Autor Thema: Alterszynismus  (Gelesen 862 mal)

Erich Kykal

Alterszynismus
« am: M?RZ 19, 2019, 01:23:41 »
Am Wollen ausgekühlt verliere ich im Schatten
ein Weilchen Zeit und suche nach Gedanken,
die einst Bedeutung trugen, als sie Leben hatten
aus nunmehr welkem Sein, das sie umranken.

Ein sanftgemutes Ahnen ungetrübter Tage
klingt durch die stummen Stunden mir herauf,
und wie ein alter Sang aus Märchenwelt und Sage
zwingt es die Pforten meiner Seele auf.

Was bin ich, dass ich giftig nichts mehr gelten lasse,
das nicht wie ich so willenlos und kalt
beschreibt, was ich am Bilde aller Jugend hasse?
Was bin ich, blindes Schicksal, wenn nicht alt!?


Ein altes Werk von 2011 ("Schicksalsfrage"), stark überarbeitet und hoffentlich passender betitelt.
« Letzte Änderung: M?RZ 20, 2022, 13:57:28 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Alterszynismus
« Antwort #1 am: M?RZ 29, 2019, 13:09:01 »
Hi eKy!
Wie schön, dass Du dieses feine Jugendwerk ;) aus einer früheren Schaffensperiode noch einmal ans wärmende Licht der Wiese geholt hast!
Es ist quasi ein klassisches Gegenmodell zu den von Dir kürzlich erprobten Querreimen: Hier sind sowohl die Hebungen (abwechselnd 6 und 5) also auch die Endreime im Kreuzschema (ABAB) gestaltet, so dass sich reimende Zeilen immer die gleiche Anzahl an Hebungen aufweisen. Es wäre einmal ein interessantes Experiment, wie sich der Ton des Gedichts ändert, wenn z. B. entweder die Hebungen oder die Reimendungen umarmend (also ABBA usw.) gestaltet würden, so dass ein Querreim-Muster entsteht.
Was mich aber ganz besonders erfreut hat, ist die Mittelstrophe: Ich weiß nicht, ob das Absicht war oder nicht, aber Du benutzt in dieser Strophe genau die Reimendungen der Z. 9 bis 12 von Goethes "Zueignung", sogar fast mit den identischen Wörtern - nur "herauf" und "auf" sind vertauscht.
Ob nun gewollt oder nicht, ist das natürlich eine sehr beziehungsreiche Anspielung auf ein Gedicht, das sich ebenfalls mit der Frage nach der Wirksamkeit einer fernen Jugendvergangenheit für unser altersmüdes Heute beschäftigt. Eine schöne Meta-Ebene, die Du so in Dein Werk eingeflochten hast, lieber eKy! :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Alterszynismus
« Antwort #2 am: M?RZ 29, 2019, 20:18:37 »
Hi Suf!

Vielen Dank für das satte Lob und die so profunde Analyse, bis hin zur Anspielung auf Goethe's Faust, bzw. der "Zueignung" vorneweg und dem "Vorspiel auf dem Theater".

Besagte Zueignung ist eins meiner Lieblingsgedichte von Goethe, und sicher eine der schönsten Stellen im Faust, auch wenn kaum jemand das wahrzunehmen scheint.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Alterszynismus
« Antwort #3 am: April 05, 2019, 11:43:04 »
stark, lieber Erich. Am Wollen ausgekühlt..., da muss man nichts hinzufügen.
Viele alte Menschen empfinden wohl so, sind unzufrieden und nörgelig.Wenn man auf sein Leben zurückblickt und zufrieden mit dem ist, was man schaffte, kann man positiver alt werden und sein. Ich sehe es aber hier im neuen Umfeld auch, wo viele alte Menschen leben, dass die meistn von ihnen wohl eher in dein Bild hier passen. Traurig eigentlich.
Frustriert bis zum geht nicht mehr und zänkisch.
Schade.
LGvn Agneta

Erich Kykal

Re: Alterszynismus
« Antwort #4 am: April 05, 2019, 20:42:41 »
Hi Agneta!

Ich habe mich selbst immer als eher verkrachte Existenz gesehen, einen "verhinderten Künstler", der nie den Mut hatte, wirklich seinen Weg zu gehen, und in Bequemlichkeit und Alltagsroutine versank und verkümmerte. Aus meinem erheblichen Talenten für Zeichnen, Malen und Bildhauerei habe ich nie wirklich etwas gemacht, und damals dachte ich schon lang nicht mehr an meine bessserwisserischen Teenagergedichte.

Erst seit ich (wieder) Lyrik schaffe, erlaube ich mir ab und an ein Quentchen Selbstzufriedenheit und Stolz, vor allem, wenn ich so betrachte, was im Lauf der letzten 15 Jahre daraus geworden ist. Nicht dass ich dem Bedeutung im Übermaß beimäße - aber es erlaubt mir, mich mit manchem zu versöhnen.
Dennoch gibt es weiterhin Momente wie den oben beschriebenen, vor allem, wenn mein in Jahrzehnten wohlgewetztes Mundwerk wieder mal schneller war als gütige Überlegung, weil ich mich in solchen Momenten nicht an der Welt gereift fühle, sondern von ihr betrogen und vergessen - wenn dummer Hochmut und Eigensinn schlechte Ratgeber waren und ich wieder mal keinem anderen vergönnen wollte, sich wohler fühlen zu dürfen als ich.  ::) :(

Die späte Reue bringt dann solche Gedichte hervor ...

Vielen Dank für deine Gedanken!  :)

LG, eKy
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