Autor Thema: Frei nach Wittgenstein  (Gelesen 1369 mal)

gummibaum

Frei nach Wittgenstein
« am: April 15, 2020, 11:27:20 »
Was weißt du, Freund, von meinem Herz,
als könntest du erkennen,
was uns ein Wort wie Glück und Schmerz
ganz wie ein Ding benennen?

Der Gesten wirst du nur gewahr,
der Mienen, die ich trage,
und fühlst und schließt dann offenbar,
ich wär in deiner Lage.

Kein tiefes Innen gibt sich preis
in diesen flachen Zeichen.
Nur was man aus sich selber weiß,
kann einer Wahrheit gleichen…
« Letzte Änderung: April 15, 2020, 22:57:09 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Frei nach Wittgenstein
« Antwort #1 am: April 15, 2020, 13:20:39 »
Hi Gum!

Sehr schön  - du hast gerade eine philosophische Phase.

S1Z3 - Ich hätte geschrieben: "was Worte uns wie Glück und Schmerz", denn es sind ja unzweifelhaft zwei Begriffe, also Plural. Damit deine Version formal stimmig wäre, müsstest du "oder" statt "und" einsetzen, aber das würde mit der Metrik kollidieren.

S2Z1/S3Z2 - Die Wortwiederholung von "Zeichen" ist mir hier doch aufgefallen. Wie wäre es, in S2 stattdessen "Gesten" zu schreiben?


Es geht darum, dass wir von uns auf andere schließen, dass wir die "Zeichen" in unserem Sinne auslegen und ähnliche Erfahrungen unterstellen, wie wir sie selbst in deren Zusammenhang gemacht haben. Das ist empathiebildend, aber es kann auch sehr in die Irre führen - und es macht uns anfällig für Manipulation und Suggestion. Leider sind wir als soziale Wesen nun mal so gestrickt. Wäre es nicht so, wir würden den lieben langen Tag damit zubringen, uns einander zu erklären, und kämen zu sonst nichts mehr!
Sozialer und kultureller Kontext wird vorausgesetzt, damit ein reibungsloses Miteinander Zeit und Mühen sparen hilft, und wir erweitern das gern auf den persönlichen Erfahrungsschatz und unsere Selbsterforschung, die wir anderen überstülpen, als könnte es nicht anders sein für jene, mit denen wir interagieren.

Ein befreundeter Kabarettist beschrieb das mal so: Er kannte einen, der mit absoluter Überzeugung davon schwärmte, dass sich doch JEDER brennend für das englische Königshaus interessieren würde: Was die Prinzen gerade mit wem machten, wie es der Queen ginge, und den Gesundheitszustand von Prinzgemahl Phillip.
Und wie unmöglich dieser Person klarzumachen gewesen sei, dass dem NICHT so wäre - sie war so intensiv in dieses Thema eingewoben, dass sie jedes objektive Maß für die Realität verloren hatte und automatisch schloss, jeder andere würde dasselbe Interesse teilen.
Diese Sorte Mensch langweilt dann seine Umgebung mit endlos langen und langweilig detailreichen Vorträgen über das so geliebte "Fachgebiet", ohne zu merken, wie sehr sie ihr Umfeld damit nerven!

Mir erging es so, als ich als Student (noch) Gedichte schrieb: In der Mensa war es schon ein Running Gag: "Alles unter die Tische, der Kykal kommt mit einem neuen Gedicht!" Erst viel später wurde mir klar (weil freundlich, aber bestimmt klar GEMACHT), dass andere sich NICHT so brennend für Wortkunst interessierten wie ich! Und mit Reimen würde ohnehin keiner mehr schreiben. Ich zog mich gekränkt zurück und schrieb an die 25 Jahre gar nichts mehr ...

Jaja, die Verscherungen dank unserer unzulänglichen Kommunikationsmöglichkeiten und sozialen Hemmungen ...  ::) ;D

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Frei nach Wittgenstein
« Antwort #2 am: April 15, 2020, 13:42:04 »
"Alles unter die Tische, der Kykal kommt mit einem neuen Gedicht!" Erst viel später wurde mir klar (weil freundlich, aber bestimmt klar GEMACHT), dass andere sich NICHT so brennend für Wortkunst interessierten wie ich! Und mit Reimen würde ohnehin keiner mehr schreiben. Ich zog mich gekränkt zurück und schrieb an die 25 Jahre gar nichts mehr ...

Jaja, die Verscherungen dank unserer unzulänglichen Kommunikationsmöglichkeiten und sozialen Hemmungen ...  ::) ;D

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy

Eher umgekehrt war es für mich als junger Jugendlicher, so mit 10 - 15... Ich wurde wegen eines Gedichtes und meiner Vorliebe zur Sprache gemobbt, weswegen ich bis 2017 nichts mehr schrieb!
Das letzte was ich aus meinem Fundus noch habe, ist vom 13.05.2001

Maria

Ich schaute in die Wolken
und legte meine Jugend
auf ewig rote Lippen.

Ich dachte nicht, ich lebte
und sah der Schwalben Spiel
im Fliederhimmel ziehn.

Wann werde ich dich wiedersehn?

Das möchte ich dich fragen,
doch traue ich mich nicht,
weil mich die Zweifel plagen.

Hi Gummibaum,

verbirgt sich in Strophe eins die Abbildrelation von Wittgenstein?

vlg

EV

Erich Kykal

Re: Frei nach Wittgenstein
« Antwort #3 am: April 15, 2020, 14:19:53 »
Hi Gum!

Empfindsame Seelen sind eben auch empfindliche Seelen!  ;) ::)

Auch ich wurde jahrelang als Schüler gemobbt - damals nicht der Lyrik wegen, sondern weil ich als Einzelkind sozial unerfahren, gehemmt und sonderbar war, zudem äußerlich unattraktiv, dick und klein mit Brille und "braver" Scheitelfrisur, mit "uncoolen" Klamotten. Dazu kam meinerseits - leider - eine gewisse Egomanie und Arroganz des Außenseiters, der sich nichts gefallen lassen wollte.

LG, eKy

PS: Antwortest du dir da etwa selbst am Ende nach dem "Maria"-Gedicht?  ??? :D
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Frei nach Wittgenstein
« Antwort #4 am: April 15, 2020, 20:49:36 »
Hi Gum!


 ;D Wenn schon, dann bin ich ein Gummibaum im Miniformat! O0

Nein, es ist nur eine Ergänzung was Maria angeht.
Und hier im Faden eigentlich auch völlig unwichtig.
(Nicht mein Faden)

vlg

EV

Erich Kykal

Re: Frei nach Wittgenstein
« Antwort #5 am: April 15, 2020, 20:59:51 »
Hi EV!

Sorry - da war ich wohl noch etwas im Tran. Dachte, Gummibaum hätte mir geantwortet ...

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Frei nach Wittgenstein
« Antwort #6 am: April 15, 2020, 23:07:14 »
Danke, lieber Erich,

für die unterhaltsamen Zeilen. Allzu einseitig begabte und dazu etwas sonderbare Menschen haben es schwer. Die "Geste" habe ich gern übernommen.


Danke, lieber Eisenvorhang. Wittgensteins "Privatsprache" (Philosophische Untersuchungen).


Euch herzlichlich Grüße
gummibaum