Autor Thema: Seltsam  (Gelesen 1238 mal)

Erich Kykal

Seltsam
« am: Mai 29, 2014, 10:01:40 »
Wie seltsam unempfunden bleibt ein Morgen
der kranken Seele, die in Schmerz gebettet
ihr wundes Schweigen ins Erwachen rettet
aus einem albtraumhaften Schlaf der Sorgen.

Wie seltsam unerwidert bleibt ein Leben,
das wenig Halt und keine Tröstung wusste,
nur immer kämpfen und ertragen musste -
was kann ein Tag schon dem Verlierer geben?

Wie sind wir, die wir täglich uns bemühen,
doch so befangen vor dem Selbsterkennen,
dass manche lieber in den Schatten brennen,

als zuzugeben, dass ihr Auferblühen
nur einen Schritt entfernt auf Liebe wartet,
doch ohne Mut dazu in Hass entartet.
« Letzte Änderung: Mai 20, 2020, 11:47:00 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Seltsam
« Antwort #1 am: Mai 29, 2014, 18:01:12 »
Hallo Erich,

da muss ich erst mal die Tränen runterschlucken, die plötzlich ganz locker sitzen!  :'(
In diesem Sonett kann man nur wehmütig schwelgend versinken.

Allein die Tatsache, dass du hier von den allerstrengsten Regeln abgelassen hast, stimmt mich fröhlich!
Vielleicht ist auch gerade diese Lockerung der Grund für die enorme Gefühlstiefe in diesem wundervollen Sonett.
Auch sprachlich ein wahres Highlight!

Ganz große Klasse!

LG Daisy

Erich Kykal

Re:Seltsam
« Antwort #2 am: Mai 29, 2014, 20:23:37 »
Hi, Daisy!

Du hast recht - hier habe ich gleich mehrere "Pfuipfuis" begangen! Erst die unterschiedlichen Reime in den Quartetten (derlei wird mittlerweile mehr oder weniger hingenommen) und dann - absolut unverzeihlich für Puristen und Regelanbeter - die beiden paarreimigen letzten Zeilen der Terzette! Aber wie bereits an anderer Stelle erwähnt: Mir gefällt's! Ich kann nicht nachvollziehen, was an einem letztstehenden Paareim im Sonett so furchtbar unlyrisch sein soll. Mir erscheint diese Regel absolut willkürlich, daher beachte ich sie nicht.  ;D

Inhaltlich geht es um das Selbstbild, das sich die Menschen stricken. Wie man zum Leben und zur Welt stehen will, ist letztlich ja jedermanns bewusste freie Entscheidung (möchte man meinen...) - umso unverständlicher, wie sich ach so viele aufgrund von Ängsten, Hemmungen, Traumata und Neurosen ihr Leben zur höchsteigenen Hölle machen!
Verzicht, Isolation, Spinnerei, Verfolgungswahn usw... - sie suhlen sich in ihrem Selbstmitleid und werfen mit Schuldzuweisungen um sich, dabei bedürfte es meist nur einer simplen Verschiebung des eigenen Blickpunkts auf sich selbst und die Dinge, um Erlösung und inneren Frieden zu finden! Aber sie beharren darauf, richtig zu liegen, misstrauen lieber und warten lebenslänglich auf eine Anerkennung ihres "selbstlosen Leidens", ein Dankeschön für ihren "heroischen Verzicht"! Am Ausbleiben der Aufmerksamkeit der "undankbaren Welt" verbittern sie letztendlich, werden Unkenrufer,  Zyniker, Verschwörungstheoretiker, Selbstmörder oder Amokläufer.
Sowas passiert gern narzisstischen Naturen, selbstgefälligen Besserwissern und allen, die der eigenen Hybris mehr vertrauen als dem gesunden Menschenverstand. Warum ich das so gut verstehe? Als junger Mensch war ich geraume Zeit selbst in unmittelbarer Gefahr, diesen Weg zu beschreiten!!!
Das erklärt vielleicht die von dir empfundene emotionale Tiefe in diesen Zeilen...

Vielen Dank für deine Gedanken!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Seltsam
« Antwort #3 am: Juni 02, 2014, 16:28:14 »
Hallo, Erich -


alles zur ungewöhnlichen Form Deines Sonetts ist gesagt.
Ich gehe nur auf den Inhalt ein.
Um wirklich Selbstmitleid zu betonen, sind die Verse doch zu distanziert - zumindest in den beiden Quartetten.
Mir scheint da mehr Resignation mitzuschwingen als Weinerlichkeit.

Und zum schlechten Ende:
Muß es denn gleich der Haß sein?
Wenn ich mir so meine Pappenheimer ansehe, ist Desinteresse und Gleichgültigkeit eher angesagt, allenfalls noch (müder) Neid.

Aber ich bin ehrlich:
Ich kenne mich in dieser speziellen seelischen Verfassung nicht so gut aus.

Und wie immer:
Beifall!


Gruß
von
Cyparis

Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Erich Kykal

Re:Seltsam
« Antwort #4 am: Juni 02, 2014, 20:52:14 »
HI, Cypi!

Hass ist das Gegenteil von Liebe, deshalb. Wer vergeblich und unerwidert liebt oder allzu besitzergreifend, dessen Gefühle schlagen irgendwann um - frag Stalker und eifersüchtige Ehemänner!
Wer sich aus Angst vor Verletzung der Liebe verweigert, dem bleiben nur Zynismus, Verachtung und letztlich - Hass. Hass auf alle, die - im Gegensatz zu ihm - den Mut zu Liebe und Offenheit hatten und - wiederum im Gegensatz zu ihm - von einem (wie er es versteht) blinden Geschick dafür belohnt wurden.

Ich kenne mich mit dieser seelischen Verfassung SEHR gut aus! Leider. Ich hasse zwar nicht, aber bis zum Stadium von Zynismus und Verachtung bin ich schon vorgedrungen... :-\

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Seltsam
« Antwort #5 am: Juni 02, 2014, 21:01:21 »
Wie bedauernswert sind Menschen, die aus Haß Energie schöpfen!

Laß uns bei  der Vorstufe Verachtung und Zynismus bleiben.
Haß macht krank.

Lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
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