Autor Thema: 1914  (Gelesen 1666 mal)

Ingo Baumgartner

1914
« am: Juni 15, 2014, 11:36:10 »
Hohle Phrasen, hingedroschen
und das Denken ist erloschen.
Wenn sich Dumpfheit völkisch gibt,
Geist aus Argumenten siebt,
penetrant und immer wieder,
singt das Volk bald Kampfeslieder.

Kaisertreue, Führerglauben,
die Vernunft ist schnell zu rauben.
Menschen bringt man frömmelnd bei,
dass es Gotteswille sei,
im Hurrageschrei der Horden
Männer, Frauen hinzumorden.

Augenhöhlen, Schenkelstümpfe,
halbzerfleischte Schädel, Rümpfe
lassen dennoch Ehr und Preis
einem menschenfernen Greis
angedeihen. Frauen meinen,
Helden darf man nicht beweinen.

Millionen Leichen liegen
unverscharrt. Sich zu bekriegen,
sagt verlorener Verstand,
nütze nur dem Vaterland.
Viele wollen dem sich fügen,
folgen den infamen Lügen.




« Letzte Änderung: Juni 17, 2014, 10:32:13 von Ingo Baumgartner »

Erich Kykal

Re:1914
« Antwort #1 am: Juni 15, 2014, 12:00:48 »
Hi, Ingo!

"Dulce et decorum est pro patria mori!" - Süß und ehrenvoll ist es, für das Vaterland zu sterben! - wussten schon die alten Römer. Damals waren das aber eben keine "leeren Phrasen", wie man heute mit anderem kulturellem Hintergrund weiß - man glaubte wirklich daran, und die Geschichte gab ihnen recht: ein liberaler Staat hatte damals wesentlich schlechtere Überlebenschancen als einer, der eine Gemeinschaft beschwor, die eisern zusammenhielt und füreinander einstand, ohne lang zu fragen, wer nun im Recht sei! Das ist heute in Biukerclubs noch so: Brüderschaft über alles!
In einer Welt der Sicherheit und des Wohlstandes wie heute fällt es schwer, die Vernunft darin zu erkennen.

Natürlich hatte sich im Laufe der Neuzeit der Krieg fast schon ritualisiert als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln, wie man sagte. Das galt allgemein damals immer noch als lauteres Mittel, staatlichen Willen durchzusetzen und das eigene Land gedeihen zu lassen. Es gab "Erbfeinde", sozusagen Lieblingsgegner. Die Länder vor dem ersten Weltkrieg verhielten sich im Grunde wie konkurrierende Schulhofbanden. Man hatte Wohlstand und Sicherheit erreicht, zumindest in vergleichbar zur Antike hohem Ausmaß, aber das Denken war noch in Stammesstrukturen befangen, die eine Gemeinschaft - die eigene - über alle anderen stellte.

Der in deinem Gedicht menschenferne Greis - soll das Hindenburg sein? Er hat im ersten WK Tannenberg gewonnen und wurde zum Nationalhelden, da war er zwar schon alt, aber noch beileibe kein Greis. Erst als er Hitler vor dem 2. WK zur Macht verhalf, weil er glaubte, Deutschland sei anders nicht mehr regierbar, war er so wie du beschreibst. Wenn du aber beide WKs mischst (siehe auch "Führerglaube", "völkisch",...), solltest du zumindest den Titel angleichen: "1914/1939" oder so...

Tipps:

S2Z4 - besser wäre es für's Metrum, hier zu trennen: "dass es Gottes Wille sei"

S2Z5 - kein Komma.

S3Z2 - dem "halbzerfleischte" fehlt ein "s".

S4Z5 - für's Metrum und die Betonung: "viele wollen dem sich fügen," stilistisch rundere Alternative: "viele wissen sich zu fügen,"

Der Paarreim unterstreicht zwar die emotionale Erregung, wirkt aber - gemessen am schwergewichtigen Inhalt - etwas leiernd, da wäre mir ein kontemplativerer Rhythmus lieber gewesen. Dennoch ein gelungenes Gedicht, das die Sinnlosigkeit der Gewalt und den Wahnsinn jener Zeit gut beschreibt. Damals wusste man einfach nichts vom Grauen des Krieges, man hatte immer noch ritterliche Vorstellungen von Verteidigung auf dem "Feld der Ehre". Grade erst hatte mit Bertha von Suttner und ihrem Buch "Die Waffen nieder!" eine Art Aufklärung begonnen, als die Hurraschreier wieder zu den Fahnen riefen und ganze Schulklassen sich begeistert freiwillig meldeten. Wie "ehrenvoll" das "Feld" dann wirklich war, lernten sie bitter in den Schützengräben, wo sie für minimalen Geländegewinn vier Jahre lang sinnlos verheizt wurden! Erich Maria Remarque beschreibt es später eindrucksvoll in seinem Roman "Im Westen nichts Neues".

Sehr gern gelesen und beklugscheißert! :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:1914
« Antwort #2 am: Juni 15, 2014, 13:40:40 »
Lieber Ingo,


was sollte ich dem Kommentar noch hinzufügen?
Nichts.


Vollständig zustimmenden Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Ingo Baumgartner

Re:1914
« Antwort #3 am: Juni 17, 2014, 10:35:39 »
Danke Erich, für die Hinweise auf meine nie sich bessernde Schlampigkkeit. SDanke auch für deinen ausführlichen Kommentar zur Geisteshaltung dieser Zeit. Mit dem "Greis" spielte ich auf "unseren Kaiser" an, der mit nur in der Person von Karl Heinz Böhm sympathisch ist. :)
Cyparis, auch dir herzlichen Dank fürs Kommentieren.
LG Ingo

Erich Kykal

Re:1914
« Antwort #4 am: Juni 17, 2014, 19:38:11 »
Hi, Ingo!

Ach, der olle Franz Josef! Ich hatte ganz an die deutsche Geschichte gedacht, nicht an die österreichische, deshalb ist mir dieser Gedanke nicht gekommen! Mein Fehler!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.