nach Attika zu tragen.
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Sufnus

Re: Was ist schon Geschichte
« Antwort #1 am: Oktober 12, 2022, 14:12:26 »
Moin Hans!

Habe gerade Deine, schon etwas länger zurückliegenden, Anspielungen auf obige Zeilen in Deinem "sarkastische Kommentare"-Faden gesehen, den Du ja offensichtlich als eine Art virtuelles Sudel-Memo für den inneren Gebrauch (die innere Emigration) benutzt.
Da Deine dortigen Erklärungen ohne den Kontext Deines Gedichts völlig unverständlich bleiben müssen, füge ich das jetzt einfach mal zusammen... ob das in Deinem Sinne ist, kann ich natürlich nicht sagen... vielleicht werden wirs erfahren... ;)

Zitat von: Beislhans
Als Ergänzung wäre noch zu sagen, dass ich in 12 Zeilen versucht habe die Eckdaten von Europa mit König Leonidas, Karl Martell, Fürst Lazar, König Sobieski darzustellen.

Der Sinn von ...
Zitat
"Es ging und geht auf allen Erden
ums Fressen und gefressen werden".
behandelt eine vermeintlich schwächere Seite, die sich der stärkeren entgegenstellt.
Die Erkenntnis, dass dieser Widerstand drei Jahrhunderte dauern kann, haben die Griechen im Osmanischen Reich durchlebt und ist im kollektiven Gedächtnis abgespeichert. Deshalb braucht man das Kalkutta-Zitat von Peter Scholl Latour nicht nach Athen zu tragen.

Bleibt noch der Störenfried Gottfried Benn und seine Kraftlyrik,  den ich schätze, der aber hier nur dem Flüsschen Vienne geschuldet ist.
Das Schlachtfeld dort habe ich 2018 mit der alten BMW besucht aber ich habe, außer ein paar lieblos hingeknallten Gedenktafeln, kein Fluidum an diese Rettungstat erfassen können. Interssant auch,  dass die Sachsen schon bei Karl Martell und Jahrhunderte später auch bei Sobieski gekämpft haben.

Wer braucht also noch Geschichte in Zeiten von Hedgefonds und Bitcoin? Eben.
Danke für deinen treffenden Kommentar.
Grüße vom Beislhans



Nachzutragen bleibt, dass es noch mindestens zwei von Dir nicht aufgelöste Anspielung in Deinen Zeilen gibt, ausser den Verweisen auf Benn, Scholl-Latour und die diversen (häufig kontrafaktisch zum Mythos überhöhten) Schlachtorte, bei denen "Europa" (was ist das?) gegen "Barbaren" (?) verteidigt (??) wurde.
So spielst Du mit der Erwähnung von Kalkutta auf Grass an, wobei mir nicht ganz klar ist, ob das absichtlich bei Dir so mitschwingt... Verteilungsgerechtigkeit und Umweltschutzgedanken könnten es wohl sein... womöglich aber auch die Kopfgeburten?
Und dann spielst Du mit dem ersten Vers in gewisser Weise noch (da bin ich mir schon gar nicht sicher, ob Dir das bewusst war) auchauf ein Gedicht von Klabund an, eines seiner schönsten und, wie ich finde, auch eines der schönsten im 20. Jahrhundert in deutscher Sprache verfassten überhaupt, weshalb ich es hier zitiere - es ist natürlich auch ein bisschen eine mögliche Antithese zu Deinem Grimm.

Zitat von: Klabund

Aus:
Das Sinngedicht des persischen Zeltmachers

Auf Tafeln ist das Sein uns vorgeschrieben,
So daß uns nur der Weg des Rhythmus blieb.
Das andere heißt: hassen oder lieben,
Weil Gott die Zeile "du" schon längst zu Ende schrieb.

Als er mich schrieb, da zitterten die Hände,
Und seine Augen waren blind:
So bin ich denn an meines Lebens Ende
Wohl Greis, und doch als Greis ein Kind.

Ich bin der Stein am Ringe der Natur
Ich bin ihr Sinn, ihr Rat und ihr Gerät.
Der Hagel, der in meine Felder fuhr,
Ich hab ihn bei der Aussaat nicht gesät…

Die Menschheit liegt in einem steten Krieg,
Seitdem sie Gott in seinem Wahn geschaffen.
Ein jeder glaubt an seines Glaubens Sieg.
Ein jeder traut dem Trotze seiner Waffen.

Wir hauen mit den Schwertern auf uns ein,
Wir beißen uns wie Hunde ineinander.
Und Trost ist nur im Rausch, und Rausch ist nur im Wein
Und in der Liebe zärtlichem Selbander.

Und als den Feind ich warf in Staub und Sand,
Dem Tränen Blutes aus den Augen rannen,
Da sprach er leis: Du, der mich überwand,
O hebe, eh du fällst, dich doch von dannen!

Der du auf deiner Schwere nur beruhst,
Und eisern deine Faust ins Handwerk reckst:
Bedenke, wie du schlafend Träume tust
Und wie ein Hund der Herrin Hände leckst.

O wolle nicht die Schwachen überblitzen
Gewitternd und mit donnerndem Getön!
Wann scheuchte Gott von seiner Hand die Gnitzen?
Ein wenig Blut von ihm macht jedes Wesen schön.


« Letzte Änderung: Oktober 12, 2022, 15:19:06 von Sufnus »

hans beislschmidt

Re: Was ist schon Geschichte
« Antwort #2 am: Oktober 13, 2022, 13:21:05 »
Hallo Suf,
Schön dich zu lesen.
Das Scholl Latour Zitat lautet in etwa:
Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kakutta, sondern wird selbst Kalkutta.
Scholl Latour, der viele Länder bereist hat, in der Legion gedient hat, war ein steter Warner und hat auch den Ukraine Krieg vorausgesehen. Sein Lösungsansatz war ähnlich dem von Elon Musk, dass es eine geteilte Ukraine geben wird, ähnlich wie Korea. Das sagte er in seinem letzten Interview 2015.
Noch ein Wort zu Gottfried Benn. Die Seziergedichte die er als Pathologe verfasst hat, sind in einer Art blutig, dass sie schon an Schlachtfelder erinnern. Benn hätte täglich mit dem Tod zu tun, das zeigen seine Gedichte aus jener Zeit.

Ansonsten steht alles in den Kommentaren, außer dass es sich beim Sturm auf Europa immer um Völker aus dem Osten gehandelt hat. In dem Gedicht hätte man noch den Mongolensturm erwähnen können.
Tatsache und trauriger Nebeneffekt ist der Umstand, dass wir nicht aus der Geschichte lernen wollen und die Gefahr ausblenden, die sich anschickt Europa zu erstürmen. Man könnte dem Gedicht noch eine Konklusio schreiben. Nämlich die, dass Europa und sein Kolonialismus Reichtümer angehäuft hat, welche natürlich auch Begehrlichkeiten wecken. 

Ein weites Feld mit unendlichen Nebenschauplätzen.

Auf deine anderen Posts werde ich noch antworten.
Vielen Dank und
Gruß vom Hans
« Letzte Änderung: Oktober 13, 2022, 13:25:24 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)