Ich hatte früher sieben Tanten,
doch eine, Tante Klärchen,
war mir die liebste der Verwandten,
denn sie erzählte Märchen.
Sie senkte ihren Märchenschatz
tief in die Kinderseele.
Und bettelte ich Hosenmatz:
„Komm Tantchen, komm, erzähle!“
Dann nahm sie zärtlich meine Hand
und strich mir übers Haar
und führte mich durchs Märchenland,
das voller Zauber war.
Ich denke gern an diese Stunden,
hör Tantchen heut noch sagen:
„Es heilt die Poesie die Wunden,
die der Verstand geschlagen.“
Eines Abends war Tante Klärchen bei uns zu Besuch und ich bat sie, mir vor dem Einschlafen noch ein Märchen zu erzählen, aber eines, das ich noch nicht kannte. Dann erzählte sie mir das Märchen "Der Tatzelwurm im Watzelturm". Ich fand den Titel lustig, sie sagte mir, das sei ein Schüttelreim. Damals fing schon meine Liebe zu Schüttelreimen an. Ich habe noch als Kind versucht, die Geschichte in Schüttelreimen nachzuerzählen, was natürlich nicht ging. Nun aber scheint es gelungen...
Das Märchen vom Tatzelwurm im Watzelturm
(nacherzählt in Schüttelreimen von Friedhelm Götz)
I.
Ein Jüngling macht am Sonntagmorgen
sich schon für nächsten Montag Sorgen,
schläft schlecht des Nachts, vor Sorgen müd,
was man am nächsten Morgen sieht.
Am Montagmorgen ist er schlapp,
mit seinem Leben schließt er ab,
Er stürzt sich in den Forgensee.
Da rettet ihn die Sorgenfee.
"Nun hilf mir", sprach sie seelenvoll,
dass dir's an nichts mehr fehlen soll.
Im Turm dort, wo die Wache thront,
mein Mann verhext als Drache wohnt.
Ein Jüngling, der so sorgenvoll
sich stürzen in den Forgen soll,
ward mir vor Zeiten weisgesagt,
Drum auf, mein Held, nun sei's gewagt.
Nur du kannst mit dem Drachen ringen,
in seinen Feuerrachen dringen.
Das Seepferd schon die Lanze schwenkt,
hinauf dich mit dem Schwanze lenkt."
Mit zögerlichem, schwachen Drang
der Jüngling sich zum Drachen schwang.
Schon sah er dort die Wurmgestalt.
Doch ach, wo blieb die Sturmgewalt?
Kein Feuer aus dem Drachen lohte,
der vielmehr laut zu lachen drohte:
"Gestatte, dass ich drüber lache,
ich bin", sprach er, "ein lieber Drache.
Du denkst gewiss, der Drache lügt,
und dass dich mein Gelache trügt.
Ich spei schon lang kein Feuer mehr,
drum sei in dem Gemäuer fair!
Hier oben in dem Watzelturm,
leb ich verhext als Tatzelwurm.
Ich war einst König von Kantur,
so lang, bis Zauberer Tankur,
er nennt sich auch der "Schlangen Boss",
in seinen Bann mich Bangen schloss.
Gebannt hat er im Forgensee
auch meine Frau, die Sorgenfee.
Er hat in seinem Grant gewitzelt,
ein Bild hier an die Wand gekritzelt.
Sprach höhnisch nur: Ein netter Rat,
ein Ritter einst als Retter naht.
Doch überm See Gewitter rollten,
so oft mich retten Ritter wollten,
versanken sie durch Sturms Gewalt,
und mir blieb nur des Wurms Gestalt.
So ward der Ritter Gilde bleich.
Doch du bist ganz dem Bilde gleich!
Und heut noch keine Wetter röhrten.
Nur Mut! Du musst mein Retter werden!"
Der Jüngling fing zu heulen an.
Da krähte laut ein Eulenhahn
(der Wächter, der zum Wachen thront,
verzaubert auch, beim Drachen wohnt):
"Dem Jüngling wohl die Kräfte sanken,
doch helfen Zaubersäfte Kranken.
Trink aus den Kelch, der bitter ist,
und zeig, dass du der Ritter bist!"
Der Jüngling, der kaum Krisen rafft,
bekam auf einmal Riesenkraft.
Er stemmte hoch den Watzelturm,
und warf ihn samt dem Tatzelwurm,
hinunter in den Forgensee,
da jubelte die Sorgenfee.
Der Zaubrer hat im See gewunken
und ist mit lautem Weh gesunken.
II.
Das Königspaar sieht Schlösser ragen,
hört Hufe edler Rösser schlagen.
Von hoher Berge Seilgehänge
ertönen laute Heilgesänge.
Den König noch die Rappen kennen,
die Kinder froh mit Kappen rennen,
und von des Waldes Höhe rasen
auch zur Begrüßung Rehe, Hasen.
Der Retter wird als Held gefeiert,
als General fürs Feld geheuert.
Er hat nun keine Sorgen mehr
und freut sich auf das Morgen sehr.
III.
Der Eulenhahn, wie wunderbar,
entzaubert noch viel bunter war.
Doch weil es ihn im Flachen trog,
er weit fort mit dem Drachen flog.
Schließ Äuglein nun und Öhrchen, Maus,
und schlaf. Jetzt ist das Märchen aus.