Autor Thema: Kurzer und langer Abschied  (Gelesen 582 mal)

gummibaum

Kurzer und langer Abschied
« am: Mai 25, 2025, 23:45:10 »
Es blinkt etwas. Ein Krankenwagen
steht, sehe ich, vor unserm Haus.
Mein Nachbar wird hinausgetragen
und sieht, scheint mir, verändert aus.

Er konnte längst schon nicht mehr gehen,
und alles andre fiel ihm schwer. 
Ich habe ihn nicht oft gesehen,
zuletzt ein ganzes Jahr nicht mehr.

Ich sah nur jeden Tag die Frauen
vom Pflegedienst im Treppenhaus
und gönnte mir, sie anzuschauen.
Sie sahen nämlich lecker aus.

Die eine steht beim Sanitäter,
dem sie noch einen Zettel zeigt,
bevor sie Augenblicke später
wie schaudernd in ihr Auto steigt.

Der Krankenwagen ist verschwunden,
das andre Auto aber nicht.
Es steht da noch drei volle Stunden,
als lähme irgendein Gewicht.

Ich fühle, ohne nachzusehen:
Mein Nachbar stand mir allzu fern.
Doch andre wollten ihn verstehen,
und hatten ihn wohl mehr als gern…

Erich Kykal

Re: Kurzer und langer Abschied
« Antwort #1 am: Mai 27, 2025, 18:54:24 »
Hi Gum!

Wir leben heutzutage ja so leichthin nebeneinander her und aneinander vorbei, anonym im Ameisenbau der Stadt oder isoliert auf dem Lande - das bisschen Sozialkontakt, das unerlässlich ist, bekommen wir im Internet, wenn wir wollen, und ohne die Lästigkeiten und Verpfichtungen tiefgehender Bindungen. Leben light sozusagen, mit panem et circenses über den Bildschirm ...

Ab und zu aber klopft das reale Leben anderer an unsere oberflächliche, flatterhafte Aufmerksamkeit - vielleicht, wenn es zu Ende geht wie im obigen Gedicht, und alle vertagten oder gleichgültig abgetanen Chancen, diese andere Existenz zu berühren, zu erspüren, mit ihr gestorben sind. Dann fühlen wir ab und an vielleicht noch diese Leere in uns, an die wir uns gewöhnt haben, diese Lösgelöstheit von der Welt, die eingebildete Unberührbarkeit in unseren Gemütern, und wir erschauern vor dem, wozu wir uns erzogen haben.

Halte solche Momente kostbar - sie lehren uns den Weg, den wir alle gehen müssen, ob von anderen berührt und getröstet - oder nicht.


LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Kurzer und langer Abschied
« Antwort #2 am: Mai 28, 2025, 15:22:57 »
Herzlichen Dank, lieber Erich,
für den wunderbaren Kommentar, der unsere Pseudo-Lebensweise gut beschreibt und einen weisen Rat gibt. Ja, vielleicht sind diese Momente wirklich das Wesentliche.

Grüße von gummibaum