Autor Thema: Falten  (Gelesen 1314 mal)

AlteLyrikerin

Falten
« am: Juni 03, 2020, 11:56:38 »
Mein Antlitz prägte nie das Ebenmaß aus Samothrake.
Die Nase, immer schon zu groß, blieb sich darin stets treu.

Pfirsichhaut hat nicht lang vertraut der Mär vom glatten Leben.
Erzählt inzwischen ungeschminkt von prall gefüllten Jahren.

Von Siegen, die zu viel gekostet, von Niederlagen, die mir Not getan.
Von stillen Glücksmomenten, ganz umsonst zu haben.

Von wirren Eskapaden, viel zu hoch bezahlt.
Von glatten Straßen ohne Ankunft und weglosem Zufriedensein.

Zum Weichbild will ich mir nicht glätten, die Runen meines Seins,
die sich dereinst entfalten zum oft durchkreuzten Wort, das bleibt.
« Letzte Änderung: Juni 04, 2020, 11:07:06 von AlteLyrikerin »

Erich Kykal

Re: Falten
« Antwort #1 am: Juni 03, 2020, 12:17:06 »
Hi AL!

Metrisch uneinheitlich, und natürlich ungereimt. Eher einzelne Sätze der Weisheit, die ein ausgefülltes Leben schenkt, ob man will oder nicht.  ;) Ist ja auch okay, aber ob die gehobene Sprachhabung und ein paar leichte Inversionen schon ausreichen, um Lyrik auszumachen - da scheiden sich die Geister (naja, meiner zumindest ...  ;)).

S2Z2 - Die Kommata vor und nach "ungeschminkt" sind eigentlich überflüssig, bestenfalls ein Stilmittel zur Hervorhebung, damit ein Vortragender den Sprachfluss absetzt und das Wort betont. Aber würde ein Vortragender das schon aus der Satzmelodie heraus nicht ohnehin tun?

S4Z2 - Das "Zufiredensein" ist hier ein Nomen und sollte zusammen und groß geschrieben werden im hauptwörtlichen Gebrauch.

S5Z1 - Das Komma nach "glätten" ist zuviel, der Satz ist bloß inversiv, aber es ist immer noch nur ein einziger Satzteil mit "Die Runen meines Seins" als Objekt im vierten Fall.

Interessiert gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Falten
« Antwort #2 am: Juni 03, 2020, 15:16:48 »
Hi AL!
Deine Zeilen sind für mich inhaltlich ganz wunderbar und poetologisch auch sehr stimmig konzeptioniert... aber sie bräuchten noch etwas mehr Liebe zum Detail um mich zu bezaubern.
Mein gewichtigster Einwand: Die samothrakische Nike, auf die hier offenbar angespielt wird, hat keinen Kopf (mehr)... das ist als Metapher für ein faltenloses Antlitz schwierig... und jetzt sag nicht, dass Du das extra gemacht hast... dann würden diese schönen Zeilen eher ins Dadaistische abkippen und ich müsste lesegedanklich völlig neu ansetzen. ;)
Ansonsten ist das Gedicht nicht ganz so reimfrei, wie eKy konstatiert: "Samothrake" und "treu", "Leben" und "Jahren" sowie "Seins" und "bleibt" sind sozusagen rudimentäre "Reimvorstufen" und ihre Verwendung dürfte kein reiner Zufall sein: Mal "reimen" sich die Vokale (Seins und bleibt), mal "reimen" sich die Konsonanten (-thrake und treu), mal gibt es einen Gleichklang auf der unbetonten Silbe (Leben und Jahren). :) Ich mag dieses Proto-Reimen - und es ist durchaus seit einigen Jahren auch sehr "en vogue" in der Lyrik; ein Kompromiss zwischen der "Regellosigkeit" des freien, ungereimten, "modernen" Redens und dem strengen "Korsett" des Endreims, der oft genug dem armen Poeten diktiert, was er zu schreiben hat, "um des Reimes willen"... :) Ebensowenig Zufall dürfte der Binnenreim "Pfirsichhaut" - "vertraut" sein :) Das Gedicht gibt also eine Menge an formaler Artistik her, was schön ist, aber einige Zeilen wirken da vergleichsweise noch unfertig, vor allem die fehlende Proto-Reimung in Z. 7 und 8 stört mich etwas (immerhin "reimt" sich Z. 8 wieder beinahe mit Z.9) :)
Und die metrische Desorganisiertheit von Z3 kommt mir auch ein bisschen unordentlich vor.
Klingt jetzt irgendwie alles mäkelig... ist aber natürlich nicht bös gemeint und soll nicht verschleiern, dass die Deine Zeilen mit großem Genuss konsumiert habe. :)
LG!
S.
EDIT: Irgendwie ist mir heute mittag die Hälfte meiner Gedanken beim Absanden abhanden gekommen - daher hier eine geupdatede Version meines Kommentars. ;)
« Letzte Änderung: Juni 03, 2020, 20:20:02 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Falten
« Antwort #3 am: Juni 04, 2020, 11:09:59 »
Herzlichen Dank für die ausführlichen Kommentare!

@Erich,

vielen Dank für die Korrekturen bzgl. Zeichensetzung und Großschreibung! Du fragst zweifelnd
Zitat
ob die gehobene Sprachhabung und ein paar leichte Inversionen schon ausreichen, um Lyrik auszumachen
. Da danke ich Dir sehr für Deine Offenheit. Ich habe kurz darüber nachgedacht, ob es sinnvoll ist, die Kriterien aufzuzählen, die Lyriktexte von Prosatexten unterscheiden, um dann nachzuweisen, dass einige von ihnen in dem Text durchaus vorhanden sind. Aber ich denke, darum geht es gar nicht. Deine Auffassung von Lyrik unterscheidet sich etwas von meiner. Das darf und soll aber auch so sein. Ich respektiere Dein Fachwissen und Deine Meinung hierzu.
Für mich widerspricht es der Lebendigkeit und Lebensnähe von Lyrik sie auf alte Formen und "klassische" Stilmittel festzulegen, so wunderschön diese auch sind, wenn sie gekonnt verwendet werden. Wäre das nicht so (übertragen auf andere Kunstrichtungen) als wolle man moderne Maler auf die Malweise der alten Meister festlegen? Ich werde mir erlauben immer wieder Versuche einzustellen, die meine ureigenste Art mit Metaphern und Klängen zu arbeiten wiedergeben. Vielleicht ist ja irgendwann einmal ein Gedicht dabei, das trotz des Fehlens von regelmäßiger Metrik und Endreimen bei Dir ein Schmunzeln oder ein Nachsinnen auslösen kann.

@Sufnus,
ja, der Kopf der samothrakischen Nike wurde nie gefunden. Das war mir beim Schreiben des Gedichtes bekannt. Unter anderem richten sich ja die Verse gegen den Jugendwahn und den in bestimmten Milieus propagierten Zwang, wie man auszusehen hat, der schon junge Mädchen dazu führt ihre Lippen aufspritzen oder ihre Nase "verschönern" zu lassen. Da wird eine Schimäre von Schönheit beworben und verkauft, die in keinerlei Hinsicht einer realen Notwendigkeit entspricht. Die Begründung entzieht sich jeder Nachvollziehbarkeit wie die Schönheit des Gesichtes der Nike dem Betrachter. Was die anderen Punkte angeht (u.a. metrische Desorganisiertheit von Z3), werde ich das Gedicht noch einmal laut lesen und kritisch darüber nachdenken.
Herzlichen Dank jedenfalls für Deine Hinweise.

Herzliche Grüße an Euch beide, AlteLyrikerin.

« Letzte Änderung: Juni 04, 2020, 11:34:00 von AlteLyrikerin »