Autor Thema: Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?  (Gelesen 1776 mal)

Sufnus

Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?
« am: Oktober 09, 2020, 14:34:33 »
Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?

Eine Annäherung in Form einer Provokation

Teil 1

Folgende Tipps können dabei helfen, ein gutes Gedicht zu schreiben.

1. Sei offen für die Inspiration: Wenn Dir auf dem Klo, in der Straßenbahn oder in einem langweiligen Zoom-Meeting plötzlich eine ungewöhnliche Formulierung durch den Kopf schießt, schreib sie Dir in einem kleinen Sudelheftchen auf, vielleicht kann man mal was draus machen.

2. Sei Verschwenderisch: Den untalentierten Poeten erkennt man daran, dass er Angst davor hat, einen Gedichtentwurf in die Tonne zu treten. Anstatt Dich ewig lang mit einem Gedicht herum zu plagen, das nicht viel taugt, schreib lieber ein neues. Und wenn dadurch mal ein (potentiell) brillantes Gedicht zum Fall für den Reißwolf wird? Ist doch egal, Du hast doch wohl mehr als einen einzigen brillanten Einfall auf Lager?

3. Sei kritisch. Bleibe innerlich stets offen für den Gedanken, dass Du womöglich gerade grottenschlechte Grütze notiert hast. Übertriebenes Selbstvertrauen ist weitaus schädlicher als ungerechtfertigte Zweifel am eigenen Können.

4. Sei belesen. Vor Dir wirkten schon zehntausende (sic) von absolut phantastischen Lyrikgenies, die selbst mit einem Kopfschuss Deine allerbesten Werke mit Leichtigkeit übertroffen hätten. Wer gute Gedichte schreibt, ist lernwillig.

5. Schreib ein Gedicht. Wenn es Dir gut gefällt, streiche die erste und die letzte Zeile und ersetze sie durch eine bessere.

6. Nimm das Gedicht von Nr. 5 und überlege, ob Du es nicht auf die Hälfte kürzen kannst. Nein. Überleg nicht. Mach es einfach.

7. Unterstreiche alle abstrakten Wörter in Deinen Gedichten und überlege, ob Du sie nicht durch konkrete ersetzen kannst.

8. Wenn Dir nichts einfällt, stelle Dir eine strenge formale Regel für ein Gedicht. Ich meine jetzt eine wirklich strenge Regel, wie die Buchstaben a und e nicht benutzen oder in jeder Zeile die gleichen Buchstaben verwenden oder so schreiben, dass jeder Satz vorwärts und rückwärts gelesen werden kann. Du wirst höchstwahrscheinlich mit dieser Regel scheitern, aber Dir werden beim Versuch, danach ein Gedicht zu schreiben, Formulierungen gelingen, auf die Du anders im Leben nicht gekommen wärst.

9. Gib in Gedichten keine Ratschläge oder Kommentare ab. Lass die Fakten für sich selbst sprechen.

10. Ignoriere Besserwisser, die Dir komische Tipps andrehen wollen. Aber ignoriere sie nicht zu sehr.

 O0

« Letzte Änderung: Oktober 09, 2020, 15:04:29 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?
« Antwort #1 am: Oktober 09, 2020, 15:13:29 »
Hi Suf!

Zu Punkt 10: - Na, dann ignorier ich das mal - aber nicht zu sehr!  ;) ;D

Hier ist im Vorteil, wer schlau ist und erst alle Anweisungen zu Ende liest, ehe er handelt.

Zu Punkt 1: - Als neuer oder junger Dichter ist das Mitführen einer Schreibgelegenheit zu allen Zeiten höchst ratsam. Nach meiner Erfahrung lässt dieser Verwortungsdrang allerdings mit den Jahren nach ... es ist wie mit dem Sex: Zu Beginn wahnsinnig toll, interessant und faszinierend, aber nach Jahren der Übung und Perfektionierung ... naja ... schon noch schön, aber nicht jeder kleine Eindruck am Wegesrand löst noch was aus. Als arrivierter Dichter genügen ein Laptop daheim und die Gewissheit: "Hab schon wieder wochenlang nichts geschrieben. Wird wohl Zeit, dass ich mir wieder mal was abringe fürs geneigte Publikum ...  ::)"

Zu Punkt 2: - Ich muss widersprechen! die Anzahl von "brillianten" Momenten/Einfällen als Lyriker ist durchaus sehr endlich und begrenzt. Viele Dichter kennt man nur für ein einziges wirklich gutes Gedicht. Und viele von denen haben sonst kaum Nennenswertes fabriziert, zumindest im direkten Vergleich.
Also: Nicht verschwenderisch sein! Alles aufheben! Zuweilen stolpere ich viele Jahre später über einen "alten" Text, zu dem mir damals nichts so recht mehr einfallen wollte - und nun plötzlich flutscht es, und ich korrigiere die schwachen Stellen locker wie selbstverständlich, und das Teil funzt!

Zu Punkt 5: Hab ich nicht nötig. Echt jetzt. Und warum ausgerechntet die erste und die letzte Zeile? Sollte man nicht besser die schlechteste suchen? Diese Regel provoziert wirklich - durch bewussten Unverstand.  ;) 8) Dasselbe gilt für Punkt 8: - Allzu bemühte Einschränkung befördert nichts als Verdrehung, und vor allem: Bei vorab schon geringem Wortschatz wird der Adept auf diese Weise auch keine sinnvollen oder gar wortschönen "Umgehungen" finden. Zielführender ist eine Erweiterung des aktiven Vokabulars mittels Punkt 4.

Alle anderen Punkte kann ich ganz und gar unterschreiben!  :)

LG, eKy

« Letzte Änderung: Oktober 09, 2020, 15:35:43 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?
« Antwort #2 am: Oktober 09, 2020, 15:27:54 »
Hey! :)

Vielen Dank lieber eKy für Zustimmung, Abwägung und Widerspruch! Darum (also auch um den Widerspruch) geht es natürlich ganz maßgeblich. :)

Ich werde die Rubrik noch etwas fortsetzen und freue mich sehr über Zwischenrufe in Form von rhetorischen Blumen oder faulen Eiern! :)

Vielleicht regt es ja auch jemanden an, eine Gegen-Poetologie zu entwerfen? :)

Liebe Grüße!

S.

Sufnus

Re: Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?
« Antwort #3 am: Oktober 09, 2020, 15:33:59 »
Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?

Teil 2

Von folgenden deutschsprachigen Dichtern (Liste evtl. nicht 100% vollständig) kann man als Anfänger am meisten lernen.

1. Gottfried Benn - der König des Substantivs
Wir lernen:
1. Die Vermeidung nichtssagender Verben und die Verwendung "starker" Hauptwörter.
2. Die Mischung von hohem Ton, fremdsprachlichen Einsprengseln und Alltagsslang.
3. Die Findung ungewöhnlicher Reimwörter.

2. Peter Rühmkorf - der Luftgeist
Wir lernen:
1. Die Findung ganz und gar ungewöhnlicher Reimwörter - hier geht er sogar noch über Benn hinaus.
2. Die Leichtigkeit des Sprachflusses... da jambt und trochät es nicht immer nur stur vor sich hin, da schwingt das gute alte Deutsch auch manchmal das Tanzbein.

3. Else Lasker-Schüler - die Schönheit ist verletzlich
Wir lernen:
1. Wie lyrisches Sprechen über den Zugangsweg der Verletzlichkeit den Weg zur Schönheit weist.
2. Dass die "großen Themen" nie veralten.

4. Anne Dorn - die Lyrik ist immer jung
Wir lernen:
1. Man kann auch mit 86 Jahren noch ein Lyrikdebüt raushauen - es ist nie zu spät.
2. Trau Dich, "einfach" zu schreiben!

5. Die Liebesgedichte von Bertolt Brecht
Wir lernen:
Nicht prüde zu sein lohnt sich beim Gedichte schreiben.

.....

Natürlich fehlen hier ein paar Namen auffällig... mir geht es hier vor allem um Lesetipps für Einsteiger. Celan, Rilke, Bachmann und Kirsch sind z. B. natürlich ganz dicke Namen, aber die haben einen sehr eigenständigen Sound, ein Anfänger ist da u. U. in Gefahr entweder zum schlechten Kopisten oder eingeschüchtert zu werden. Aber natürlich soll man die auch ausgiebig lesen und wenn man dabei Feuer fängt, dann bleibe man eben dabei. :)
« Letzte Änderung: Oktober 09, 2020, 17:23:04 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?
« Antwort #4 am: Oktober 09, 2020, 15:53:53 »
Hi Suf!

Höchst amüsiert lese ich über das Lernen durch Negativbeispiel!  ;D >:D (Benn's Gesamtwerk habe ich genau einmal gelesen - und damit ist gut!  ::))

Soltest du noch ein echtes Negativbeispiel suchen - wie wär's mit Stefan George, dem Meister des selbstgefälligen platten Pathos in manirierter Rechtschreibleugnung?  ;) ;D >:D

Zu korrigieren:

"nichtssägende Verben" bei Benn.

"das jambt es" bei Rühmkorf.


Was mir ein wenig fehlte, waren die bekannten Namen der klassischen Dichtkunst, die nicht gleich so gut wie ein Rilke sind, aber an denen man das "altmodische" Dichten, das ich so liebe, studieren kann - und das nicht durch die Fehler und Mängel der genannten Autoren.  ;)

zB.: Hesse, Kästner, Goethe, Schiller, Fontane, Heine, Keller, Morgenstern, Storm, von Platen, Eichendorff, Droste-Hülshoff, von Kalckreuth usw ...

LG, eKy

Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Wie schreibt man eigentlich ein (gutes) Gedicht?
« Antwort #5 am: Oktober 09, 2020, 16:16:41 »
Hi eKy! :)
Ich freue mich über Deine Anmerkungen sehr  ;D (und nebenbei ganz lieben Dank für die Krorekdur der Tippsfeler!!!)
Bei meinen Lyriktipps bin ich natürlich auf einem (sehr behutsam) "modernen" Pfad unterwegs, d. h. einem dezidiert "altmodischen" Schreiben will ich jetzt nicht unbedingt das Wort reden. Allerdings sind immerhin 4 der 5 genannten "Lehrbeispiele" weitgehend dem Reim verpflichtet und alle 5 dichten im Großen und Ganzen nicht allzu "abgehoben", sondern doch noch recht Publikums-zugewandt.
Darüber hinaus ist mir die Hesse'sche Lyrik persönlich zu belehrend und nicht originell genug, alle anderen von Dir genannten sind natürlich subjektiv Hausgötter (Goethe, Heine), gute Kumpels (Rilke, Fontane, Keller, Morgenstern, Eichendorff) oder zumindest sehr wohlgelittene Gäste (Droste-Hülshoff, von Kalckreuth) bzw. angenehme Bekanntschaften (v. Platen, Storm). Und es gibt so viel mehr Namen zu nennen... hunderte... tausende... nur im deutschen Sprachraum...
LG!
S.
« Letzte Änderung: Oktober 09, 2020, 16:22:21 von Sufnus »