Autor Thema: Gewittermädchen  (Gelesen 898 mal)

Jana

Gewittermädchen
« am: Oktober 09, 2014, 15:31:23 »

Sie saß vor dem Fenster, warm in einer Decke eingehüllt, beobachtete mit einem Funkeln in den Augen die Blitzkreaturen, die die dunklen, bedrohlichen Wolken in grelles Licht tauchten und zählte die Abstände zwischen ihnen und dem tiefen Donner. Sie hörte nichts außer den Klängen des Regens und sah nichts außer den Blitzgebilden.
Und rief ihre Mutter nach ihr, so wusste diese, dass es keinen Sinn hatte, da ihre Tochter das Gewitter liebte und nächtelang vor dem Fenster wachte.
Und so war es immer schon gewesen.
Sie liebte das Naturschauspiel und beobachtete es mit einer Faszination, die keine Grenzen kannte. Die Melodie des Regens war ihre Melodie, die Melodie, aus der ihre Gedichte stammten, ihre Geschichten, und auch ihre Zeichnungen. Die Melodie, die ihr Leben prägte und es immer wieder veränderte.
Und sie wurde größer.
Immer noch beobachtete sie die Gewitter, immer noch liebte das Licht der Blitze, das die Sonne, die tagsüber schien, geradezu verhöhnte. Die Gewitter waren immer noch die Freunde, die sie all die Tage vergeblich suchte.
Immer noch lächelte sie, als sie das Klacken der Jalousien hörte, die die Menschen schlossen, um das Spektakel nicht mitzubekommen.
Und sie wurde älter.
Als sie die Blitze betrachtete, war sie es, die die Jalousien schloss.
Das Gewitter war in ihr.
Sie musste es nicht mehr ansehen um zu wissen, dass sie nie gewinnen können wird und doch immer schon gewonnen hatte.
Als sie die Augen schloss, war es, als wäre sie von Blitzkreaturen umgeben, es war, als wäre die Melodie des Regens verstummt, es war, als wäre alles dem einen, unerklärlichen Licht der Dunkelheit gewichen.

cyparis

Re:Gewittermädchen
« Antwort #1 am: Oktober 13, 2014, 20:29:26 »

Liebe Jana,


wer wie ich auch im hohen Alter immer noch Gewitter liebt und sie buchstäblich in sich hineintrinkt, fällt sofort in den Beginn Deiner Geschichte hinein.
Daß sie ein melancholisches Ende nimmt - ist vom Tod die Rede? - paßt trotzdem ausgezeichnet.
Der Stil ist gut, die Sprache einwandfrei, der Satzbau hervorragend.
Kein Wort zuviel, kein Wort zu wenig - ganz so, wie ich es von einer guten Kurzgeschichte erwarte.
Zudem noch mit Interpretationsvielfalt - was will ich mehr?

Hier fehlt ein Wörtchen:

immer noch liebte das Licht der Blitze




Herzlichen Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte