Autor Thema: Liebe lieber  (Gelesen 1382 mal)

Erich Kykal

Liebe lieber
« am: Mai 25, 2022, 11:04:37 »
Traurig stehst du, tief verschlossen,
an der Kante der Gedanken,
bringst dein Gleichgewicht ins Wanken,
in Erinnerung zerflossen.

Liebe lieber, liebes Leben,
deiner Tage Auferstehen,
die dein sinnliches Erflehen
trinken möchte und erheben.

Grübelnd grämst du dich im Kerker
ewig kreisender Probleme,
steigerst dich in die Extreme
wahnhaft wütender Berserker.

Liebe lieber, liebes Leben,
deiner Stunden Auferweckung,
deren flüchtige Entdeckung
dich begehren macht und beben.

Trübe wandelst du im Schatten
greiser Träume, und ihr Zerren
wie Befehle kalter Herren
lässt dein wundes Herz ermatten.

Liebe lieber, liebes Leben,
die minütliche Erfahrung
deiner Sinne: Die Bewahrung
aller Dinge, die wir geben.
« Letzte Änderung: Dezember 13, 2022, 17:15:13 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Liebe lieber
« Antwort #1 am: Dezember 12, 2022, 13:01:54 »
Hi eKy!
Bei so wenig aktiven (also kommentierenden) Lesern, ist der Anteil der Werke, die ohne Feedback im Wiesen-Untergrund versinken naturgemäß hoch.. je nun... mit schwindenen Kräften will ich da natürlich gerne dagegen ankämpfen! :)
Also hier haben wir ein schönes Rondo von Dir, das nun wirklich der Kommentierung lohnt.
Es fällt erstmal auf, dass Du hier - bei allen korrosiven Anklängen (Traurig... an der Kante der Gedanken) - einen doch recht positiven Grundton anschlägst.
Im Refrain feierst Du recht wohlgemut in schöner Vierfachaliteration den Buchstaben L, der so traut nach Liebe-Leben-Leberpastete klingt (ja gut... das Letzte hab ich mir dazugedacht). :) Dabei steht der postive Refrain stets im Widerspruch zur jeweils vorangehenden Strophe, die mit immer anderen Worten das Immergleiche besingt, nämlich ein lyrisches Du, welches offenbar in einer grämlichen Gedankendauerschleife steckengeblieben ist und über diesem Graugrübelmodus die angenehmen Seiten des Lebens versäumt, was wiederum zur refrainhaften Interventionsrede einer zweiten Stimme im Gedicht führt, die den Versuch unternimmt, den Grübelpeter aus seiner verpupsten Melancholie zu rütteln. Gelingt dieses Vorhaben wohl? Wir wissen es nicht sicher, aber immerhin hat die Refrain-Stimme das letzte Wort im Gedicht. Ein positives Ende also.
Die Rondo-Gestalt erhält das Gedicht dadurch, dass sich nach dem Muster A-B-C-B-D-B die sechs Strophen abwechseln und die Refrainstrophe (jeweils mit B gekennzeichnet) eben in regelmäßiger Weise zwischen die drei Nicht-Refrain-Strophen (mit A, C und D gekennzeichnet) eingeschoben ist. Der grundsätzlich gleiche Aufbau des Refrains zwingt nebenbefundlich dazu, in jeder Refrainstrophe auf die Suche nach einem neuen Reim auf -eben zu gehen. Es war klug vom Autor, sich diese Aufgabe nicht durch die Wahl einer allzu seltenen Reimendung ins Unerquickliche zu erschweren. :)
Was mir zuguterletzt ganz besonders gut gefällt ist, dass es in dem Gedicht zu einer stetigen Beschleunigung im Refrain kommt: Ist erst von Tagen (Refrain 1) die Rede, so verkürzen sich die Intervalle sodann zu Stunden (Refrain 2) und schließlich zu Minuten (Refrain 3). Dieses Accelerando erinnert an südeuropäische Tänze, deren Tempo von einer recht gemächlichen Gangart sich nach und nach zu einem wilden Prestissimo steigert. :)
LG!
S.

PS:
Ah einen Druckfehler (denke ich) will ich noch beanmerken: In S1 müsste es wohl statt "bringt dein Gleichgewicht ins Wanken" eher "bringst dein Gleichgewicht ... " heißen.
« Letzte Änderung: Dezember 12, 2022, 13:05:29 von Sufnus »

Erich Kykal

Re: Liebe lieber
« Antwort #2 am: Dezember 13, 2022, 17:20:28 »
Hi Suf!

Deiner profunden Analyse bleibt - bis hin zum Vertipperle - nichts hinzuzufügen! Du hast sämtliche Komponenten meines Konstruktes, über die ich mir damals beim Schreiben Gedanken machte (oder auch nicht?), erkannt und beschrieben. Chapeau! Und Dank!

LG, eKy
« Letzte Änderung: M?RZ 31, 2023, 23:16:15 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Liebe lieber
« Antwort #3 am: M?RZ 31, 2023, 21:25:00 »
Chapeau, lieber Erich.

Ein in mir nach dem Lesen warm nachtönendes Gedicht.
 
Diese Ansprache an das Leben, nicht zu verzweifeln und in rachsüchtige Gedanken abzugleiten, sondern sich der Erinnerung an andere Zeiten zu öffnen und lieber die Liebe an sie zu pflegen, gefällt mir sehr.

Zu den Schönheiten der Form hat Sufnus ja schon viel gesagt und besser, als ich es könnte.
 
LG g

Erich Kykal

Re: Liebe lieber
« Antwort #4 am: M?RZ 31, 2023, 23:19:02 »
Hi Gum!

Soll noch einer sagen, ich würde immer nur depressiv oder zynisch schreiben!  ;) ::) ;D

Vielen Dank für den freundlichen Zuspruch. Ich freue mich, dir gute Gefühle gemacht haben zu können.

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.