Autor Thema: Poetischer Alptraum  (Gelesen 1735 mal)

AlteLyrikerin

Poetischer Alptraum
« am: Mai 26, 2020, 17:14:42 »
Zu viele Worte sind verbraucht,
ihr Dorniges geglättet,
ihr Schrundiges gefettet
und in den Honigtopf getaucht.

Nur manchmal, in ganz kleinen Stücken,
kann ich ein Wort soweit verrücken -
das einzige, das mich noch hört -
dass es dem Sinn den Rücken kehrt.

Nun kann es frei von allen Zwängen
sich an ein Unsagbares hängen
und treibt in bildlosen Gezeiten,
die seinen Klang zum Schrei ausweiten,

mir wieder zu.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Poetischer Alptraum
« Antwort #1 am: Mai 26, 2020, 17:22:23 »
Für mich ist das Gedicht makellos und ich muss gestehen, dass ich von dir kein Gereimtes kenne? Hm!
Kompliment, wirklich sehr schön! Hier habe ich keine kritischen Gedanken.
Etwas Rilke in der letzten Strophe, etwas Zweig in der zweiten Strophe und etwas Domin in der ersten Strophe. Jedenfalls was Klang betrifft, was es in mir hervorruft.
Eine Kritik an die inflationäre Versprachhabung.  ;D

Ganz wundervoll finde ich diese zwei eingeschobenen Verse, die man eventuell als Paranthese zeigen könnte:

(kann ich ein Wort soweit verrücken
das einzige, das mich noch hört)


Mein Lieblingsgedicht von dir ist das: http://www.poetry.de/showthread.php?t=83050
Das verdient überall gezeigt zu werden.

Nur etwas damit gespielt, kein Vorschlag!

Zu viele Worte sind verbraucht,
ihr Dorniges geglättet,
ihr Schrundiges gefettet
und in den Honigtopf getaucht.

Nur manchmal, in ganz kleinen Stücken,
(kann ich ein Wort soweit verrücken
das einzige, das mich noch hört),
dass es dem Sinn den Rücken kehrt.

Nun kann es frei von allen Zwängen
sich an ein Unsagbares hängen
und treibt in bildlosen Gezeiten,
die seinen Klang zum Schrei ausweiten,

(mir wieder zu.)

vlg

EV
« Letzte Änderung: Mai 26, 2020, 17:32:26 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Poetischer Alptraum
« Antwort #2 am: Mai 26, 2020, 18:40:19 »
Hi AL!

Gefällt mir auch sehr gut, bloß die Schlußzeile erscheint mir sprachklanglich etwas sperrig. Ich würde (runder) schreiben: "die seinen Klang ins Schreien weiten."

Auffallend ist auch der Wechsel des Reimschemas nach S1: ABBA - AABB - AABB. Gewollt oder unbewusst passiert?

Winziges Peanut noch: S3Z3 - "bildlosen" möchte eigentlich NUR auf Silbe eins betont sein, dein Takt zwingt aber die 3. Silbe unnatürlich ins Betonte. Man kann zwar beim Vortrag quasi "drüberschlenzen", aber perfekt ist es nicht.

Natürlich sehr gern gelesen!  :) ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Poetischer Alptraum
« Antwort #3 am: Mai 27, 2020, 13:19:42 »
@Eisenvorhang,

danke für Deinen positiven Kommentar. Ja, Gereimtes habe ich wenig geschrieben. Ich erhielt sogar mal eine PN, dass ich das Reimen wohl nicht könne und bequemerweise auf sogenannte moderne Lyrik ausweichen würde. Die Unterstellung, moderne Lyrik sei aus der Unfähigkeit zu reimen hervorgegangen, finde ich schon abwegig. Ich denke, der Reim ist sozusagen unter Verdacht geraten, allzu harmoniesüchtige Lyrik zu transportieren, die für viele Themen nicht mehr stimmig ist. Eine Untersuchung darüber, warum der Reim in vielen Bereichen aus der Lyrik verschwunden ist, könnte sehr spannend sein.

@Erich Kykal,

Danke auch für Deinen freundlichen Kommentar! Um ehrlich zu sein, ist das Gedicht in einem "Rutsch" entstanden. Ohne langes Suchen nach Reimen oder intensives Feilen. Auf das Reimschema habe ich gar nicht geachtet. Im Vordergrund ging es mir um die Bildsprache für die beabsichtigten Inhalte. Nun könnte natürlich eine zweite Runde des Feilens beginnen dank Deiner konstruktiven Hinweise.

Warum muss das Reimschema in jeder Strophe gleich sein? Es handelt sich schließlich um einen Alptraum (ggg). Dem Thema gemäß hätte ich noch mehr Wirrwarr hinein bringen müssen.

Mit der Betonung von "bildlosen Gezeiten" hast du Recht. Wenn ich das Gedicht laut lese, bekomme ich dennoch kein Problem, weil ich nicht alle Zeilen auf ein gleiches Metrum festlege. Für mich ist wichtig, dass der Rhythmus der einzelnen Zeilen stimmig und flüssig ist. Dabei gestatte ich es mir durchaus, z.B. in einem überwiegend jambisch gehaltenen Gedicht plötzlich einen Daktylus oder Amphibrachys zu benutzen.
Je nachdem, wie man das sehen will, ist das eine schöpferische Abweichung vom klassischen Herkommen, oder vielleicht auch Altersstarrsinn (ggg).

Euch beiden herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

stephanus mall

Re: Poetischer Alptraum
« Antwort #4 am: Juni 01, 2020, 18:25:28 »
Liebe AL,
einfach tolle Sprache möchte ich
einfach ganz platt sagen.
Hat mich begeistert und die Nöte
des Lyrikers blank gelegt.
Sehr, sehr gern gelesen.
LG stm

Sufnus

Re: Poetischer Alptraum
« Antwort #5 am: Juni 01, 2020, 20:00:25 »
Hi liebe AL! :)
Ja das sind wirklich schöne Zeilen (soweit dies bei einem Alptraum eine statthafte Kategorie ist ;) )!
Interessanterweise ist aber für mich nicht ganz klar geworden, worin der Alptraum nun genau besteht:
Ist eher der Einstiegsbefund, der die Abnutzung der Sprache durch unsensiblen Gebrauch schildert, der Gegenstand des Alptraums?
Oder besteht der Alptraum darin, dass ein letztes Wort sich durch behutsames Verrücken ins innbefreite der Verückt-heit davonstiehlt? Das scheint mir eher als wünschenswert geschildert - eine Art retardierendes Moment im Drama.
Oder besteht der Alptraum in der Auflösung der Sprache im Schrei?
Oder im letztlichen Befund, dass der Schrei als Echo wieder auf das lyrische Ich zurückgeworfen wird?
Anders gefragt: Ging es Dir genau um diese Mehrdeutigkeit oder wolltest Du etwas ganz Bestimmtes als Alptraum darstellen? :)
Auf alle Fälle sehr gerne und angeregt gelesen! :)
LG!
S.

AlteLyrikerin

Re: Poetischer Alptraum
« Antwort #6 am: Juni 02, 2020, 16:22:05 »
Herzlichen Dank für Euren Besuch!

@stephanus mall,

vielen Dank für "tolle Sprache". das ist mir natürlich runter gegangen wie Öl.

@Sufnus,
es ging nicht um die Beschreibung eines wirklichen Alptraums. In einem Traum verschieben sich die Bilder und Wahrnehmungen ja oft bis ins Absurde, ja wahnhaft Anmutende. Der Traum sollte mit einer nachvollziehbaren Beschreibung beginnen (Zerfall, Missbrauch, Sinnentleerung von Sprache in Werbung und Medien) und dann langsam immer mehr  kippen ins Irreale (ein Wort, das dem Sinn den Rücken kehrt) und bei dem Versuch sich an ein Unsagbares zu heften, wird dann das Wort vollends zum Schrei. Der Poet scheitert also bei dem Versuch etwas ganz neues, bisher nicht sagbares zu formulieren.

Herzliche Grüße an euch beide, AlteLyrikerin.