Autor Thema: Vis à vis  (Gelesen 767 mal)

AlteLyrikerin

Vis à vis
« am: Februar 12, 2021, 17:37:49 »
Stünd ich mir selber vis à vis
und sähe mich durchs Zauberglas
sezierender Wahrhaftigkeit,
so fände unterm starren Kleid
geglätteter Steifleinigkeit
ich jenes trotzig nackte Kind,
das ungehört nach Wärme schreit.

Erich Kykal

Re: Vis à vis
« Antwort #1 am: Februar 12, 2021, 19:37:33 »
Hi AL!

Wundervoll formuliert, Sprachhabung auf höchstem Niveau! Chapeau!

Mein Höhepunkt: Die Wortschöpfung "Steifleinigkeit" - da schneidet die starre Bügelfalte angepassten Funktionierens durch jede Silbe! Genial.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

AlteLyrikerin

Re: Vis à vis
« Antwort #2 am: Februar 13, 2021, 10:12:50 »
Hallo Erich,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Freut mich enorm, dass es Dir gefällt, obwohl Reime und Metrik nicht den klassischen Anforderungen genügen. Nebenbei bemerkt: die Reime haben sich ganz zufällig ergeben. Meine Konzentration lag ganz auf der Metaphorik. Aber ich wollte die Reimworte dann auch nicht wegwerfen oder für die nicht reimenden Zeilen gewaltsam Reimworte suchen, die dann zu inhaltlichen Verschiebungen führen.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

Copper

Re: Vis à vis
« Antwort #3 am: Februar 15, 2021, 18:11:13 »
Hallo Lyrikerin,

deine Zeilen gehen voll rein. Mein Unterbewusstsein meldet sich.

Schönste Lyrik.

LG. Copper.

AlteLyrikerin

Re: Vis à vis
« Antwort #4 am: Februar 17, 2021, 12:04:52 »
Hallo Copper,

herzlichen Dank für Deinen Besuch und den Kommentar. Dass sogar Dein Unbewusstes auf die Zeilen anspricht, da bleibt mir die Spucke weg.
Bleib gesund und kreativ, das wünscht Dir AlteLyrikerin.

Sufnus

Re: Vis à vis
« Antwort #5 am: M?RZ 04, 2021, 16:18:12 »
Liebe AL!
Der Begeisterung meiner Vorredner schließe ich mich sehr gerne an! Das "einzigste" ;) halbe Ausnähmchen ist das Zauberglas, das mir a weng zu süßlich-märchenhaft-verspielt rüberkommt. "Lupenglas" hätte mir persönlich noch etwas besser gefallen.
Dennoch finde ich, das sind wirklich ganz besonders schön gelungene Zeilen! Und auch für mich ist "Steifleinigkeit" der Höhepunkt des Gedichts. Neben dem wunderbaren, ja genialen Bild, das durch dieses Wort erzeugt wird (eKy hat darauf hingewiesen) ist auch gerade die Tatsache, dass bei diesem Wort eine Verweigerung gegenüber dem glatten Metrum auftritt, für mich ganz besonders chic! :) Man kann hier entweder vom"Leierton" eines metrischen Lesens in einen "Prosa-Ton" wechseln, was das Wort sehr stark hervorhebt oder man zieht durch und liest dann gegen das natürliche Metrum, was einen augenzwinkernden Effekt erzeugt, der mich an irgend ein sehr bedeutendes Gedicht eines sehr bedeutenden Dichters erinnert... aber... ich komm grad nicht drauf  ;D Keller? Mörike? Hoffmansthal? Irgendwas zwischen 1830 und 1930 und von der Gewichtsklasse der Genannten... sehr cool! :)
LG!
S.
« Letzte Änderung: M?RZ 04, 2021, 16:24:34 von Sufnus »

AlteLyrikerin

Re: Vis à vis
« Antwort #6 am: M?RZ 05, 2021, 14:07:31 »
Lieber Sufnus,

herzlichen Dank für Deinen Kommentar. Ja, warum nicht die Lupe? Die Lupe kann dir etwas Kleines besser sichtbar machen. Das Problem ist aber das Betrachten des Verdrängten, das nicht wahr sein soll. Um die Fähigkeit der "sezierenden Wahrhaftigkeit" zu erlangen, braucht es den mächtigen "Zauber" der Selbsterkenntnis. Um süße Märchenstimmung geht es mir eher nicht.
Wer schon einmal versucht hat, in Bereiche der eigenen Existenz zu schauen, die verborgen, weil verboten oder scheinbar unerträglich sind, der weiß, dass da nicht einfach ein Schalter umgelegt werden kann, und dann sehe ich. Vielleicht ist "Zauberglas" nicht die beste Metapher dafür, aber eine andere habe ich noch nicht gefunden.
Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.