Autor Thema: Kreide-Zeit  (Gelesen 847 mal)

Agneta

  • Gast
Kreide-Zeit
« am: August 18, 2019, 11:28:21 »
Kreide-Zeit

So oft hatte er seine Thesen an die schwarze Tafel seiner Welt geschrieben. In weißen Lettern:
Geht gerecht miteinander um, schützt die Natur, wehrt der Zerstörung durch Konsum, seht euch, nehmt euch wahr.
Er war jetzt sechzig. Immer wieder hatten andere seine Thesen weggewischt. Weggewischt mit diesem grüngrau melierten Lappen, der stets leicht faulig roch. Andere, die es besser zu wissen meinten oder die es gar nicht wussten oder die es nicht wissen wollten. Kollegen, Schüler, selbst der Schuldirektor. Von seinen Thesen blieben nur schlierig weiße Spuren, besonders, wenn die Mittagssonne in den Klassenraum fiel und die Tafel zu durchleuchten schien.
Sie legte unendliche dieser Spuren frei. Sie schlummerten in der Tiefe des dunklen Tableaus, als würden sie nur schlafen und als könne man sie jederzeit zurückholen. Er war jetzt sechzig, bald würde er in Pension gehen.
Eines Morgens kam ein neuer Kollege in den Klassenraum. Einer, dessen Kopf beim Laufen immer  leicht nach vorn gebeugt war, so, als wäre er eilig. So, als wolle er mit dem Kopf schon dort ankommen, wo er selbst noch nicht war.
Der Neue ging zur Tafel, nahm den Lappen, wischte wortlos. Akribisch. Fast lustvoll. Dann warf er ihm die Kreide zu und sagte: „Friss!“


Erich Kykal

Re: Kreide-Zeit
« Antwort #1 am: August 18, 2019, 12:49:20 »
Hi Agneta!

Ein Kollege, der so mit mir zu agieren wagte, egal ob jung oder älter, würde derlei nur EINMAL versuchen ...  >:D Nicht dass einer auch nur je auf die Idee käme!  ;)

Eine sehr negative Sicht auf den pädagogischen Anspruch - der ausgebrannte alte Lehrer, die "neue Agressivität" im zeitnahem Umgangston, die Kälte einer innerlich verarmenden, isolierten, gleichgültigen Gesellschaft, Kollegenmobbing.
Über die Resignation älterer Lehrer habe ich ja selbst schon geschrieben, die jahrzehntelang gefühlt erfolglos gegen die an sie brandende menschliche Dummheit anrennen, bis sie irgendwann innerlich das Tandtuch werfen und sich nur noch in Automatismen über den Tag retten, gequält von Gekreisch, jugendlicher Grausamkeit und rüdem Ton.

Neu für mich ist hier die Respektlosigkeit, ja Verachtung der Kollegen - so etwas habe ich nie erleben müssen. Aber ich hätte es auch nie hingenommen.

Es ist vielleicht eine Altersgeschichte, aber in den letzten 10 Jahren habe ich selbst einen inneren Wandel durchlebt - ich habe gelernt, die Kinder mitsamt ihren Fehlern einfach nur gern zu haben, sie immer in ihrer Gesamtheit zu betrachten, nicht ausschließlich in der Schülerrolle, in der viele eben nie perfekt funktionieren. Ich nehme jetzt die Kleinigkeiten wahr, die wir wirklich beeinflussen können, und der Respekt, den ich diesen werdenden Wesen zwar immer entgegengebracht, aber ihnen erst spät auch zu zeigen lernte, kommt vervielfacht zu mir zurück.
Zudem stößt sich mein stabil gewordenes Selbstwertgefühl nicht mehr an den kleinen Herausforderungen derer, die noch täglich darum kämpfen, ihr eigenes zu etablieren - will sagen, eine herausfordernde Frechheit lässt mich einfach nur noch kalt, oder ich genieße sie sogar, wenn sie treffsicher formuliert wurde. Ich teile darob auch keine klassischen Strafen mehr aus, sondern "disse" einfach nur besser zurück. Die Kids lieben das, weil sie selber auch noch neue Sprüche lernen, und verehren den "coolen Lehrer" geradezu!
Natürlich muss man dafür sorgen, dass derlei nicht überhand nimmt, damit der grundsätzliche Ordnungsrahmen nicht verloren geht - man muss bei aller Sympathie klare Grenzen aufzeigen und durchsetzen, und dank meiner gewonnenen inneren Ruhe bin ich darin heute auch wesentlich glaubhafter als früher. Aber wenn man ein beliebter Lehrer ist, den die Kids wirklich mögen, ist sowas nur wirklich selten überhaupt nötig.

Der Titel ist ein gelungenes Wortspiel, ich dachte dabei zuerst an Dinosaurier, nur der Bindestrich weist darauf hin, dass da etwas anderes zu erwarten sei.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Kreide-Zeit
« Antwort #2 am: August 18, 2019, 18:48:16 »
du hast den Text sehr nahe am Bild gesehen, lieber Erich. Klar, bist ja Lehrer.
Es geht mir hier aber nicht um die Darstellung des "Lehreralltags", sondern um eine tiefere Ebene. In einem anderen Forum kann man  nach Themen sortieren und dort hatte ich ihn unter Abhängigkeit eingestellt.
Der Lehrer ist hier nur ein Symbol für den (Be) Lehrenden. Ich will nun nicht zu viel verraten, um den anderen den Interpretationsspielraum nicht zu nehmen.
Deine Bemerkungen zu Schülern stimme ich jedoch voll zu, obwohl es darum hier nicht ging.
Der Text ist fiktiv. Wohl kaum ein Kollege würde je so agieren.
LG und danke dir von Agneta