Autor Thema: Zwei unglückliche Gegenstände  (Gelesen 1036 mal)

gummibaum

Zwei unglückliche Gegenstände
« am: April 30, 2016, 20:33:52 »
Die Schulkreide

Lang und schlank trat ich ins Leben,
außen wie im Innern weiß,
strenger Hand mich zu ergeben,
leerem Glauben an den Fleiß.

Bleiche Schrift und Tafelbilder
habe ich ihm aufgedeckt,
doch die Lust zu lernen wilder
Schülergeister nie geweckt.

Und was ist von mir geblieben?
Nur ein Stummel in der Hand -
da die Schönheit, abgerieben,
mit dem Schwamm im Nichts verschwand…


Die Fahrradkette

Zwei Räder trugen Stachelkranz.
Ich ahnte meine Qual.
Ich biss zum Schutz in meinen Schwanz
und formte ein Oval.

Mein Körper wurde mit Gewalt
gespannt und so fixiert,
und dabei der Gelenke Spalt
von Stacheln penetriert.

Die Stachelräder drehen sich
und schleifen mich im Kreis,
und wenn ich stöhne, ölt man mich,
damit es niemand weiß…
« Letzte Änderung: August 31, 2020, 20:20:12 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #1 am: April 30, 2016, 22:17:20 »
Hi, Gum!

Treffliches Werk zur Schulkreide! Nur in S2 würde ich in Z3 statt "zu tafeln" besser und verständlicher "zu lernen" schreiben, zumal ein "Tafel-" bereits in den Tafelbildern von Z1 steckt und dieses letztere wie eine Wortwiederholung wirkt.

Zur Kette: Du verstehst es, selbst die prosaischsten Gegenstände zu personifizieren und beim Leser erstaunte Gefühle für sie zu wecken! ;D
Eins nur: Worauf bezieht sich das "Das" eingangs S1Z2? Es können weder die 2 Räder noch der Stachelkranz sein.
Ich würde schreiben: "Zwei Räder trugen Stachelkranz // und zeigten mir die Qual."

Beide Werke habe ich vergnügt und positiv überrascht genossen! :)  Da könntest du mittlerweile sicher schon eine ganze Sammlung von Gedichten über PPGs (personifizierten prosaischen Gegenständen) anlegen! ;)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #2 am: April 30, 2016, 23:01:01 »
Hallo Erich,

ich kann "lernen" verwenden, "tafeln" meint das ja. Nach "aufgedeckt" ist die Tafel ein Tisch zum "speisen" = lernen. Mir gefallen Wortspiele, ud dieses würde durch "lernen" verschwinden.

Im anderen Gedicht ist gemeint: diese Folterräder zu sehen ("das"), zeigte mir die Qual, die ich auf mich zukam.

In beiden Fällen will ich gern ändern, wenn Unklarheiten dadurch beseitigt werden. Danke.

LG gummibaum
« Letzte Änderung: April 30, 2016, 23:03:40 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #3 am: Mai 01, 2016, 00:06:24 »
Hi, Gum!

Ich dachte mir, dass du das "tafeln" im übertragenen Sinne für "sich Wissen aneignen" meintest, in dem Sinne, dass man auf die Tafel Geschriebenes lernt - aber wie man die Bedeutungsübertragung "tafeln"--->"speisen" mit "lernen" in Verbindung bringen soll, erschließt sich mir nicht. Da reißt mir der rote Faden, sorry!

Im 2. Gedicht ist für den Leser schwer nachzuvollziehen, wie der Satz in S1Z2 gemeint ist, weil man sofort einen Bezug für das "Das" am Beginn des Satzes sucht - und keinen findet. Erst dann nimmt man den Satz für sich allein. Das behindert den Lesefluss, lässt stocken, vor allem, weil man erst ein gedachtes LyrIch generieren muss, das vorhat, sich auf's Rad zu schwingen und die erwähnte Qual zu erleiden, bzw. der Fahrradkette anzutun.
Der nächste Knackpunkt ist die Übertragung der Qual der Kette auf zu erwartende Qualen des Radlers, der sich verausgabt oder dem nach einer Tour vielleicht der Hintern schmerzt. Dies auf die theoretischen Qualen einer Kette beim Treten der Pedale umzumünzen, erscheint mir zu weit ausgeholt. All das zusammen macht diese 2. Zeile unverständlich, verlangt dem Leser zuviel an Mutmaßung ab.
Das ganze Gedicht beschreibt (sehr griffig und eloquent) die Qualen der Kette, nicht die Qualen des Radbenützers - der Vergleich würde hinken.


LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 01, 2016, 00:09:10 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #4 am: Mai 01, 2016, 11:40:11 »
Lieber gummibaum,

ich liebe Deine Doppeldeutigkeiten und Wortspiele nur zu sehr!
Ich finde überhaupt nix zum mäkeln - beide Gedichte sind für mich purer Genuß.

à propos Kreide:
Unser Lateinlehrer namens Stanke nahm nur ganz neue Kreide in die Hand. Dann hieb er mit solcher Wucht auf die Tafel ein, daß jedesmal die Kreide zerbrach.
Natürlich hatte der Lehrer seinen Spitznamen weg:
"Stanke, der Verbrecher". ;)

Fröhlichen Sonntagsgruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

gummibaum

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #5 am: Mai 01, 2016, 14:10:50 »
Ah, das beruhigt mich, liebes Thing. Ich weiß manchmal nicht, ob ich zu "abgedreht" mit meinen Assoziationen bin.

Liebe Grüße
gummibaum


Erich Kykal

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #6 am: Mai 01, 2016, 14:15:55 »
Hi nochmal!

Hast du meinen 2. Kommi oben bemerkt?

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Zwei unglückliche Gegenstände
« Antwort #7 am: Mai 01, 2016, 14:47:51 »
Ja, lieber Erich, habe ich schon gestern Abend, war aber zu müde zur klärenden Antwort. Auch jetzt nichts Endgültiges.

"Ich dachte mir, dass du das "tafeln" im übertragenen Sinne für "sich Wissen aneignen" meintest."

Genau das meinte ich. Wie man speisend eine Tafel abräumt und Nahrung in sich aufnimmt. Dieser Prozess der Wissensaufnahme geht immer mit Lernen einher (nicht im Sinne von repetieren oder auswendig lernen).

"Das ganze Gedicht beschreibt (sehr griffig und eloquent) die Qualen der Kette, nicht die Qualen des Radbenützers - der Vergleich würde hinken."

Genau! Vom Radfahrer ist nirgendwo die Rede. Die Kette sieht die Zahnräder - und ihre Qual voraus. Sie krümmt sich, beißt sich in den Schwanz (das Kettenschloss schließt das Oval). Nun wird die Kette in dieser Form über die Zahnräder gespannt...

Liebe Grüße
gummibaum