Autor Thema: Probleme der traditionellen Lyrik  (Gelesen 3368 mal)

Sufnus

Probleme der traditionellen Lyrik
« am: Oktober 26, 2020, 14:38:18 »
Probleme der traditionellen Lyrik

Ihr Lieben!

Anbei einmal eine kurze Skizze, nicht wirklich zu einer fertigen Conclusio ausgeführt, zu "Problemen der traditionellen Lyrik".

Das ganze ist natürlich mehr als nur ein Echo von Benns "Problemen der Lyrik".

Als Einstieg mal ein Beispiel, wie ein traditionelles Gedicht aussehen könnte, dem ein paar typische poetologische Mishaps unterlaufen:


Gleichnis

Das kranke Jahr liegt leidend in den letzten Zügen,
es träumt den wunderschönen Traum vom Sommerglück
noch einmal und dann muss sein Mut sich leise fügen.
Nie führt ein Weg zu alter Herrlichkeit zurück.

So gehn auch wir nur einmal durch die Lebenszeiten
und eng und enger wird allmählich unsre Spur,
vorbei sind irgendwann die freien Möglichkeiten.
Es bleibt zuletzt als Trost das alte Glück uns nur.


Ich habe dieses Gedicht entworfen, um aufzuzeigen, wo traditionelle Lyrik den Bereich des Poetischen verlassen kann und ins Schematische und Leblose abrutschen kann, wenn sie nicht aufpasst. :)

1. Inhaltlich-gedankliche Probleme
Im Bereich der Gedankenführung ist ein immer wieder kehrender wunder Punkt traditioneller Laien-Lyrik, dass diese ein Bild entwirft (vorzugsweise ein Bild aus der Natur, vgl. Strophe 1 des Beispielgedichts) und dann dem Leser eine Deutung vor den Latz knallt (vgl. die "Übertragung" des Naturbildes in Strophe 2).
Hieraus ergeben sich zwei Schwierigkeiten:
Erstens ist kaum ein Mensch so originell, dass er ständig allgemeingewinnbringende Deutungen und Lehren von sich geben kann... meist kommt da doch recht Banales bei heraus.
Man betrachte z. B. die Trivialitäten, die selbst ein so bedeutender Dichter wie Hesse in seinen Lehrgedichten von sich gibt und die nur durch ihre sprachliche Hochglanzveredelung zu hypnotisieren wissen. Wenn man die "Moral" eines typischen Hesse-Gedichts (z. B. die nicht totzukriegenden "Stufen") mal in normale Sprache übersetzt, bleibt gar nicht so viel Erhellendes übrig: "Wenn irgendwas zu ende geht, dann fängt bestimmt irgendwas anderes neu an... also lass mal den Kopf nicht zu sehr hängen!". Wow!
Das zweite Problem, welches die ständige Deutungssucht von medioker gemachter, traditioneller Lyrik mit sich bringt, besteht darin, dass durch eine fertig fabrizierte Deutung dem Leser eine gedankliche Zwangsjacke angelegt wird.
Vielleicht ist unser Leser ja gar kein ausgesprochener Frühlings- (Heuschnupfen!) und Sommer- (Sonnenstich und modische Entgleisungen allüberall!) Fan... und jetzt wird ihm in obigem "Gleichnis" vorgekaut, dass der wonnigliche Herbst mit seiner herzerfrischenden Neblichkeit ein Sinnbild für das eigene Altern und Absterben ist (was für ein origineller Gedanke - dergleichen hat man ja noch nie gehört!).
Man darf als Autor dem Leser ruhig ein bisschen eigenen Gedankenschmalz zutrauen, er wird den Verfasser dann vielleicht mit schönen Deutungen überraschen, auf die jener im Leben nicht gekommen wär. :)

2. Sprachliche Probleme
Im Bereich der Sprache ist ein typischer "Schnitzer", dass Verben sowie Adjektiven/Adverbien zu viel Raum im Gedicht gegeben wird.
Adjektive und Adverbien häufen sich meist aus metrischen Gründen: "Das Jahr liegt in den letzten Zügen" hat zwei Heber zuwenig, also wird das eh schon in den letzten Zügen liegende Jahr auch noch als "krank" und "leidend" deklariert, was angesichts der respiratorischen Agonie als getrost überflüssige Information gewertet werden darf. Dito, dass der Traum vom Sommerglück "wunderschön" war... ja was denn sonst?!
Nun... die Kritik an wuchernden Adjektiven ist nicht neu, aber sie muss immer wieder neu geübt werden, weil die Biester einfach nicht loszuwerden sind.
Fast immer finden sich - etwas Autorenmühe vorausgesetzt - Hauptwörter, die weitaus stärker sind als das Normalo-Substantiv plus blasses Adjektiv: "Greis", "Wrack" oder "Methusalix" ist (jedes auf seine Art) viel wirkungsvoller als "alter Mann" und Herzensveilchen, Rosengalore oder Rabattensau sagen so viel mehr aus als "schöne Blume".... etcpp...
Bei den Verben ist es ein bisschen weniger offensichtlich. Gegen ein schönes Verb ist ja im Prinzip nichts einzuwenden, es gibt viele Verben, die unsere Fantasie zu entzünden wissen. Ein nicht zu unterschätzender Nachteil von Verben besteht aber darin, dass diese Wörtchen aus einem unvollständigen einen vollständigen Satz machen. So wünschenswert aber diese Komplettierung in einem Schüleraufsatz ist, so ist es doch in Gedichten oft ratsam, es bei einem hingetupften Halbsatz zu belassen, den der Leser mit eigenen Sinnbausteinen zu einer fertigen Legofigur zu ergänzen in den Stand gesetzt wird. Achtet mal im Beispielgedicht darauf, dass in jeder Zeile ein Verb (ggf. sogar noch mit Hilfsverb-Unterstützung) vorkommt. Dem Leser wird hier praktisch kein gedanklicher Freiraum gestattet, alles ist vollkommen festgelegt und statisch.

Aber Rummäkeln ist immer leichter als Bessermachen. Also zur Fortführung der Diskussion hier mal ein Beispiel, das sich auch eines regelhaften Reims und geordneter Metrik bedient, aber bei hoheitlichen Deutungen, Adjektiven und Verben Zurückhaltung obwalten lässt.
Natürlich sehe ich schon die Kritiker, die mir vorhalten, dass doch das erste Beispielgedicht viiiiiel "schöner" ist als das zweite. Je nun. Dem habe ich vorab nur zu entgegnen, dass Beispiel Nummero 1 ja auch nicht plump-denunziatorisch verfasst wurde, sondern durchaus mit jener Minimalmühe, die die Fairness gebietet und dass wiederum Beispiel 2 auch nur eine Etüde sein will und soll und kein "eigenständiges", "gelungenes" Poem.

Fensterlaune

Die Regenakribie,
das Kachelmanngehabe
als Abschiedssinfonie,
ob Schwalbe oder Rabe,

das Jahr wird ausgebrütet:
Azorisch, Westwindtraum,
ein Herzsprung, herbstvergütet
im laubgeschmückten Raum.

Unstrittig ist jedenfalls, dass durch die Auslassung "unnötiger" Adjektive und Verben die Zeilen sehr verknappt werden. Das schadet ganz ohne Zweifel dem Sprachfluss, der Melodie. Allerdings wäre diese Problem durch Zusammenziehungen von Zeilen und neue Reimwörter durchaus zu kurieren. Dafür bin ich jetzt aber zu faul....  ;D

Ich hoffe aber zumindest, mögliche Klippen rübergebracht zu haben, die es bei traditioneller Lyrik zu umschiffen gilt. :)











« Letzte Änderung: Oktober 27, 2020, 12:17:38 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Probleme der traditionellen Lyrik
« Antwort #1 am: Oktober 26, 2020, 15:46:08 »
Hi Suf!

"eigentständiges" und "Unstittig ist jedenfalls" wären zu korrigieren.

Die ewige Frage, die du hier in zwei Extrempositionen kleidest - wie wird "klassische" Lyrik als "am schönsten" empfunden? Tja, unmöglich zu sagen, da jeder Leser/Hörer sein "Schönes" anders definiert, seinen Kunstanspruch anders verortet. Man wird es also ohnehin nie jedem recht machen.

Ich finde, wenn es gelingt, authentisch und sich selbst treu zu schreiben, ohne Belehrungsanspruch oder Pathos, aber mit Liebe zur Sprache, wie man selbst sie als schön empfindet - DANN kann es sein, dass man ein guter Dichter gewesen sein mag, wenn die Nachwelt oder Zeitgeschmack denn mit Glück so entscheiden.

Aus Letzterem heraus werde ich ebenfalls zu den Vergessenen gehören - oder vielmehr zu jenen, die man sich erst gar nicht gemerkt oder überhaupt BEmerkt hat. Stört mich nicht - ich schreibe, wie ICH es für mich als gut und schön empfinde, ich ich gebe einen trockenen Furz auf jene, die mit der Mode des Augenblicks winken, um sich einem Literatur"betrieb" anzudienen, der hauptsächlich von elitär selbstgefälligen, Rollkragenpullover tragenen "Kulturbeflissenen mangels eigenen Talents für irgendwas" getragen wird.  ;)

Interessiert gelesen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Oktober 26, 2020, 15:48:47 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Probleme der traditionellen Lyrik
« Antwort #2 am: Oktober 27, 2020, 12:16:31 »
Hi eKy!
Dankeschön für die Korrekturhinweise! Wird eingepflegt! :)
Und natürlich hast Du vollkommen recht mit dem Hinweis, dass Kunst und Ästhetik allzusehr ein subjektives Momentum haben, als dass man hier verbindliche Maßstäbe sinnvoll "durchsetzbar" sein könnten. :)
Es gibt aber m. E. doch eine Art künstlerisch-ästhetischen Magnetpol, der eine gewisse  "Üblichkeit" anzeigt. Diese "Üblichkeit" muss und soll man dabei gar nicht als ein allgemeinverbindliches Axiom betrachten - es geht doch nichts über eine schöne Privatästhetik, aber man sollte idealerweise um die persönliche Abweichung vom ästhetischen Comment wissen.
Da nun die Mehrzahl der Menschen in künstlerischen Belangen über relativ wenig Erfahrung verfügen (ich rede nicht von Talent!), ist diese "Üblichkeit" meines Erachtens aber nicht sinnvoll qua demokratischer Abstimmung zu erlangen. Auf Gedichte runtergebrochen, macht es z.B. wenig Sinn, eine Fußgängerzonen-Umfrage zu veranstalten, was denn ein schönes Gedicht auszeichne, wenn die Befragten gar keine Kenne davon haben, was es auf dem Gebiet der Lyrik so alles an Wunderlichem zu bestaunen gibt.
Ich würde daher bei ästhetisch-künstlerische Maßstäben folgende Voraussetzungen für praktikabel halten:
1. Diese Maßstäbe dürfen und sollen nicht verbindlich sein.
2. Sie sollten sich aus dem Diskurs von Kennern der Materie ergeben.
3. Sie sind nicht in Stein gemeißelt, sondern unterliegen dem kulturellen Wandel.
4. Sie sollten in einer einleuchtenden Weise auch einem "Laien" vermittelbar sein.
5. Sie sollten keinesfalls besonders ernst genommen werden.
Wie man sieht, bin ich auf dem künstlerlisch-ästhetischen Gebiet weder Dogmatiker noch Solipsist und keinesfalls ein "lupenreiner Demokrat", eher Aristokrat mit einer gehörigen Portion Anarchismus. :)
LG!
S.
« Letzte Änderung: Oktober 27, 2020, 16:23:11 von Sufnus »

Rocco

Re: Probleme der traditionellen Lyrik
« Antwort #3 am: November 28, 2021, 15:07:54 »
Hallo Sufnus,

die Anregungen deines Einstiegspost nehme ich gerne auf.

Mich beschäftigt der Inhalt sehr. Bei Aphorismen hat man es leichter, da sie von Gedanken leben. Daher sollte man sich immer schlau machen, was es im Bereich Wissenschaft Neues gibt.

Karl Kraus, etwa, hat sich mit Philosophie und Sprache beschäftigt. Später kam noch die Psychoanalyse hinzu. So kam er darauf, Neues zu dichten.

Was ist mit der Lyrik? Nehmen wir die Expressionisten. Benn, Heym, Lasker-Schüler usw. Waren sie inhaltlich neu? Nicht wirklich. Benn sticht heraus, weil er, zum Beispiel, über Ratten in Frauenleichen und Krebskranke geschrieben hat.

Ein Denker war er aber nicht, siehe sein Intermezzo mit den Nazis.

Georg Heym war auch kein Denker, aber seine Bildkraft war enorm. Etwa: Der Gott der Stadt. Oder: Der Krieg.

Ebenso Lasker-Schüler, eine Jüdin, die über Gott gedichtet hat. Erkenntnisse sucht man hier auch vergebens, aber anmutig sind ihre Bilder noch immer.

Was ist mit Brecht? Ein Marxist müsste doch Neues zu bieten haben? "Erst kommt das Fressen, dann die Moral." Richtig. Aber ist das neu? Arbeiter, ihr müsst euch gegen eure Ausbeuter solidarisieren. Richtig. Aber das ist Klassenkampf.

Warum sollen Gedichte Neues bieten?

In einem Liebeslied sagt Er zu Ihr: "Ich liebe dich!" Und dazu schildert er, wie verrückt sie ihn macht. Wissen wir Hörer das alles nicht schon vorher? Trotzdem lauschen wir. Nicht weil es neu ist, sondern, weil wir wissen, was kommt.

Neu sein kann eine Sicht auf Dinge. Metaphern können neu und ungewöhnlich sein. Meinetwegen auch ein Thema, etwa: Schwarze Löcher.

Aber was sollte ich Neues über Schwarze Löcher schreiben? Bin ich Physiker?

Ich glaube, wir können unsere Sprache meistern und Leser unterhalten, etwa so wie Hesse. Und das war es dann auch, selbst bei Schwarzen Löchern.

Oder?
« Letzte Änderung: November 28, 2021, 15:11:03 von Rocco »
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher