Autor Thema: Das wilde Tier namens Zeit  (Gelesen 596 mal)

Erich Kykal

Das wilde Tier namens Zeit
« am: Oktober 15, 2019, 23:12:29 »
Es jagt uns, beißt uns, hängt uns an den Hacken
und zerrt das liebe Leben uns heraus,
macht kalt die Räume, tut die Lichter aus
und lässt die alten Knochen hörbar knacken.

In jedem Sterben zeigt es seine Krallen,
erinnert uns daran: Wir sind die Beute,
entkriechen einem Gestern durch ein Heute
dem Morgen zu, danach wir alternd fallen.

Und doch, es schenkt uns leuchtende Geschichten,
getragen durch sein Haar von tausend Stimmen
an warmen Feuern, die aus Höhlen glimmen,
von großen Abenteuern zu berichten,

seit wir erzählen können, seit wir Worte kennen,
die raunend unser Innerstes berühren,
durch große Taten und an Orte führen,
wo aller Heiligtümer Kerzen brennen.

Wir kommen, sind, und müssen wieder gehen,
sind nichts als Augenblicke in Geschichten,
erzählt von jenen, die von uns berichten,
wenn sie uns träumerisch vor Augen sehen.

Das wilde Tier – das lodernde Vermächtnis,
die Brücken, die uns zu den Ahnen tragen,
der schwarze Abgrund, den sie überragen:
Vergessen - oder ewiges Gedächtnis.
« Letzte Änderung: Januar 04, 2021, 19:50:06 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Das wilde Tier namens Zeit
« Antwort #1 am: Januar 16, 2020, 15:40:19 »
Eine geradezu schamanische Beschwörung der Erinnerungs- und Bewahrungskraft, die dem menschlichen Reden innewohnt! Der Umschwung vom Lamento-Gestus in S1 und S2 in das Hohelied (sic!) der schildernden Beredsamkeit ist wahrlich mitreißend. Gut gebrüllt, Löwe!!!

Erich Kykal

Re: Das wilde Tier namens Zeit
« Antwort #2 am: Januar 20, 2020, 22:33:48 »
Hi Suf!

Natürlich ist nichts ewig, schon gar kein menschliches Gedenken - aber der Gedanke ist tröstlich und hilft uns über unser Winzigsein in diesem beängstigenden Universum hinweg.

Ich wollte an dieses rhetorische menschliche Talent erinnern - das Geschichtenerzählen!

Vielen Dank für das positive Echo!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Das wilde Tier namens Zeit
« Antwort #3 am: Januar 21, 2020, 14:30:46 »
Ich finde ganz besonders schön, wie Du in Deinen Zeilen mit dem Bild des Feuers operierst: Nicht nur als Verweis auf den Beginn der oralen Kultur im Schein der offenen Feuer steinzeitlicher Frühkulturen, sondern auch im Bild, dass in Form der Geschichten ein Licht weitergetragen wird gegen die Dunkelheit des Vergessens und der Unkultur.

Erich Kykal

Re: Das wilde Tier namens Zeit
« Antwort #4 am: Januar 25, 2020, 12:06:31 »
Danke!

Das Licht der Hoffnung - alle Religionen dieser Welt begannen ja auch "nur" als Geschichten. Nicht, dass dies sie mir sympathischer machte, aber das psychologische Moment ist eben nicht zu unterschätzen.  ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.