Autor Thema: Darf Meinungsfreiheit auch kritisch sein?  (Gelesen 806 mal)

Erich Kykal

Darf Meinungsfreiheit auch kritisch sein?
« am: September 12, 2021, 11:29:13 »
Meinungsfreiheit - viele denken dieser Tage wohl, das hieße bloß: Stumme Toleranz. Den andern sein lassen, wie er ist. Hinnehmen, was er von sich gibt, weil wir alle uns ja nur darin einig sein müssen, dass wir uns mögen oder zumindest respektieren. Und Ausdruck dieses Respekts solle neuerdings sein, dass man dem anderen nicht dreinredet, selbst wenn man seine Ansichten für irrig hält: "Du, hör mal, das weiß ich anders - wie wäre es, wenn du mal zuhörst ...?"
Man scheint zu denken, es wäre unhöflich, die eigene Überzeugung auszusprechen, wenn sie einer anderen entgegensteht. Das wird dann gleich mit Missionieren, Besserwisserei oder böswilliger Einmischung verwechselt, dabei will man nur zu seinen Überzeugungen stehen und das die Welt auch wissen lassen. Eine Meinung kundzutun, die der eines anderen widerspricht, die jener zuvor geäußert hat, scheint nicht mehr "politisch korrekt" zu sein, so als gälte es als unsittlich, einem anderen durch Einspruch womöglich miese Gefühle zu bereiten. Ich finde, man kann das Gutmenschentum übertreiben.

Ist es nicht vielmehr dann ein Zeichen des Respekts, gerade WENN man einen anderen für wert befindet, sich auszutauschen, oder im Namen dessen, was man selbst als Vernunft empfindet, im positiven Sinne "belehrt" zu werden? Würde man sich nicht um jemanden, der einem egal ist oder den man nicht leiden kann, gar nicht erst bemühen, ihn einfach ignorieren? Ich finde, es ist gerade dann ein Zeichen des Respekts und der Sympathie, wenn man einen anderen für wert erachtet, Einsicht in die eigenen Ansichten erhalten zu dürfen. Natürlich hat man dabei im Hinterkopf, bewusst oder nicht, dass man auch ein Stück weit überzeugen möchte, weitergeben, was man für Vernunft und klaren Gedanken hält - aber der Rezipient sollte das nicht als versuchte Kränkung empfinden, sondern als das, was es ist: Dass die Meinung des Ehrlichen von der angesprochenen Person so hoch sein muss, dass er dieser zutraut, richtig mit dem Dargebotenen umzugehen.
Das bedeutet nicht zwangsläufig, dass er sich "bekehren" lassen soll - nein, weit gefehlt! Anerkennung einer konträren Ansicht und ehrliche Auseinandersetzung genügen völlig.

Leider ist es so, dass viele heutzutage sich sofort persönlich angegriffen zu fühlen scheinen, wenn man sich ihren Ansichten kritisch nähert - so als wären diese Ansichten direkt mit dem Selbstwertgefühl und dem Eigenbild jener Personen "verkabelt". Da wird sich jede Einmischung verbeten, da ist keine Diskussion möglich - das so empfundene Rütteln am Selbstbild muss eine persönliche Attacke sein (nicht, wie eigentlich gemeint, eine Attacke auf die als geradezu kränkend empfundene Dummheit an sich, die da vertreten wird) und dementsprechend beantwortet werden!

Was also bedeutet Meinungsfreiheit? Die Freiheit eines jeden, eine Meinung haben zu dürfen, die dann eifersüchtig bewacht und erbittert verteidigt werden muss, abgeschottet vom Rest der Welt und in der Überzeugung befriedet, endlich eine ersehnte Antwort gefunden zu haben, egal ob sie in einem größeren oder anderen Rahmen stimmen kann oder nicht - oder die Freiheit, jegliche Meinung auch auszusprechen und sich darüber auszutauschen, und zwar ohne schmollend beleidigtes Selbstwertgefühl?

Ich für mein Teil kenne meine Antwort, und ich werde mich weiterhin nicht scheuen, sie zu äußern, wenn sich jemand in anderer Überzeugung äußert, selbst wenn jene Person das dann als übergriffig, ruppig oder böswillig empfindet und sich persönlich angegriffen fühlt. Aber meine Achtung vor besagter Person wird erst sinken, wenn sie dies tut.
« Letzte Änderung: November 15, 2021, 17:16:58 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

hans beislschmidt

Re: Darf Meinungsfreiheit auch kritisch sein?
« Antwort #1 am: September 12, 2021, 17:33:08 »
"Des Menschen Wille ist sein Himmelreich" Erich....

Dies hört mit zunehmendem Alter nicht auf. Im Gegenteil! Die Freiheit, selbst Entscheidungen zu treffen und seinen eigenen Willen auszuleben, ist ein hohes Gut. Es macht das Selbstwertgefühl jedes Menschen aus und wie du sicher bemerkt hast, gibt es User hier, die das für sich auch in Anspruch nehmen, allerdings von der anderen Seite der Wahrnehmung und Empfindungswelt. Gruß vom Hans
« Letzte Änderung: September 12, 2021, 17:35:00 von hans beislschmidt »
"Lyrik braucht Straßendreck unter den Fingernägeln" (Thomas Kling)

Rocco

Re: Darf Meinungsfreiheit auch kritisch sein?
« Antwort #2 am: September 17, 2021, 20:56:03 »
Hallo Erich,

Vernunft und Befindlichkeit stehen sich, nicht nur seit Heute, im Weg.

Deine Beschreibung, der Gefühlslage befindlicher Menschen, kann ich zustimmen, da ich ähnliche Erfahrungen sammeln konnte.

Allerdings frage ich mich, ob man diese: Rühr-mich-nicht-an-Menschen als "Gutmenschen" bezeichnen muss. Aus Erzählungen meines Großvaters, glaube ich zu wissen, dass es auch früher solche Leute gab. Leute, die stur sind, nicht auf Argumente eingehen, es sei denn, sie finden sich darin bestätigt.

Früher sagte man zu denen Spießer, es waren die Unbelehrbaren. Und egal, wie freundlich man redete, egal, wie sachlich und klug das Gegenargument auch war, sie fühlten sich in ihrer Ehre gekränkt.

Mir fällt auf, dass es solche Spießer in allen Richtungen gibt: Linke, Rechte, Christen, Liberale usw. Ich selbst nehme mich da nicht aus, glaube aber, dass ich zu denen gehöre, mit denen man reden kann.

Einen schönen Abend

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Erich Kykal

Re: Darf Meinungsfreiheit auch kritisch sein?
« Antwort #3 am: September 19, 2021, 11:01:53 »
Hi Rocco!

Ich schrieb diesen "Artikel" hauptsächlich deshalb, weil mir - vielleicht zurecht - vorgeworfen wurde, ich würde mit meinen Ansichten zu Religion oder Politik allzu rüde nicht hinter dem Berg halten, würde zuweilen sogar in respektmangelnder Weise über Andersdenkende herfallen, sie herabwürdigen oder lächerlich machen, sei es durch kritische Kommis oder zynisch interpretierbare Gegengedichte zu ihren Credos.

Meine Erklärungsversuche waren den Adressaten dann aber "zu blöd", vielleicht, weil ein philosophisches "Augenzwinkern" meinerseits wieder mal in den falschen Hals gekriegt wurde. Da hatte ich es erst mal satt, ständig mit dem Gefühl schreiben zu müssen, ich müsste dauernd wie auf rohen Eiern laufen, um nur niemandes wie auch immer geartete Empfindlichkeit zu berühren - die ich irgendwie immer erst zu bemerken scheine, wenn ich sie nicht bloß berührt, sondern offenbar gröber gegen den Strich gebürstet habe.

Da ich um meine sozialen Defizite weiß, gehe ich dann eher davon aus, dass es an mir liegt. In diesem Fall aber wollte ich das nicht so ohne weiteres einsehen und argumentierte in meinem Sinne. Kam nicht so gut an.

Dennoch bleibt meine Überzeugung: Wenn man an etwas glaubt, darf man öffentlich dafür eintreten. Wenn die Gläubigen hier Gedichte über Gottes Größe posten dürfen, dann darf ich Gedichte darüber schreiben, für wie demütigend für den objektiv Wahrscheinlichkeiten evaluierenden Geist ich das halte, darf Argumente dafür anführen, warum ich etwas für Blödsinn halte. Und ich darf dabei auch mit kabarettistischen Mitteln arbeiten, nach bewährter Hofnarrenart.
Wenn User hier über ihre politischen Überzeugungen schreiben dürfen, die - nach meiner Geisteshaltung betrachtet - Vorurteil, Ausgrenzung, Verallgemeinerung und mangelnde Geistes- wie Herzensgröße beweisen, dann - so denke ich - MUSS ich sogar dagegen anschreiben! Ob das dann eine "Empfndlichkeit" oder ein falsch verstandenes "Recht auf Selbstverwirklichung oder -bestätigung" dieser Leute eindellt, ist mir in solchen Fällen, wie ich aufrichtig gestehen muss, herzlich egal!

Hier wollte ich nur die philosophische Grundfrage erörtern, was im Vordergrund stehen sollte: Das Stehen zu und Ausprechen von eigener Überzeugung, auch wenn sie anderen nicht passt - oder die unbedingte Rücksicht auf mögliche Empfindlichkeiten, die "absolute Toleranz von allem", solange sie einfach als Meinung dasteht, die jemand ausdrückt.

Nun, ich denke, wenn wir uns letzterer Ansicht verschrieben, würden wir immer noch in der Schule lernen, das die Erde flach ist, laut Schöpfungsplan erst 6000 Jahre existiert, und die Sonne sich um die Erde dreht - denn all die Geister, die die Menschheit im Lauf der Zeit weiter dem Aberglauben und dem Beharrungsvermögen kolportierter, indoktrinativer Überlieferung entrissen haben, wären viel zu besorgt um die "Empfindlichkeiten" derer gewesen, denen sie hätten widersprechen müssen, um ihre Erkenntnisse und die daraus resultierenden Überzeugungen weiterzugeben!

Was also soll ich von dem Argument halten, ich würde allzu derb mit den Überzeugungen derer umgehen, die ich für durch wissenschaftliche Gegenbeweise überholt oder schlecht bis gar nicht ernsthaft durchdacht halte? Dass ich diesen Menschen - offenbar böswillig - ihre behütenden Nestlein beschmutze, die sie sich im Kopf eingerichtet haben, um sich wohl und sicher fühlen zu können in dieser Welt?
Nun, von Böswilligkeit zumindest kann keine Rede sein! Wenn ich "heftiger" werde, dann im Zorn über das schiere Ausmaß menschlicher Verweigerung klarer Gedanken, wenn es um die gemütlichen kleinen Nestlein im Kopf geht, für deren Erhalt so unsäglich viel ignoriert oder gar eifernd in Abrede gestellt, ja selbst missioniert, unterdrückt und gemordet wird!
Auch wenn der Einzelne dies nicht tut und nur Gedichte über seine kleine Welt im Kopf schreibt: Soll ich schweigen, damit ein Dichterkollege sich hier weiterhin um jeden Preis wohlfühlen darf, auch wenn er in meinen Augen gefährlichen Unfug verzapft - oder soll ich meine eigene Ansicht dazu vertreten und ebenfalls posten, auch auf die Gafahr hin, dass ich Gegenwind bekomme oder der Poet sich hier dauerhaft absentiert, da er meine Offenheit nicht erträgt, weil er seine Hirnblase erhalten möchte?
Schade ich dem Forum durch meine Art? Ich habe vorgeschlagen, mich freiwillig zurückzuziehen, sollte eine Mehrheit diese Meinung vertreten. Auch diese konsequente Reaktion meinerseits kam nicht gut an. Scheinbar legt man es mir als Versuch aus, das Forum quasi mit meinem Rücktritt erpressen zu wollen. Dies ist nicht der Fall.

Leide ich selbst an einer "Hirnblase" und versuche in meinem persönlichen Sinne zu missionieren? Ich hoffe nicht, obwohl man ja gerade dem gegenüber meist am blindesten ist - ich versuche stets, mich an wissenschaftliche Erwiesenheiten zu halten, oder zumindest an objektiv gewichtete Wahrscheinlichkeiten angesichts des aktuellen Wissens über Universum und Menschheit. Und ich stelle mich jederzeit offen gegen den menschlichen Hang zu Unterordnung und Hingabe, Verherrlichung, Anbetung und willenloser Gefolgschaft! Egal ob für Götter, Führer oder politische Ideen: Alles, was verführerisch elitären Stand verspricht, weil man damit in der Gnade der "einzigen Wahrheit" stehe, oder weil da endlich "aufgeräumt" würde mit allem, was einem nicht passt oder wovor man insgeheim Angst hat, oder weil man damit endlich Macht über andere erlangt, gefürchtet wird und sich dran hochziehen kann - all das verachte ich zutiefst, und das werde ich auch immer aussprechen.

Wenn das jemanden einschüchtert oder vertreibt, der nur seine persönliche Kopfwelt unbeschädigt sehen möchte, ohne jemanden damit belästigen zu wollen, dann tut mir das leid - das war sicher nicht meine Absicht bei alledem. Ich verachte nicht den einzelnen glauben wollenden Menschen, sondern das Konzept Glaube an sich. Ich "glaube" eben, die Menschheit wäre ohne besser dran und um einiges reifer - aber offensichtlich ist sie insgesamt betrachtet noch lange nicht so weit in ihrer allgemeinen physischen wie psychischen Evolution.

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 15, 2021, 17:24:50 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Darf Meinungsfreiheit auch kritisch sein?
« Antwort #4 am: Oktober 12, 2021, 15:14:57 »
Ja, sie darf und sollte auch kritisch sein. Wie schon bei Totalitärer Limerick übst du hier berechtigt Kritik an zunehmender Animosität und Selbstzensur, die die Meinungsfreiheit gefährden.

Sehr gern gelesen, lieber Erich.
Gruß von gummibaum