Autor Thema: Ich bin in meinem Fleisch gefangen  (Gelesen 860 mal)

Sokrafisch

Ich bin in meinem Fleisch gefangen
« am: November 25, 2017, 16:52:22 »
Ich bin in meinem Fleisch gefangen
und in der Zelle meiner Zeit;
und lange bangend an die Stangen
der eignen engen Endlichkeit.

Mein Ahnen und mein vages Wittern,
mein klares Wissen und Kalkül
begrenzt mein Geist mit seinen Gittern,
mit seinen Fesseln mein Gefühl.

Auch meine Augen sind ein Kerker -
ich sehe nicht, was sie nicht sehn;
ich kann nur an dem einen Erker,
der Aussicht meiner Augen stehn.

So will ich manchmal fast erblinden,
die Wand nicht sehn von Geist und Sinn.
Wie soll ich nur zur Freiheit finden,
wenn ich selbst das Gefängnis bin?

Und diese Haft ist lebenslänglich,
die Todesstrafe steht am Schluss,
ich spür so stark - ich bin vergänglich
und dass ich damit leben muss.

Und einsam trag ich diese Steine,
denn jeder stirbt für sich allein
und letztlich lebt man auch alleine...
doch nein:

Wir fühlen uns als kleine Scherben,
doch sind ein unteilbarer Krug,
so fürchten wir uns vor dem Sterben,
doch Trennung, das ist Traum und Trug.




Erich Kykal

Re: Ich bin in meinem Fleisch gefangen
« Antwort #1 am: November 25, 2017, 19:07:48 »
Hi Sokra!

Sehr philosophisch, mit vielleicht leicht bemüht wirkendem positivem Ausgang.

Ich dachte an "scio nescio", an die Begrenztheit unserer Sinne, an die Unfertigkeit unseres Hirns, Bewusstseins und Intellekts. Wir stochern im Dunkel, klammern uns an Dogmen und erklärte Wahrheiten, weil unser Geist niemals fassen könnte, was wir erfahren wollen.

Im Großen betrachtet sind wir wirklich ein Krug, aber kaum eine Scherbe weiß von der anderen ...

Sehr gern gelesen, wirklich kunstvoll geflochtene Sprache! Ich liebe das!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sokrafisch

Re: Ich bin in meinem Fleisch gefangen
« Antwort #2 am: November 25, 2017, 20:49:27 »
Ich hatte das Gedicht eigentlich ohne Happy End vor einigen Monaten verfasst und als ichs dann hier abtippte, kam mir der Rest spontan in den Sinn und ich wollts einfach mal so versuchen. Dein Bedenken ist nachvollziehbar und ich werde zukünftig wahrscheinlich die letzte Strophe weglassen, oder einen eleganteren Übergang schaffen.

Sei bedankt für deine Kritik und deine Gedanken, Erich.

Erich Kykal

Re: Ich bin in meinem Fleisch gefangen
« Antwort #3 am: November 25, 2017, 22:00:21 »
Hi Sokrafisch!

Die Menschen lieben Happy-ends, ich bin da keine Ausnahme. Triste Schwergewichtslyrik schön und gut, aber auf Dauer zieht einen das runter. Wenn möglich, sollte es zum Stein im Magen immer ein Häppchen Sahne geben, damit er besser rutscht und die schwere Kost erträglicher wird.
Also immer her mit dem positiven Ausgang - oder zumindest einem Ausblick darauf, einer leisen Ahnung von Ausweg aus dem Jammertal!

So gesehen vielleicht nicht perfekt stimmig, aber wirkungsvoller als ein Ende in Seufzern allemal!

Noch was bemerkt: S4Z4 - ich würde aus Betonungsgründen umstellen zu: "wenn selbst ich das Gefängnis bin?". Die Heber fallen natürlicher so.

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 25, 2017, 22:03:01 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.