Autor Thema: Selbst(Doppelsonett)  (Gelesen 832 mal)

Agneta

  • Gast
Selbst(Doppelsonett)
« am: November 11, 2017, 10:04:14 »
Selbst

Die Inszenierung

Er rief nach ihr. So viele stumme Lieder
besangen sie in mancher stillen Nacht,
die er in diesem Hause hat durchwacht.
So viele und sie kamen immer wieder.

Stets war es doch dieselbe Melodie,
die sanft beklagte, was verloren war,
nicht in die rechte Zeit geboren war.
Das dumpfe Weh des immer gleichen Nie.

Er nahm die Frauen wie sie grade kamen,
die Damen, die viel gaben und nichts nahmen.
Und wieder sank ein Abend, nebelgrau,

der ihm die Lieder spann wie blaue Seide
um diese unerreichbar ferne Frau,
und Kerzenschein vergoldete sein Leide.

Die Reduzierung

Nun liegt er hier und nichts ist ihm mehr nah.
Die Weißbetuchten schwirren wie die Bienen.
Sie sprechen leise, ernst sind ihre Mienen.
Jetzt sieht er Frauen wie er nie sie sah,

die zu ihm sprechen wie zu einem Kind.
Was wollen sie von ihm, den sie nicht kennen,
doch seinen Namen sanft und sachlich nennen?
Der Schrank dort, sagen sie, sei nun sein Spind.

Kein Bild hängt an der Wand, das ihm verriet,
wer er wohl wäre und alle jene Fremden,
die kommen mit den Taschen frischer Hemden.

Doch ist da dieses eine stumme Lied,
das heimlich tief in seinem Innern schwingt.
Und eine Fremde sagt: „Es wird! Er singt.“

Erich Kykal

Re: Selbst(Doppelsonett)
« Antwort #1 am: November 11, 2017, 12:44:42 »
Hi Agneta!

Der Lebemann und das unvermeidliche Versickern von Kraft und Esprit - schön verdichtet!

Das zuletzt gesagte "Es wird!" ließ mich erst an einen Unfall mit Gedächtnisverlust denken, aber ich glaube doch, es handelt sich eher um Alzheimer oder Demenz, und er ist in irgendeinem Sanatorium nun dauerhaft untergebracht, weil er allein nicht mehr lebensfähig wäre.

Solche Verläufe zeigen, wie oberflächlich wir meist unser Dasein verbringen, welchen Chimären wir hinterherlaufen, um unser Ego damit zu streicheln und aufzuplustern! Wir hinterlassen keine Spuren - es ist nur eine Frage der Zeit, und die ist geduldig ...
Und dennoch stemmen wir uns instinktiv gegen diese allem innewohnende Bedeutungslosigkeit, schaffen Kunst, erobern Länder, erforschen und erfinden - und müssen dennoch immer scheitern! Dieser hier hat Frauen erobert, ein Don Juan - aber mit dem Tod all dieser Frauen wird auch er vergessen sein.
Der Mangel an höheren Talenten muss um vieles kürzer greifen, was seine kleine Ewigkeit des Überdauerns anbetrifft ...  ::)

Das Ergebnis aber bleibt auch beim Genie dasselbe: Vergessen, zuerst womöglich das eigene, dann irgendwann das der Welt.

Sehr gern und nachdenklich gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: November 12, 2017, 10:57:15 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Selbst(Doppelsonett)
« Antwort #2 am: November 12, 2017, 09:49:46 »
Es freut mich sehr, dass du die Tiefen des Werkes ausgeschöpft hast, lieber Erich und die Facetten, die über eine Liebesgeschichte weit  hinausgehen, so ausführlich bedacht. Ja, genau so war es gemeint.
Auch das Ende hält noch eine Doppelsinnigkeit  in sich:

1. Es könnte sein, dass diese Sehnsucht ihn am Leben erhält ( also eine positive Umkehr) und die Fremde seine Frau ist, die er nicht mehr erkennt.
2. Es könnte aber auch sein, dass die Fremde die Frau ist, nach der er sich lebenslang gesehnt hat und die nun, wo er kein Lebemann mehr sein kann, gekommen ist.
Kafkaesk in jedem Falle, denn das Singen bedeutet bei Demenz eher das Gegenteil von Gesunden. Niemand aber sieht das offenbar.

In all diesen Facetten aber schlummert philosophisch genau das, was du auch herausgelesen hast.
Danke dafür und lG von Agneta

Thomas

Re: Selbst(Doppelsonett)
« Antwort #3 am: Dezember 16, 2017, 20:53:19 »
Liebe Agneta,

Erich hat das wesentliche ja schon ganz richtig gesagt, wie cih meine. Auch in finde es sehr gut gelungen.

In der 5.-letzten Zeile ist es sprachlich und vom Metrum her besser statt "wer er wohl wäre" zu sagen "wer er wohl sei".

Und vielleicht könnte man das doch recht antiquiert klingende "Leide" wegbekommen, z.B. indem man es in "Leiden" verwandel, was natürlich eine Änderung 3 Zeilen darüber erfordern würde. Aber das ist eine Kleinigkeit.

Liebe Grüße
Thomas
S p r i c h t die Seele so spricht ach! schon die S e e l e nicht mehr

(Friedricht Schiller)

Agneta

  • Gast
Re: Selbst(Doppelsonett)
« Antwort #4 am: Dezember 18, 2017, 10:15:37 »
Danke, lieber Thomas, für deine Gedanken. Sie freuen mich. Über deine Erdnüsse will ich gerne nachdenken- nach Weihnachten. Lächeln von Agneta