Hi!
Vielen lieben Dank, gute AL, dass Du diesem Thread Deine Gedanken leihst!
Ich glaube, Du greifst einen wirklich wichtigen kritischen Gedanken von EV zu reimloser und metrisch ungebundener, "moderner Lyrik" auf (ich gebrauche den Begriff "moderne Lyrik" mal noch, bis wir eine Bessere Bezeichnung gefunden haben, Martin und eky haben ja erklärt, dass für sie dieser Begriff einen Widerspruch in sich selbst darstellt).
Jedenfalls hat EV darauf hingewiesen, dass für ihn die Verwendung von Reim ganz wesentlich ist, um eine emotionale Berührtheit herzustellen. Reimlose, "moderne Lyrik" wäre demnach tendenziell immer eher "verkopft" (da spricht eKy dann von Hirnwixerei

) und hätte nicht diese emotionale Unmittelbarkeit, die ein (gut gemachter) gereimter Text erzeugen kann.
Du widersprichst nun, liebe AL, und führst als Beispiel das Gedicht "Wen es trifft" von Hilde Domin auf. Ob dieses Beispiel nun als Beleg für die berührende Wirkung ungereimter Lyrik taugt oder nicht, ist natürlich wieder von Leser zu Leser sehr unterschiedlich, aber was ich wirklich eklatant fand, war die schiere Länge dieses Gedichts! Das gibt mir Gelegenheit einen wesentlichen Anspruch zu formulieren, den ich an Lyrik (und Gedichte - ich verwende die beiden Begriffe ziemlich synonym) stelle: Sie müssen (für mich - persönliche Meinung!) ziemlich kurz sein.
Einige meiner liebsten Gedichte (ob nun "modern" oder "traditionell") sind sogar ganz kurz, teilweise nur einstrophige Vierzeiler und ein Grund, warum ich Sonette so liebe, liegt in ihrer relativen Kürze. Gedichte, die den Rahmen einer üblichen Normseite sprengen, haben bei mir schon einen etwas schwereren Stand und alles, was den Umfang der zweiten Seite überragt, ist für mich fast sicher raus.... dass dieses private Kriterium durchaus anfechtbar ist, will ich natürlich nicht leugnen, aber ein bisschen liegt es sogar im Zug der Zeit... hier kommen mir die meisten modernen Gedichte eher entgegen, die auch häufig zu einer gewissen Knappheit neigen. Zwar ist das Langgedicht nie ausgestorben (der Begriff "Langgedicht" ist im Deutschen sogar ausgesprochen eng mit Diskussionen um "moderne Lyrik" verknüpft), aber in meiner Wahrnehmung hat mit dem Niedergang erzählender Lyrik ab dem Eingang des 20. Jahrhunderts die Bedeutung langer (willkürlich: bis 3-10 Normseiten) und überlanger (> 10 Normseiten) Gedichte abgenommen, auch wenn sich natürlich nach wie vor auch moderne Vertreter finden lassen (Maren Kames als wohl jüngste, bekannte Beiträgerin zu diesem Thema).
Ich glaube, ein langes Gedicht fühlt sich für mich in der Regel einengend an, es enthält fast immer "zu wenig weißen Rand", der mich dazu einlädt, die Bilder weiterzuträumen. Es geht mir also bei "kurzer Lyrik" nicht um Verdichtung (ein häufiges, aber m. E. falsches Wortspiel, Gedicht mit "dicht" zu verknüpfen), es geht mir um das Unausgesprochene, Unentwickelte, um das Fragmentarische im Gedicht. Darum liebe ich auch die Fragmente antiker Dichter so sehr, die ursprünglich sicher sorgfältig ausgearbeitete Verse waren, "bis zum Rand ausgemalt", und die sich nur durch die Verwitterung der Schriftrollen ins Fragmentarische gewandelt haben, nicht immer zu ihrem Nachteil!

LG!
S.
P.S.:
Ein ellenlanges Plädoyer für die Knappheit... ist es nicht ironisch... wir lieben immer das, was uns am meisten fehlt...
