Autor Thema: Verzögerte Tat  (Gelesen 273 mal)

gummibaum

Verzögerte Tat
« am: Juli 07, 2023, 01:50:07 »
Es war nicht möglich, zuzustechen,
solang sie schlief im dunklen Raum.
Ich hörte mein Gewissen sprechen
wie einen Alb im wirren Traum:

„Wie kannst du sie so feig ermorden?
Sie hat dich doch zur Welt gebracht!“
Ich flüsterte, zu Wachs geworden: 
„Sie hat mich niemals froh gemacht!“

Schon gab ich nach und wollte gehen. 
Da knackte es, ihr Schlaf zerriss.   
Sie schrie und wand sich wie in Wehen,
warf sich vor Angst auf mich und biss. 

Die Klinge fuhr ihr durch die Kehle,
ihr Blut schoss warm auf meine Hand.
Ich rannte fort, doch meine Seele
war wie der Himmel aufgespannt  …


« Letzte Änderung: Juli 07, 2023, 20:52:02 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Verzögerte Tat
« Antwort #1 am: Juli 08, 2023, 18:40:32 »
Hi Gum!

Wenn Monster Mütter werden ...

Selbst heute wird man für kleinste Sünden verknackt oder ins soziale Aus gestellt, aber Eltern darf praktisch jeder werden, unabhängig von Intelligenz, Reife, politischen oder moralischen Ansichten, Charaktereigenschaften oder mangelnder Empathie. Ob Kontrollfreak oder versumpfter Lebensunfähiger: Alle dürfen sie Nachwuchs zeugen und diesen nach ihren Werten erziehen - oder vernachlässigen!
Wieviel Leid diesen Unschuldigen angetan wird, die ihren Erzeugern und Erziehern hilflos ausgeliefert sind, kann sich niemand auch nur ansatzweise in seinem vollen Ausmaß vorstellen!
Gebrochene Seelen, traumatisierte Leben, gehemmt, verschwiegen, weggesperrt, missbraucht, missachtet, ignoriert, gequält ...

Elternmord kommt in der 'Verachtungsskala für Tötungsdelikte' des Volksgewissens gleich nach Kindermord und Massenmord an dritter Stelle. Aber ehrlich: Ich verstehe dieses LyrIch, auch wenn ich bei meinen eigenen Eltern nie solch ein Bedürfnis hatte, und die haben sicher auch nicht alles richtig gemacht! Ich bin noch ganz selbstverständlich mit Ohrfeigen und Schlägen mit dem Teppichklopfer aufgewachsen, zumindest, bis ich eingeschult wurde. Danach gab nur noch sporadisch eine 'xunde Watschn', wenn ich sie besonders wütend gemacht hatte. War ich renitent, wurde ich mitsamt Kleidung in die Badewanne gestellt und eiskalt abgebraust. Das war damals 'konsequente Erziehung' - heute würde es so mancher als seelische Grausamkeit bezeichnen. Dabei waren meine Altvorderen bei mir schon wesentlich weicher geworden als was zu Nazizeiten an 'Abhärtung und sittliche Stählung der Jugend' so üblich gewesen war. O tempora, o mores ...


Dann gibt es natürlich noch die andere Deutung: Dass das LyrIch selbst hier der empathielose Psychopath ist, der seine Mutter einfach beseitigt, weil sie ihm lästig geworden ist. Gruselig, aber für mich weniger spannend.


LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 09, 2023, 22:19:40 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Verzögerte Tat
« Antwort #2 am: Juli 09, 2023, 03:46:15 »
Danke für den tollen Kommentar, lieber Erich.

Nahe liegend wäre eine Verdammung des Täters gewesen, aber du hast entdeckt, dass die Mutter eine wesentliche Schuld trifft. Tatsächlich - so in dem Roman - hat sie den Sohn seelisch so beschädigt, dass er sich aus wachsendem Hass schließlich zu der Tat gezwungen fühlte und danach plötzlich befreit.

LG g

 

Rocco

Re: Verzögerte Tat
« Antwort #3 am: Juli 10, 2023, 19:14:25 »
Hallo Gummibaum, in Deinem Kommentar lese ich, dass die Mutter den Sohn schwer beschädigt hätte... Im Gedicht lese ich das aber nicht.

"Der Tantenmörder" von Wedekind ist ähnlich geschrieben, hat aber schwarzen Humor.

Ich würde das Gedicht erst mal lassen und dann immer wieder darüber nachdenken.

Bestimmt gibt es Möglichkeiten. Potential ist da.

Dir einen schönen Abend!

Rocco
"Erst in Rage werde ich grob -
aber gelte als der Hitzkopf?!"

Yusuf Ben Goldstein, aus Rocco Mondrians Komödie: Yusuf Ben Goldstein, ein aufrechter Deutscher

Sufnus

Re: Verzögerte Tat
« Antwort #4 am: Juli 14, 2023, 21:32:50 »
Hallo Gummibaum, in Deinem Kommentar lese ich, dass die Mutter den Sohn schwer beschädigt hätte... Im Gedicht lese ich das aber nicht.

Also ich finde im Gedicht schon deutliche Anzeichen, dass hier schon lange vor der eigentlichen Tat eine dysfunktionale Beziehung vorliegt und der Verdacht steht im Raum, dass die Mutter womöglich ihren Anteil daran hatte, wenn sie nicht gar als "Arche kakon", als eigentlicher Ursprung des Übels zu verstehen ist (die Ahnen der Mutter und wiederum auch deren Ahnen wären hier allerdings auch kritisch ins Visier zu nehmen, transgenerationale Tragödien sind halt oft vielaktig um viele Generationen in die Vergangeheit weisende Dramen).
Ein beklemmendes Lyrikgustostückerl (wenn man denn hier kulinarische Angetanheit überhaupt bekunden darf und kann). Den Verweis auf die Eichendorff-Romantik find ich ja besonders stark.
Bleibt also nur noch eine Frage (für mich) offen: Auf welchen Roman wird hier angespielt? (im Gegensatz zur Lyrik bin ich in der Epik echt schwach aufgestellt).
LG!
S.

gummibaum

Re: Verzögerte Tat
« Antwort #5 am: Juli 16, 2023, 15:32:11 »
Danke, lieber Rocco,
für deinen Kommentar.

Lieber Sufnus,
ich freue mich über deine feinfühligen Worte zum Text, auch darüber, dass du Eichendorff in den letzten beiden Versen entdeckt hast. Der Roman war: "Pascual Duartes Familie", geschrieben 1942 von Camilo José Cela.

Liebe Grüße
g
« Letzte Änderung: Juli 27, 2023, 00:49:36 von gummibaum »