Autor Thema: Samstagabend in der Stadt  (Gelesen 777 mal)

Erich Kykal

Samstagabend in der Stadt
« am: Dezember 19, 2017, 12:14:58 »
Der Tag ist abgeschminkt, und an der Wolkenwatte
klebt grau der Abrieb noch geschönter Illusionen.
Betäubte Diener, die verstreut darunter wohnen,
vergessen stumm das Licht, das er zu geben hatte.

Entlang des blassen Rinnsteins huscht die erste Ratte
den Resten nach, die ihre dunkle Gier belohnen,
und wesenlose Schatten, die das Auge schonen,
verbergen Krankheit, Staub und alles Übersatte.

Der Rausch der Nacht muss erst noch Anlauf nehmen,
die Wollust räkelt sich in seelentiefen Kissen
ein kleines Weilchen noch, solange das Gewissen

noch Abend fühlt, die grelle Neonflut zu zügeln,
bevor sie sich erhebt, um auf geschwellten Flügeln
zu tun, wofür wir uns im Morgengrauen schämen.
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Thomas

Re: Samstagabend in der Stadt
« Antwort #1 am: Dezember 19, 2017, 16:07:02 »
Lieber Erich,

ein Sonett im Alexandriner, welches nicht, wie so oft im Deutschen, geleiert klingt! Es ist dir sehr gut gelungen, denke ich. Einzig die Überschrift würde ich überdenken, denn die ganze Stadt ist ja ein vielfältiges Ding. Mir scheint z.B. "Bahnhofsviertel" oder "Down Town" besser zu passen als "Stadt".

Liebe Grüße
Thomas
S p r i c h t die Seele so spricht ach! schon die S e e l e nicht mehr

(Friedricht Schiller)

Erich Kykal

Re: Samstagabend in der Stadt
« Antwort #2 am: Dezember 19, 2017, 18:54:09 »
Hi Thomas!

Die "betäubten Diener" beziehen sich ja auf die jeden Tag brav Ackernden, die dann Samstag Abend die lang unterdrückte Sau rauslassen. So gesehen ist schon die ganze Stadt involviert. Dass es für die wochenendlichen Vergnügungen eigene Viertel und Ecken gibt, weiß wohl eh jeder.
Aus diesem Grund möchte ich den Titel so lassen.

Vielen Dank für das positive Echo!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 09, 2022, 10:30:56 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Samstagabend in der Stadt
« Antwort #3 am: Dezember 20, 2017, 10:35:57 »
Lieber Erich, lieber Thomas,

ich sehe hier zwar kein Alexandriner-Sonett(wo wäre die Zäsur?) aber dennoch ein fantastisches Sonett.
Ungaublich tolle Formulierungen, die Kopfkino starten und einen direkt in die Stadt versetzen, in denen biedere Schlipsträger, wenn sie auf Messen sind, mutieren. Das geheuchelte Angepasstsein unserer Gesellschaftsträger ist dem Autor sehr wichtig, in vielen Bildern zeigt er die Diskrepanz: die ersten beiden Zeilen sehr stark mit dem abgeschminkten Tag, Abrieb, betäubte Diener, wesenlose Schatten.

Auch, dass es sich hier um Sexualtität m weitesten Sinne handelt, wird mit starken Bildern belegt, seelentiefe Kissen , erhebt, geschwellte Flügel.
Hier ist dir ein Meisterwerk gelungen, Erich, das ich schon mehrfach gelesen habe, aber erst jetzt kommentiere, weil ich mir Zeit dafür nehmen wollte.

Die negative Wertung, die das Werk enthält, heucheln, sich anpassen und dann geheim eine andere Seite zeigen, da gehe ich mit.
Bezüglich des sexuellen Auslebens, das gerade die Stadt in einigen Vierteln bietet, das sehe ich nicht so negativ, denn das ist eine Konsumbasis, von der beide Beteiligten wissen. Ob man da ein schlechtes Gewissen haben muss und sich schämen, das sehe ich auch nicht so eng. Prostitution hat Nachfrage, wie gesagt, ein Geschäft. Männer, die nicht gebunden sind finden dort einen Ausgleich.
Über Zwangsprostitution müssen wir nicht reden, das ist schändlich. Bei nicht gebundenen Männern, naja, da wären wir wieder beim Heuchen…
Dein Werk hat also ein großes Spektrum zum Nachdenken.
Siehst mich begeistert.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Samstagabend in der Stadt
« Antwort #4 am: Dezember 20, 2017, 10:50:13 »
Hi Agneta!

Nein, man muss kein schlechtes Gewissen haben, wenn man sich Prostituierter bedient, schließlich ist es ein Geschäft auf freiwilliger Basis - abgesehen von den mit Versprechungen verlockten naiven Ostblockmädchen, die hier dann quasi versklavt und ausgebeutet werden ...
Oder abgesehen davon, man wäre verheiratet und hätte Kinder, dann wäre das schon ein Grund, sich zu schämen, von unwissentlich übertragenen Geschlechtskrankheiten oder gar Aids ganz zu schweigen ...
Oder abgesehen davon, man wäre schwul, hätte aber nie dazu stehen können und spielte tagsüber den braven Ehegatten und Vater ...
Oder abesehen von den dunklen, illegalen Gefilden der Sexindustrie wie Kindersex, aufgezwungener Sadismus oder Tötungsfantasien ...

Oder abgesehen davon, dass man ein verklemmter Scheinheiliger ist wie meine Protagonisten: Tagsüber brave Systembüttel, nachts die wilde Sau rauslassend. Zu "Zucht und Ordnung" sowie bigotter Angepasstenmoral erzogen, schämen diese Tretmühlenesel sich durchaus ihrer Lüste - aber die sind eben stärker! Wenn das mit dem Verzicht zugunsten einer "höheren Idee" so einfach wäre, hätte die katholische Kirche mit ihrem Zölibatsanspruch keine Probleme mit unehelichen Pfarrerskindern oder missbrauchten Ministranten und Heimkindern!

Der verstiegene Anspruch unserer Kulturfassade macht automatisch das schlechte Gewissen, wie aufgeklärt man selber auch sein mag. Man ist einfach geprägt davon, ob man will oder nicht. Das wird sich auch so schnell nicht ändern - das Schmuddelimage wird der käuflichen Liebe bleiben.

In meinem Gedicht muss es aber gar nicht unbedingt um Prostitution gehen. Es gibt andere Formen des Missbrauchs: An uns selbst durch exzessiven Alkoholgenuss und Enthemmung, die zu unbedachten Handlungen führt, an anderen, indem wir "Bräute aufreißen", nur um nach dem One-Night-Stand zu verschwinden, ohne Bedenken, ob der Partner wohl mehr darin sehen wollte, oder man lauert heimlich hinter Büschen, um sich vor Passanten zu entblößen, oder um einsame Opfer ins Dunkel zu zerren ...

Vielen Dank für dein begeistertes Lob!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 09, 2022, 10:33:13 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.