Autor Thema: Sommersonne und Ratio  (Gelesen 1075 mal)

AlteLyrikerin

Sommersonne und Ratio
« am: Juni 05, 2020, 14:14:03 »
Wenn so wie heut' das Sonnenlicht
aus meiner Seele Blüten bricht,
mit deren Duft die Freude leis
ins Denken schleicht, das dann nichts weiß

von egozentrischer Phobie,
und so, in sel'ger Amnesie,
ein Lächeln mir ins Antlitz schreibt,
das nicht so lange bei mir bleibt,

weil meine Ratio, aufgeschreckt,
von hochdosierter Emotion,
für die sie keinen Grund entdeckt,

(ein Anfall gar von Religion)
mir wolkenschwere Thesen schickt,
wodurch die Blüten abgeknickt!
« Letzte Änderung: Juni 05, 2020, 14:16:19 von AlteLyrikerin »

Sufnus

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #1 am: August 17, 2020, 17:03:40 »
Liebe AL,
wie schade, dass dieses schöne, aus einem einzigen langen Satz bestehende Sonett noch nicht kommentiert wurde! :) Der Effekt des nicht endenwollenden Bandwurmsatzes über vier Strophen ist äußerst erheiternd und kontrastiert mit der üblichen "Gravitas", die man sowohl mit der strengen Sonettform als auch dem physikotheologisch aufgeladenen philosophischen Grundthema der Zeilen verbinden könnte... fast schlägt eine gewisse anakreontische Heiterkeit durch... :)
Einen kleinen, aber nicht ganz ungewichtigen Einwand hätte ich aber doch: Der Satz ist leider unvollständig, es fehlt der Hauptsatz im Satzgefüge... das kann natürlich selbst wieder ein gewollter komischer Effekt sein, aber der würde dann m. E. die Zeilen etwas denunzieren, denn er fehlende Hauptsatz müsste ja gerade den Effekt der meteorologischen Sinnstiftung beinhalten, so dass sein Abhandenkommen eine etwas nihilistische Gestimmtheit anmoderiert.
Dennoch schon sehr gerne gelesen... eine Version 2.0 mit vollständigem Satzgefüge erfreute mich noch etwas mehr! :)
LG!
S.

Erich Kykal

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #2 am: August 17, 2020, 22:33:04 »
Hi AL!

Muss ich dazumals übersehen haben. Schließe mich Sufs Kommi inhaltlich an, bemerke weiters aber, dass offenbar auch das Reimschema der Quartette experimentell ist, denn beim "normalen" Sonett hat's da umarmende Reime, gleich oder gespiegelt: ABBA-ABBA oder ABBA-BAAB.
Beim "modernen" Sonett müssen die Reime in den beiden Quartetten nicht mehr dieselben sein, es ginge heutzutage also auch ABBA-CDDC. Aber eben auch umarmend.

Bonmot: Mehr als ein Drittel der Sonette in meinem ersten Bildgedichtband "Seltsame Sonette" hat in den Quartetten das Schema ABAB - weil ich damals die Sonettregeln noch  nicht gekannt hatte und dennoch dachte, ich wüsste Bescheid! Ich mischte diese Werke, die mir zu schade zum "Entsorgen" waren, später bunt unter die restlichen und wählte den Buchtitel entsprechend so, als handelte es sich um ein bewusst so gestaltetes lyrisches Experiment. Schlau, oder?  ;) ;D 8)

Gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #3 am: August 22, 2020, 16:56:37 »
Lieber Sufnus,


herzlichen Dank für Deinen ausführlichen und wohlwollenden Kommentar. Ja, wo bleibt der Hauptsatz? Der ist aufgefressen worden von der Grübelei des LyrI über seine grundlose Freude, also ebenso plötzlich verschwunden, wie die aufblühenden, inneren Blumen der Freude.


Hintergrund der Verse: Ich stehe an einer Ampelkreuzung in Regensburg. Die Sonne scheint und ich nehme das strahlende Licht plötzlich ganz bewusst wahr. Unwillkürlich und unbemerkt ist da plötzlich ein intensives Lächeln in meinem Gesicht. Fast hätte ich mich selbst gefragt, "warum lächelst du so blöd"? Der Zauber dieses Sommeraugenblicks verschwand in dem Moment, in dem ich dieser Frage Raum gegeben hatte.


Dieser "Bandwurmsatz" entstand dann im Weitergehen - an ein Sonett dachte ich gar nicht -, da ich nichts zu schreiben dabei hatte, lernte ich ihn auswendig, um ihn zu Hause aufzuschreiben.


Hallo Erich,
auch Dir herzlichen Dank. Wie du aus dem Vorausgehenden lesen kannst, hatte ich überhaupt nicht vor ein Sonett zu schreiben. Die Regel mit den umarmenden Reimen war mir durchaus schon bekannt. Aber wie Du ja weist, bin ich jemand, der nicht regelkonform schreibt.


Herzliche Grüße, Euch beiden, AlteLyrikerin.

Agneta

  • Gast
Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #4 am: August 22, 2020, 19:26:30 »
ich dachte auch, dass es eher nicht als Sonett angelegt ist, aber es hat durchaus das gewisse Pathos eines Sonettes. Ratio gegen den Moment der Emotion, gefällt mir sehr gut, liebe AL. LG von Agneta

AlteLyrikerin

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #5 am: August 22, 2020, 19:36:33 »
Liebe Agneta,


herzlichen Dank für Dein "gefällt mir sehr gut", worüber ich mich sehr gefreut habe.
Liebe Grüße, AlteLyrikerin.

Eleonore

  • Gast
Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #6 am: August 22, 2020, 20:41:18 »
Liebe Alte Lyrikerin,

ich mag den Satz sehr:

Vertrauen ist eine Oase im Herzen, die die Karawane des Denkens niemals erreichen kann.

So schön beschreibst Du den Vorgang,
der viele auch zu dem Satz verleitet:
"Freu Dich nicht zu früh"
oder
"Man_vrau soll den Tag nicht vor dem Abend loben".

Selige Amnesie ist die Umschreibung eines eigentlich wundervollen Zustandes.
Jedoch unsere Ratio -verbündet mit allen, für die Pflicht und Arbeit und Ackern und Wissen
an erster Stelle stehen-
beäugt diesen mit äußerstem Mißtrauen.
Amnesie .... der Verlust unserer vermeintlich wichtigesten Instanz -
das kann nicht angehen -- sei sie auch noch so selig!

Ich erinnere mich,
als ich mal auf Samos, vor vllt. drei Jahrzehnten-
völlig hingegeben an Griechische Lebensart, Meer und Sonne
mich von den Wellen ans Ufer tragen ließ
und das unwiderstehliche Gefühl entwickelte,
eine Muschel zu sein.
*seufz*

Sehr gerne gelesen und darüber nachgedacht,
was mir Blüten aus der Seele brechen lässt
und was dies verhindert.

lG Eleonore
« Letzte Änderung: August 22, 2020, 20:56:01 von Eleonore »

AlteLyrikerin

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #7 am: August 24, 2020, 12:33:17 »
Liebe Eleonore,


vielen Dank für Deinen ausführlichen und wertschätzenden Kommentar, auch dafür, dass Du Dein Griechenlanderlebnis mitgeteilt hast.
Ja, die Verwerfungen in unserer Gesellschaft, die durch ein diktatorisches Primat der Ökonomie entstanden sind und weiter entstehen, das ist eines meiner zentralen Themen.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #8 am: August 24, 2020, 12:43:57 »
Hi, Ihr Lieben!

Zur Sonett-Diskussion:
Ganz so eindeutig ist das mit dem Reimschema beim Sonett nicht (allerdings hat eKy schon recht, dass der umarmende Reim die "klassische" Form darstellt).

Wenn wir zu den frühesten Anfängen des Sonetts zurückwandern, also zu seinem "Erfinder", nämlich Giacomo da Lentini* (ca. 1210 - ca. 1260), finden wir keineswegs einen umarmenden Reim in den Quartetten , sondern das Schema:
A-B-A-B // A-B-A-B,
also Kreuzreime.

Ein halbes Jahrhundert später begegnen uns bei Guittone d'Arezzo und Dante Alighieri Sonette mit Kreuzreimen wie bei Lentini oder mit den "klassischen" umarmenden Reimen. Interessanterweise hat Guittone d'Arezzo teilweise auch mit ziemlich "wilden" Schemata in seinen Quartetten experimentiert z. B. ein Schema A-B-A-A // B-B-B-A (wär das nicht mal was für Dich, eKy, als gewieftem Sprachakrobat?). Mit Petrarca (nochmal ca. 50 Jahre später) werden dann die umarmende Reimen A-B-B-A // A-B-B-A erst einmal zum Standard erhoben.

Aber die Angelsachsen (wieder 150 Jahre nach Petrarca) sind unter Spenser und Shakespeare wieder ausgebüchst und zum Kreuzreim zurückgekehrt, wobei sie auch gleich noch das Strophenschema änderten und anstelle der zwei Quartette gefolgt von zwei Terzetten auf eine Einteilung in drei Quartette und ein Couplet wechselten.

Ein sehr früher (allerdings nicht der erste) deutscher Sonett-Dichter, Johann Fischart (1546-1591, also nur wenig älter als die zwei englischen Kollegen) hat wiederum eine eigene Variante bevorzugt: umarmende Reime, aber mit neuen Reimendungen in Z6 und 7: A-B-B-A // A-C-C-A. Dieser originelle Autor hat aber auch experimentelle Sonette mit Haufenreim geschrieben: A-A-A-A // A-B-B-A.

Und zum Abschluss des Exkurses noch ein Sonett (oder eine "Art" Sonett) mit Paarreim im zweiten Quartett; dieses Spottgedicht geistert teilweise in Werksverzeichnissen von Schiller herum und stammt aus dieser Zeit, ist aber wohl von anderer Hand verfasst worden:

Anonym

Passanten-Zettel am Tor der Hölle

Früh morgens zehen Advokaten
zu Pferd, acht Schreiber hinterdrein,
darauf ein Herr mit runden Waden,
soll gar ein Hum! gewesen sein.

Mittags ein Jud, drei Rezensenten,
drauf acht besoffene Studenten,
ein gar fürnehmer Herr, hopp hopp,
im majestätischen Galopp,

nach Mittag mit zerzausten Haaren
ein Heer versoffener Husaren,
voran Sn. Gnaden Herr Major –

zuletzt – doch nur gemach ihr Herren!
Wills denn zum jüngsten Tage währen?
Und plötzlich fiel der Schlagbaum vor.

***

Item am Tor des Himmels.

Vor Mittag nichts – mittags ein Heid, zwei Kinder;
spät abends noch – ein armer Sünder.


LG!

S.

----
*Anm.: Ob Lentini wirklich der (alleinige) Erfinder des Sonetts ist, darüber kann herzlich debattiert werden. Ziemlich sicher ist, dass diese Gedichtform in Sizilien am Hofe des Staufer-Kaisers Friedrich II entstanden ist. Lentini war als Beamter am Kaiserhof tätig und Mitglied einer Dichterrunde. Auch einige andere Poeten dieser Runde, z. B. Jacopo Mostacci und Pier della Vigna, verfassten Sonette, teilweise auch als "Antworten" auf Sonette von Lentini. Von Letzterem stammen aber mit Abstand die meisten überlieferten Sonette aus dieser ganz frühen Epoche.
« Letzte Änderung: August 24, 2020, 12:45:46 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #9 am: August 24, 2020, 13:07:02 »
Lieber Sufnus,


herzlichen Dank für Deinen kurzweiligen Rückblick auf die Geschichte der Entwicklung des Sonetts. Er bestätigt auch meine Meinung. Lyrische Formen entstehen, erleben eine Hochzeit ihrer Wertschätzung, entwickeln sich weiter und werden in späteren Zeiten vielleicht adaptiert ganz gegen die Regeln ihrer Erfinder.
Liebe Grüße, AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #10 am: August 24, 2020, 14:50:02 »
Hi AL!

Freut mich, wenn der Streifzug durch 800 Jahre Sonettgeschichte zumindest Dich nicht gelangweilt hat! :) Mich als altem Traditionalisten freut in dieser Angelegenheit besonders, dass auch in der etwas Regel-skeptischen Weise der heutigen Poeten die Sonettenwut (Goethe, siehe unten) immer noch virulent ist. Selbst hochbepreisten hehren Geistern der modernen Lyrik geht der Stift zuweilen in Sonetten durch bis hin zu fulminanten Sonettenkränzen (Jan Wagner) :) Es ist wohl - horribile dictu - eine unausrottbare Seuche... und damit zu Goethe...

Nemesis

Wenn durch das Volk die grimme Seuche wütet,
soll man vorsichtig die Gesellschaft lassen:
Auch hab' ich oft mit Zaudern und Verpassen
vor mancher Influenza mich gehütet.

Und ob gleich Amor öfters mich begütet,
mocht' ich zuletzt mich nicht mit ihm befassen.
So ging mir's auch mit jenen Lacrimassen,
als vier - und dreifach reimend sie gebrütet.

Nun aber folgt die Strafe dem Verächter,
als wenn die Schlangenfackel der Erinnen
von Berg zu Tal, von Land zu Meer ihn triebe.

Ich höre wohl der Genien Gelächter;
doch trennet mich von jeglichem Besinnen
Sonettenwut und Raserei der Liebe.


Übrigens waren Sonette zum Ende des 18. Jahrhunderts total "out" und der gute Goethe hat, um das Jahr 1800 von plötzlicher "Sonettenwut" befallen, kräftig dazu beigetragen, die Form wieder zu popularisieren. :)

LG!

S.

Erich Kykal

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #11 am: August 24, 2020, 20:13:52 »
Auch von mir Dank, lieber Suf, für deinen profunden Exkurs in Sachen Sonett.

Ich bin ja selbst, obschon ich die "klassische" Form (ohne gewisse lyrisch allzu einengende Spitzfindigkeiten, die nur hemdsärmeligen Pharisäern eingefallen sein können!) am schönsten finde, durchaus kein rigider Verfechter strenger Ordnung! Neben meinen frühen (aus Unwissenheit im Kreuzreim verfassten) Sonetten habe ich so gut wie jede von dir erwähnte Form selbst irgendwann ausprobiert, und noch einige andere mehr, zB vier- oder sechshebige, welche mit betontem Auftakt oder männlichen Kadenzen, oder mit gemischten Kadenzen, oder nur mit einem einzigen, oder nur 2 Reimen insgesamt, und anderes mehr. Mehrere hundert Sonette sind es bereits, and manches eben durchaus experimentell.

Die meisten "Sonderregeln" lehne ich ab, zB. die strenge Einteilung in These, Antithese und Synthese, oder dass die beiden letzten Zeilen sich nicht reimen dürften - wer um Himmels willen durfte nach persönlichem Geschmack denn wohl bestimmen, dies sei irgendwie "lyrisch unfein"!? So ein Schwachfug!

Goethe, den alten "heimlichen Muselman" auf seinem östlichen Diwan, bewundere ich aus manchen Gründen, weniger für seine Sonette. Siehe "Nemesis": In S1Z2 gibt es einen betonten Auftakt - zumindest will diese Zeile, wie von Goethe formuliert, so gelesen sein. Ein eindeutiger Schnitzer des Genies ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 24, 2020, 20:15:35 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #12 am: August 26, 2020, 11:08:19 »
Goethe, den alten "heimlichen Muselman" auf seinem östlichen Diwan, bewundere ich aus manchen Gründen, weniger für seine Sonette. Siehe "Nemesis": In S1Z2 gibt es einen betonten Auftakt - zumindest will diese Zeile, wie von Goethe formuliert, so gelesen sein. Ein eindeutiger Schnitzer des Genies ...

Als begeisterten Leser Goethescher Lyrik erfreut mich Deine Bewunderung für das Werk des Geheimrates sehr (mit dem man menschlich ja leider einige Probleme haben muss) und Deine Bewertung als Genie kann ich nur unterstreichen. Dabei erhebt sich der olle Zausel (vielleicht auch wegen seiner menschlich-moralischen Gebrechen) in meinem lyrischen Erleben nie auf einen hohen Sockel, sondern bleibt immer "nahbar" (was er im persönlichen Umgang sicher nicht war).
Umso mehr muss ich aber als Goethelyrikbewunderer dagegen protestieren, dem Alten sei in seinem Sonett Nemesis ein "Schnitzer" unterlaufen! ;)
Goethe war in der Wahl seiner lyrischen Bilder nur mittel-originell und kein besonders einfallsreicher Reimwort-Finder. Auch seine intellektuellen Leistungen können wohl mit Schiller nicht ganz mithalten (überragen allerdings immer noch fast die gesamte sonstige Konkurrenz). Wo er aber wirklich unübertroffen war und bis auf den heutigen Tag blieb, das ist seine reiche Sprache und seine Musikalität. Goethe konnte mit völliger Leichtigkeit unfallfrei ein Gedicht in jedem beliebigen Metrum bauen und dabei den Rhythmus dem Inhalt anpassen (vgl. die beiden Gedichte "Meeresstille" und "Glückliche Fahrt"). Aber sehr oft hat Goethe unglaubliche rhythmische Stolperer in Gedichten eingebaut. Eine plötzliche Formschwäche des Dichters? Kaum... der Goethe hat sich dabei immer etwas gedacht... :)
Um im Beispiel, der von eKy gerügten Zeile 2, zu bleiben: Es stimmt schon: Diese Zeile ist schwierig, ja praktisch unmöglich, klassisch akzentuiert zu lesen. Selbst ein betonter Auftakt löst die Akzentuierungsschwierigkeiten nicht völlig. Wenn man so liest (betonte Silben fett): "Soll man vor-sich-tig" kommt man ab der nächsten Silbe in Schwulitäten, entweder man liest das "die" betont, dann muss man nach vor-sich-tig eine brachiale Sprechpause zum Luftholen einlegen und das "die" betonen wie einen Donnerschlag (was diesem harmlosen Artikelchen irgendwie nicht gerecht wird) oder man liest unbetont weiter, dann kann man erst wieder bei "Ge-sell-schaft" eine Betonung definieren, hätte dadurch aber vier (!) unbetonte Silben hinter einander, was jedem Metrum total zuwiderläuft (im Deutschen sind schon drei unbetonte Silben hinter einander ein Problem). Ein weiterer (Nicht-)Ausweg, nämlich "...vor-sich-tig die Ge-sell-schaft" zu lesen, erzeugt eine völlig schräge Betonung auf "-sich". Bleibt noch die letzte Möglichkeit, am Anfang "soll man" unbetont zu lesen und erst bei "vor-sich-tig" die erste Betonung zu sprechen. Auch dann hat man wieder den sehr unhandlichen Superakzent auf dem folgenden "die" (siehe oben), der die Zeile rhythmisch ins Schlingern bringt. Also, was tun, sprach Zeus?
Die Lösung, auf die der Goethe hinauswill, ist weitgehend unakzentuiert, mit schwebenden Betonungen, zu lesen. Dabei schweben fast alle Silben etwa auf gleicher Akzentstärke, außer dem "vor" von vorsichtig:
"soll man vor-sich-tig die Ge-"
Erst ab dem "sell" von Gesellschaft geht es dann mit abwechselnd akzentuierten Silben weiter "sell-schaft las-sen".
Der Effekt ist, dass man diese Zeile sehr vorsichtig lesen muss und das Wort vorsichtig dabei betont wird. Und das ist kein Schnitzer sondern überaus raffiniert. ;)

LG!

S. (Team Goethe)
« Letzte Änderung: August 26, 2020, 11:13:55 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Sommersonne und Ratio
« Antwort #13 am: August 26, 2020, 12:50:56 »
Hi Suf!

Zugestanden, allerdings sollte man meinen, dass man sich den ganzen "Schwebe"-Stress mit einer geeigneten Umformulierung gleich ganz hätte schenken können. Optimal ist die Stelle so oder so nicht gelöst.

Und nebenbei: Deine Anwendung des Terminus "Schwulitäten" in eindeutig negativer Konnotation, namlich als Umschreibung für Schwierigkeiten, Unregelmäßigkeiten oder Fehler, muss man als politisch unkorrekt und beleidigend für die Vertreter dieses Lebensstils betrachten.  :P ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.