Autor Thema: Was mit uns nicht stimmt  (Gelesen 882 mal)

Erich Kykal

Was mit uns nicht stimmt
« am: Januar 15, 2022, 14:19:45 »
Was mit uns nicht stimmt

Was stimmt mit uns nicht, wenn es Menschen gibt, die so etwas wie den Terrorüberfall auf die Schule in Beslan für eine gute und gerechte Sache halten und sich dabei keineswegs im Unrecht fühlen?
Wenn Unterdrückte und Getretene, ungerecht Behandelte und Leidende sich an Unschuldigen austoben, weil sie die wahren Schuldigen nicht direkt erreichen können?
Wenn politisch Überzeugte tatsächlich denken, die Sprengung eines Kindergartens im Namen ihrer Sache wäre ein gerechtfertigtes Mittel, die Welt auf sich aufmerksam zu machen? Oder in einem Jugendlager auf einer Insel wild um sich zu schießen?

Was machen wir falsch bei unserer Erziehung, der Vermittlung von Werten, dass solche Menschen entstehen und sich berechtigt fühlen, wirklich ALLES tun zu dürfen, um ein Erlittenes gerade zu rücken?

Es ist - so bin ich überzeugt - ein schlichter Denkfehler, eine Faulheit des Gehirns, ein Glitch der Evolution, der zu alledem führt: Die Verallgemeinerung.

Man schließt von einem auf alle - die darauf folgende Entmenschlichung der gesamten Gruppe, des Volkes oder der Kultur, erfolgt erst später, um die Taten überhaupt durchführbar zu machen: Wenn man keinen Menschen, sondern nur einen "bösen Feind" angreift, sinkt die Hemmschwelle für Gräueltaten ungemein.
Aber davor kommt eben dieser eine dumme, unbedachte Schritt im Kopf, der Terror und all seine anverwandten Handlungsweisen erst ermöglicht: Die Verallgemeinerung.

So lange wir das Individuum ignorieren, weil wir lieber in Gruppen-, Volks-, Glaubens- oder Kulturkreisen denken, oder in unserer Hybris versuchen, das eigene "Heil", die eigene Gemeinschaftsüberzeugung um jeden Preis für alle Welt gültig zu machen, wird es Kriege geben, Terror und Genozid. So lange es Menschen gibt, denen Herkunft, Hautfarbe, Bildungsstand, Geschlecht usw. wichtiger sind als der Wert des einzelnen Lebens, wird das Unrecht sich ewig fortpflanzen, wird zuweilen generationenlang mitgeschleppter Groll sich irgendwann auf Unschuldige entladen: Eine Welt der Blutrache, von der einzelnen Familie bis zu den größten kulturellen und politischen Konglomeraten.

Verallgemeinerung - das unausrottbare Grundübel der Menschheit, der untilgbare Stolperstein intellektueller und emotionaler Evolution.
« Letzte Änderung: M?RZ 09, 2022, 00:50:01 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Rocco

Re: Was mit uns nicht stimmt
« Antwort #1 am: M?RZ 09, 2022, 00:34:21 »
Hallo Erich,

deine Frage ist sehr knifflig. Ich habe vor einiger Zeit das Buch: Anatomie der menschlichen Destruktivität gelesen.

Was ich verstanden habe: Menschen haben die grundsätzliche Wahl, ob sie das Leben bejahen oder verneinen.

Wer das Leben verneint, wird anfällig für blinden Autoritätsglauben und Konformismus und Destruktivität.

Die Gesellschaft und die Erziehung tragen auch ihren Teil dazu bei. Aber es liegt an einem selbst, was man aus seinen Leben macht.

Interessant fand ich, dass Gewalt auch - und gerade - durch Gefühllosigkeit begünstigt wird. Man hat kein Mitleid und keine Vorstellung davon, was man für Schäden zufügt.

Vor einigen Jahren las ich in der Zeitung, dass Berliner Jugendliche einen Obdachlosen, der auf einer Parkbank geschlafen hatte, angezündet hatten. Sie hatten ihn "brennen sehen" wollen. So, als sei der Mann ein Stück Holz, und es interessant gewesen wäre, zu beobachten, wie er brennt.

Dumm waren die Jugendlichen nicht, aber roh und ohne Vorstellung darüber, was sie angerichtet haben.

Was mit uns nicht stimmt?

Wir beten die Grausamkeit an, anstatt uns am Leben zu erfreuen.

Soweit meine Antwort auf deine Frage.

Dir einen schönen Abend!

Rocco


« Letzte Änderung: M?RZ 09, 2022, 00:38:46 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Was mit uns nicht stimmt
« Antwort #2 am: M?RZ 09, 2022, 01:05:34 »
Hi Roc!

Deine Antwort ist auch eine Sichtweise, die Welt zu erklären, hat aber direkt mit meinem obigen Text nichts zu tun.

Dort geht es um die Verallgemeinerung, eine Faulheit des Denkens. Als wir noch auf Bäumen lebten, war sie überlebenswichtig: Sah man eine Raubkatze einen Affenkollegen fangen und verspeisen, lernte man besser schnell: ALLE Katzen sind gefährlich! - oder man kam nicht mehr dazu, sein Erbgut weiterzugeben!

Heute, in komplexen Gesellschaften mit variablen sozialen Denkschemata ist diese Verallgemeinerung leider kontraproduktiv geworden: Ein Türke hat mich mal irgendwie erniedrigt - also müssen ALLE Türken Arschlöcher sein! Eine Frau hat mich mal abgewiesen - also müssen ALLE Frauen arrogante Schnepfen sein! Ein militanter Muslim hat einen Terroranschlag verübt - also müssen ALLE Muslime vernagelte Fanatiker und böse Terroristen sein! Usw - ad infinitum!

Wer verallgemeinert, ignoriert zugleich den Wert des Individuums. Dank dieser Entwertung in der Masse des erkärten "Feindes" ("Diese Scheiß-Franzosen! Allesamt hochnäsige, dekadente Schneckenfresser mit Schwuchtelsprache!") sinkt die Hemmschwelle für Gewaltausübung: Man schlägt auf keine Menschen mehr ein, sondern auf ein unpersönliches Feindbild.

Verallgemeinerung - die Stammhirnlogik: Von einer prähumanen Überlebensstrategie zum Grundübel der Welthistorie!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.