Autor Thema: Geburtsbeistand  (Gelesen 1250 mal)

Ingo Baumgartner

Geburtsbeistand
« am: September 23, 2012, 11:37:24 »


Meine erste Tochter war ein Mädchen und eine Frühgeburt. Sie erblickte nämlich schon kurz nach Mitternacht das Licht der Welt. Das heißt, sehr viel wird sie nicht erblickt haben, denn sie hielt die Augen fest geschlossen. Dafür schrie sie zum Gotterbarmen. Was mochte ihr fehlen? Was wollte sie uns mitteilen? Uns, das waren die Hebamme und der Hebammer, der ärztliche Geburtshelfer also, und ich. Meine Frau war auch anwesend, hielt sich aber bei der ganzen Prozedur etwas zurück. Ich glaube, sie war zu beschäftigt, denn sie reichte mir in regelmäßigen Abständen Beruhigungstropfen und wischte mir mit einem Tuch die Stirne trocken. Was mich betrifft, ich war die Gelassenheit in Person.
Bald schon deutete ich das fordernde Schreien des Kindes als Ausdruck eines unbezähmbaren Hungergefühls. Leicht verständlich, das Mädchen hatte ja schon lange nichts gegessen. Also versuchte ich es zu stillen. Das energische Eingreifen der Hebamme und die seltsamen Blicke des Arztes machten aber meine Versuche in Erster Hilfe zunichte. So schrie mein Töchterchen weiter und ich beschloss meine Taktik zu ändern und das Baby abzulenken. Es verstand aber den Witz nicht, obwohl ich ihn optimal auf die Pointe gebracht hatte. Humorlos war das Kind also auch.
Plötzlich – kein Laut mehr, nur ruhiges Atmen. War es etwa eingeschlafen? Nach zehn Minuten Aktivität? Zumindest zweifelte ich jetzt nicht mehr an meiner Vaterschaft. Außerdem sah sie meinem Urgroßvater in seinen Neunzigern in frappierender Weise ähnlich. Das beruhigte mich wieder so weit, dass ich mir über die Zukunft der Tochter Gedanken machen konnte. Sie musste unbedingt studieren, ihre Stärken und Präferenzen ließen sich aber noch nicht so ganz deutlich erkennen. Leise sagte ich ihr ein Gedichtchen vor, immer wieder: „Beim Ablativ steh’n ab, ex, de, auch cum und sine, pro und prae“. Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, auch dann nicht, wenn der Hans ein Mädchen ist.
Da erst bemerkte ich, dass mir das Schuhband gerissen war. Peinlich. Aber wer suchet, der findet. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht gewusst, dass Nabelschnüre so reißfest sind. Was mich etwas störte, war, dass mich der Arzt nicht mehr aus den Augen ließ. Argwöhnisch wie ein scheues Tier beäugte er mich. Hin und wieder griff seine Hand zum Hörer, zuckte aber jedes Mal zurück, wenn ich den Doktor freundlich anlächelte. Mein Lächeln schien ihm zusätzliches Kopfzerbrechen zu bereiten. Wer keine Nerven hat, einer Geburt mit Gelassenheit beizuwohnen, sollte nicht Arzt werden, wenigstens kein Ginkologe. Urplötzlich stand meine Frau von ihrer bequemen Liege mit den modernen Haltegriffen auf und begann zu packen. Schließlich sollte ihr Mann, also ich, wenigstens eine Zahnbürste in der Klinik mit haben.




cyparis

Re:Geburtsbeistand
« Antwort #1 am: September 23, 2012, 12:06:21 »
Drollig, geschliffen und sehr witzig!

Bitte weiterführen!
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
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Knacki

Re:Geburtsbeistand
« Antwort #2 am: Oktober 31, 2012, 12:26:20 »
Hallo Ingo

schreiben kannst du also auch!!  Einfach genial, da ähneln wir uns  schon wieder. Meine Tochter ist auch ein Mädel und sechs Minuten nach 24.oo Uhr auf die Welt gekommen. Eine Minute später da wäre sie der James Bond (007)

lass mal wieder was lesen

der Knacki schickt schmunzelnde Grüße
Ich bin ein Niemand.
Niemand ist perfekt.
Also .....

Ingo Baumgartner

Re:Geburtsbeistand
« Antwort #3 am: Dezember 10, 2012, 08:44:07 »
Herzlichen Dank, Knacki! LG Ingo