Autor Thema: Die Unerlebenden  (Gelesen 860 mal)

Erich Kykal

Die Unerlebenden
« am: Juli 09, 2019, 11:15:21 »
O wenn uns aus dem Reigen der Gesänge
der Welt doch ein besonderer gelänge,
der uns aus dunkelnder Gedanken Enge
zur Flucht bewegte aus dem Fluch der Zwänge!

Gebunden gehen wir durch alles Leben,
ermündigt kaum, das träge Haupt zu heben,
als wüssten wir, was wir zutiefst erstreben,
doch niemals in den Gang der Zeit zu weben.

Verlorene in täglichen Bedenken,
bestimmt, den trüben Blick zu senken,
und alle Wege, die ein Lächeln schenken,
sich bestenfalls zu wünschen und zu denken.

Worin beschließt sich unser wirres Kreisen,
die klammen Tage, die wir stumm bereisen?
Verkümmernd modern wir im Stillen, Leisen
mit jeder Gnade, die wir von uns weisen.
« Letzte Änderung: August 07, 2019, 14:25:27 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Martin Römer

  • Gast
Re: Die Unerlebenden
« Antwort #1 am: Juli 09, 2019, 12:37:32 »
Liebes Adlerlein,

relativ ungewöhnlich, dass du die Moral auf die Gleise des Aufbruchs und der wütenden Menschbeobachtung führst, aber vielleicht ist mein Blick auch verschwommen. Wie das auch sei, "Spott" hast du von mir nicht wirklich zu befürchten.

Was habe ich gestern Abend am See gedacht, von Melancholie übergossen? Das Feigesein ist Dreck, der Übermut schafft schlimme Höllen, eine grausame Quintessenz des Lebens.... hach, den unermüdlichen Leiermann hat mir das Schicksal wohl gestohlen! Aber hier spreche ich nicht von was Heiligem in der Luft, sondern ich mache mir viele Gedanken, wenn der Tag lang ist..... Wie verlangt: ohne Zwänge, ohne Winkel.  :)

Ob sich Annelieselein wieder im Schwelgen verlöre bei diesem Konzept, Haufenreim wohl genannt?

Die Eloquenz kommt dir selbstverständlich niemals abhanden. Vielleicht könnte man dennoch gegen Ende mit einem "allzu" arbeiten, weil zwei hintereinandergeklatschte Substantive von manchen als reizvoll empfunden werden.

Interessant ist die Zeile: "doch niemals in den Gang der Zeit zu weben". Sicher muss dir nicht gesagt werden, in welche Richtung der ganze Haufen Dichter und Schreiberlinge im letzten Jahrtausend ging...

Gibt es einen Impuls? Blick auf den Nachbarn, sozusagen? Ich bin jedenfalls bestrebt, dergleichen wo es passt für die Spannung und wider das Allgemeine einzuflechten.

Es ist eine Crux mit diesen "Menschlichkeiten", ein schmaler Pfad zwischen Überheblichkeit und Schmutz, bliebe vielleicht noch zu tönen.....

Wenigstens kann ich einmal kurz schmunzeln, wenn ich das Haupt mit dem Herzen gleichsetze: dunkel, labyrinthisch, vielleicht auch schrecklich gar, doch blass und leer ganz gewiss nicht! Insofern, wachen Herzens grüßt


das kleine Seemannsgeschöpfelein.

Erich Kykal

Re: Die Unerlebenden
« Antwort #2 am: Juli 09, 2019, 12:59:30 »
Hi Martin!

Danke für den ausführlichen Kommi! Wie kommst du auf "Adlerlein"?  ;D

Das Gedicht ist kein "wütender" Rundumschlag wider die Menschheit, es bezieht sich vielmehr auf einzig jene, die - aus welchen Gründen auch immer - den Arsch nie hochkriegen, um in die Welt hinauszutreten und sich zu verwirklichen. Es ist sicher autobiographisch, aber ich wählte den Plural, um nicht so ganz allein damit dazustehen ...  ::)

Vielen Dank für deine - diesmal sogar meist gut verständlich formulierten  ;) - Gedanken!  :)

Nur im Vorschlag mit "allzu" fehlt wohl ein "nicht" im letzten Gliedsatz ... (die durch Komma getrennten Substantive stören mich nicht, aber ich werde deinen Vorschlag überdenken)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Martin Römer

  • Gast
Re: Die Unerlebenden
« Antwort #3 am: Juli 09, 2019, 22:06:55 »
Liebes Adlerlein,

das so stolz über die grünen Wogen schaut am Rande der Welt und sich am Farbenspiel erfreut gleichwie alles gelassen in die Tiefe rollen sieht und vor dem Unheil offensichtlich nicht erzittert.... Wie doch m e i n e Selbstverwirklichung in einem Bündeln von Possen und in einem Gang zur Düsternis liegen muss! Aber ich sehe mit Ergötzen meinen nächsten Ergüssen samt deinen Worten entgegen!

Mit den Kommentaren ist es ja so eine Sache. Als altes Häslein und Schnüffler ersten Ranges darf ich vielleicht sagen: wie wir manchmal "nichtig" kommunizieren, fast bereitet mir das Seelenpein. Kurz das Dankeswort und den Rest per Telefon? Und wenn Lady Anneliese gar im Stil schrieb von "jetzt hab ich dich vollgedröhnt", stieg mir schon die Zornesröte ins Gesicht!

Sie war ja die wahre Meisterin der Kommentare - tief, facettenreich und doch direkt auf den Punkt. Ihre Selbstdemütigung am laufenden Bande erinnert mich just an ein brennendes Verlangen - mit welchem Glauben ist sie wirklich von uns gegangen? Werde ich erfahren, was die zwei, drei Fragen, die doch ins Nichts gefragt, beinhalteten?

Du blühst ja übrigens immer mehr zum Virtuosen auf, was unser Treiben hier anbelangt. Kein Gedicht, das du nicht nonchalant verschlingen würdest. Eine Konstante ohne Allüren und Marotten....

Für einen autobiographisch genannten Born hast du aber ziemlich breit gestreut. Es gibt da so einen Glauben, dass der wahre Künstler schreiten könne, wie er mag..... dem flögen auch von den lapidaren und sittenlosen Begebenheiten die allgemeingültigen Erkenntnisse und schönsten Melodien zu........

"Die Unerlebenden" - ja.... dein Aug muss unersättlich sein... Im Übrigen ist das tönende Problem nicht vorhanden, wenn zwei Hauptwörter zu einem zerschmelzen..... In solchen Sachen war mein Annelieseleinilein verwegener.... aber mit d i e s e m Blablabla nehme ich schon Gestalt eines Trunkenen an.

Empfange also meinen milden Abendgruß - bis dann:

das kleine Seemannsgeschöpfelein......

Erich Kykal

Re: Die Unerlebenden
« Antwort #4 am: Juli 10, 2019, 13:19:40 »
Hi Martin!

Ja, das "gelassen in die Tiefe rollen Lassen" - natürlich verzweifle ich an der menschlichen Dummheit und der sich stupide wiederholenden Historie mit all den immer gleichen hirnlosen Fehlern, der nackten Gier, des egomanischen Gewinnstrebens, der seelischen Kälte und Grausamkeit der soziopathischen Züge menschlicher Gesellschaft(en), dem Kadavergehorsam manipulierter Massen, der Wohlstandsträgheit, der ich mich selbst anheim gefallen zeichne, der Besserwisserei von Gutmenschen, der aufdringlichen Hybris glaubensdurchglühter Gottestrottel, der rücksichtslosen und kurzsichtigen Vergiftung, Ausbeutung und Ausrottung der Natur, usw - die Liste wäre schier endlos ...

Aber was hülfe es, mich darob aller Lebensfreude zu entschlagen, die ich noch aufzubringen vermag!? Davon, dass ich schmollend und selbstzerfleischend, kummervoll wie stumm anklagend im Kämmerlein hocke oder lauthalsend, aber hilflos und unerwidert wider das empfundene Unrecht aufbegehre, ändert sich im großen Rahmen praktisch gar nichts!

Ja, es gibt diesen hübschen Spruch: Wenn nur genug am gleichen Strang ziehen, können sie den Weltenlauf beeinflussen!
Dazu gilt es zu bemerken, dass zum einen solche Zweckbündnisse für eine "größere Sache" nie lang (genug) halten, weil zu viele Menschen zu viele individuelle Interessen und Ideen haben, wie so eine Sache zu gestalten sei, und zum anderen, dass ich grundsätzlich nicht der Typ für so ein Rudelgeschunkel bin! Alles, was irgendwann dank der menschlichen Natur in Satzungen, Vereinsbroschüren, Parteiprogrammen, Weisungsverordnungen, Regelwerken, Normierungserlässen und starrer Gesetzgebung gerinnt, ist meine Sache nicht.
Allein das endlose Palaver über Detaillösungen, das Bürokraten, Beamten und Politikern offenbar so am Herzen liegt, würde mir in kürzester Zeit den Nerv ziehen!

Ich habe mich seit meiner späteren Kindheit und Jugend eigentlich als Fremdkörper in der menschlichen Gesellschaft betrachtet, so als gälten die kulturellen und sozialen Übereinkünfte nicht für mich, auch wenn ich stets bereit war, die positiven Aspekte auszunutzen. Ich war aber nicht un- oder amoralisch dabei, einfach nur "außenstehend" aus innerer Überzeugung. Der Menschheit fiel das nicht weiter auf, und wenn, wäre es dem größten Anteil auch egal gewesen.
Es war nur mir nicht egal - ich wandte mich enttäuscht und traumatisiert ab und wollte das "Menschenspiel" nicht mitspielen, so weit dies möglich war.

Dazu das letztes Jahr geschriebene Sonett "Waldkind":

Die sanfte Seligkeit entrückter Räume
im Walde heilt die klammen Wesenswunden,
von Menschen zugefügt und tief empfunden,
und lenkt das Seelenboot an weiche Säume

von Nadelduft und Moos, und meine Träume
erwachen wieder wie erneut gefunden
in diesen zeitlos grün erblühten Stunden
im Fall des Lichtes durch das Laub der Bäume.

Ich konnte nie die Menschenspiele spielen,
mit Waffen nicht auf meinesgleichen zielen,
und bitter ließ es mich ihr Hartes büßen.

Allein wo breite Äste knarrend grüßen,
erwachen mir Gedanken, die zu vielen
Gelegenheiten meinen Weg versüßen.


Darum konnte ich auch immer abstreifen, was an Existenzängsten oder Vorurteilen die sozio-kulturelle Übereinkunft um mich herum mir aufzuladen versuchte. Es ging mich einfach nichts an, was diese befangenen Blinden mit sich und der Welt anfingen - ich allein hätte ohnehin nichts daran ändern können, so wie ich als Kind den Mobbern und Demütigern meiner Altersklasse über Jahre hinweg ausgeliefert war. Eltern oder Lehrer vermochten auch nichts daran zu ändern (damals hatte man sich noch selbst zu helfen zu haben, wenn man "ein Mann werden wollte/sollte"), also entwickelte ich ein säuerlich zynisches Mundwerk und trennte mich von allen sozialen Aspekten einer Kultur, die solches Unrecht geschehen ließ.

Dabei blieb es auch für den Rest meines Lebens, und meistens hatte ich nichts zu bereuen. Wenige Male vertraute ich, und bei gut der Hälfte davon wurde ich enttäuscht, die andere Hälfte enttäuschte ich. Blödes Spiel ...

Also zucke ich die Achseln und denke mir: Ich lebe, solang es geht, und wenn ich sterbe, wird mir das annähernd so egal sein wie mein Leben. Dazwischen nehme ich innerlich mit, was ich kann, lasse mich nicht vereinnahmen oder renne gesellschaftlich anerkannten oder gar begehrten Klischeevorstellungen nach. Da halte ich es wie in der Schlußzeile eines Songs von Simon&Garfunkel: "I am a rock, I am an island - `cause a rock feels no pain, and an island never cries."

Dazu das Sonett "Ein neuer Tag" von 2013:

Die junge Welt verblasst im Dunst der Ferne,
ein neuer Tag schlägt seine Lider auf.
Ich atme ein und freue mich darauf -
in solchen Augenblicken bin ich gerne!

An allen Dingen, die ich heute lerne,
erwachse mir ein Geist, der sie versteht
und manche Jahre freundlich mit mir geht,
und weiter endlich in den Staub der Sterne!

Wir sind geboren, um uns zu verlassen,
doch in der Zeit, die wir bewusst erfahren,
in allen Bildern, die wir um uns scharen,

sei tiefes Weltbegreifen und -ermessen,
und alle Weisheit, die wir darin fassen,
versöhne uns mit Scheitern und Vergessen.


LG, eKy



« Letzte Änderung: April 17, 2021, 20:35:33 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Die Unerlebenden
« Antwort #5 am: Juli 16, 2019, 11:53:52 »
Ja, lieber Erich,

der Raum unseres Erlebens ist sehr beschränkt. Man kann daran leiden. Ich tue es nicht. Nicht mehr.

Schön geschrieben, sehr gern gelesen.
Grüße von gummibaum
« Letzte Änderung: Juli 16, 2019, 12:10:15 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Die Unerlebenden
« Antwort #6 am: Juli 16, 2019, 20:16:47 »
Hi Gum!

Ich erlebe es auch an mir selbst: mit zunehmendem Alter ist man dem Diktat der Hormone immer weniger ausgeliefert. Ausgeglichenheit und innere Ruhe ersetzen den (Gefühls-)Sturm und (Erlebnis-)Drang der Jugendjahre.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.