Autor Thema: Halbe Frau  (Gelesen 1897 mal)

Seeräuber-Jenny

Halbe Frau
« am: November 13, 2011, 21:28:04 »
Eine Brust abgeschnitten,
verstümmelt, unsichtbar.
Bin nur noch halbe Frau.
Es fehlt ein Teil von mir.

Mit traurigen Augen
sitz ich hier neben dir
und frag mich bang:
Was will ich hier?

Doch dann berührst du mich
und deine Küsse erwecken mich.
Ich lebe, werd wieder heil
und eins mit dir.

Durch deine Liebe
wurde ich ganze Frau.
Und als stolze Amazone
geh ich durch deine Tür.
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

Seeräuber-Jenny

Re:Halbe Frau
« Antwort #1 am: November 13, 2011, 21:28:59 »
Das Gedicht "Halbe Frau" ist für mich sehr wichtig. Darin schildere ich, wie nach einem schweren Schicksalsschlag eine einzige Nacht mein Leben veränderte.

Eine einzige Nacht? Ja, eine einzige Nacht kann sehr viel verändern. Ich schöpfte in jener Nacht neues Selbstvertrauen, erfuhr, was Freundschaft wert ist und beschloss, als Dichterin an die Öffentlichkeit zu treten.

Das neue Jahrtausend begann für mich nicht gut. Ich erkrankte an Brustkrebs und meine linke Brust musste amputiert werden. Doch es gelang mir, den Krebs zu besiegen. Ich war sehr erleichtert, mit dem Leben davon gekommen zu sein. Ja, ich glaube, ich lernte das Leben erst richtig schätzen.

Jedoch bin ich eine Frau, und plötzlich war ich nur noch eine halbe. Eine halbe Frau in einer Gesellschaft, die uns zu dummen blonden Witzfiguren macht und wir unterwerfen uns ihrem Diktat und sind auch noch stolz drauf.

Mein Selbstbewusstsein war zum damaligen Zeitpunkt bereits angeknackst. Ich war von meinen langjährigen platonischen Beziehungen, die genau genommen Mutter-Kind-Beziehungen waren, ausgebrannt. Drei Liebhaber begleiteten mich durch diese kargen, harten Jahre, was meine Situation etwas erträglicher machte.

Als ich sie mit den Folgen meiner Krankheit konfrontierte, fielen die Reaktionen allerdings ernüchternd aus. Der Erste mochte zwar Silikon, aber nicht als Prothese, sondern in großen Mengen unter die Haut gepflanzt. Der Zweite versicherte mir, es wäre alles überhaupt kein Problem, aber das war nicht ehrlich gemeint. Der Dritte sagte mir unverblümt, da fehle was.

Ich war ratlos und verzweifelt, hin- und hergerissen zwischen dem Streben nach Autonomie und dem Wunsch, auch als weibliches Wesen akzeptiert zu werden.

Bis zu jener einen Sommernacht, als ich in die Arme eines Freundes sank. Er öffnete mir sein Herz, war lieb und zärtlich, und alles war so vertraut und selbstverständlich, dass es mir gelang, meine Angst zu überwinden und eins zu werden mit ihm, mit mir und der ganzen Welt, in die ich am nächsten Morgen als Amazone zurückkehrte.

Daraufhin verfasste ich das Gedicht und hatte die Idee, es zu veröffentlichen. Ich kramte noch ein paar ältere Gedichte hervor und stellte alles ins Netz. Seitdem schreibe immer wieder was Neues. Und so erfüllte sich mein Kindheitstraum, einmal Dichterin zu werden.

Und weil das Glück es besonders gut mit mir meint, ist inzwischen ein neuer Mann in mein Leben getreten. Und siehe da, das bisschen Angst, das noch da war, ist so gut wie verschwunden. :-)
« Letzte Änderung: November 14, 2011, 13:43:23 von Seeräuber-Jenny »
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

a.c.larin

  • Gast
Re:Halbe Frau
« Antwort #2 am: November 13, 2011, 22:35:27 »
liebe jenny,

man weiß ja oft nicht, was hinter bestimmten zeilen steckt - umso berührender und betroffener macht es , wenn man dann die wahrheit kennt.
doch das, was am meisten unter die haut geht nach studium deines gedichtes und der erklärung , die du selber dafür gibst,
ist die erkenntnis, dass liebe immer noch und immer wieder imstande ist, jeglichen abgrund zu überwinden!


ich denke, du hast dich auch deshalb dafür entschieden, so viel von dir persönlich preiszugeben, um andern mut zu machen:
mut, zu sich selber  zu stehen und hoffnung, diesen mut zu leben.

eigentlich solltest du dich "starke frau" nennen.
der neue mann hat klug gewählt!

und wir - wir freuen uns mit dir und mit ihm!  :) :) :)
  
nichts ist halb, wenn es seine antwort gefunden hat.

aus ganzem herzen dich in die arme schließend,
larin


Seeräuber-Jenny

Re:Halbe Frau
« Antwort #3 am: November 14, 2011, 13:41:14 »
Liebe larin,

über deine mitfühlenden Zeilen freue ich mich sehr.

Sich selbst und anderen Mut machen, das ist sehr wichtig im Leben. Zwar bin ich von Beginn an offen mit meiner Krankheit umgegangen, was mir und vielleicht auch anderen geholfen hat. Doch gerade das heikle Thema, dass ich mich als Frau nicht vollwertig fühlte, habe ich gerne beiseite geschoben. Ich glaube, es war mir einfach peinlich, zugegeben zu müssen, dass ausgerechnet ich, die ich immer das Banner der Emanzipation hoch halte, genauso von den gesellschaftlichen Zwängen geprägt bin wie die meisten anderen meiner Geschlechtsgenossinnen.

Aber nun ist es niedergeschrieben und es geht mir besser. Und so wird es auch bleiben, mit lieben Menschen um mich herum und einer neuen Liebe, die mir den Rücken stärkt.

Herzliche Grüße
Jenny
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

a.c.larin

  • Gast
Re:Halbe Frau
« Antwort #4 am: November 14, 2011, 15:43:48 »
hallo jenny,
der verlust eines körperteiles oder andere plötzlich auftretenden beeinträchtigungen sind auf jeden fall etwas , das erst einmal verdaut werden muss,
gesellschaft her - gesellschaft hin!

wir selber definieren uns über unseren körper- denn wir sind ja auch unser körper!
verlust aber verunsichert. da spielen trauer, aber auch wut, verweigerung eine große rolle.
auch mit chronischem erkrankungen muss man erst lernen, umzugehen.

selbst ganz "harmlose" dinge wie z.b. eine brille müssen erst mal akzeptiert werden.
als ich vor sechs jahren meine erste bekam, hab ich sie kurz aufgesetzt - und dann in die ecke gepfeffert!
erst mit der zeit, so nach und nach, habe ich gelernt, die tatsache zu akzeptieren, dass ich jetzt auch zu den "brillenschlangen" gehöre.
und dass ich keine hohen absätze mehr tragen kann, weils der fuß nicht mehr aushält.
und herrje: der erste zahn, der mir abbrach:  nahezu naturkatastrophe!
und...und ...und....

so ist das halt mit den großen und kleinen verlusten: sie tun weh!
wer glück hat, kann dabei distanz zu sich selbst und humor erlernen.
und wer besonderes glück hat, darf nach einiger zeit (so wie du) auch erfahren, dass er um seiner selbst geliebt  wird - und nicht, weil er irgendetwas hat oder nicht hat.
der liebe ist das egal: sie sieht in allem das ganze!
in diesem sinne: lass uns aufs ganze gehen!

lg, larin

Erich Kykal

Re:Halbe Frau
« Antwort #5 am: November 16, 2011, 16:24:01 »
Hi, Jenny!

Ich kenne die Geschichte natürlich und freue mich aufrichtig für dich!
Alles Gute und Glück für diese Liebe!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Halbe Frau
« Antwort #6 am: November 17, 2011, 14:11:42 »
Von mir nur  s o  viel:

Ich liebe jeden Millimeter von Dir. Mir fehlt nichts! :-*
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

Seeräuber-Jenny

Re:Halbe Frau
« Antwort #7 am: November 17, 2011, 21:49:04 »
Danke für eure lieben Glückwünsche! Wird schon schief gehen.  ;D

Ja, ich fühle mich als ganze Frau bzw. als ganzer Mensch. Und ist es nicht allein die Menschlichkeit, welche die Liebe zum Erblühen bringt?

Dennoch können wir uns nicht zurücklehnen. Die Diskussion hat gezeigt, dass wir Frauen immer noch jenseits von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein Schattendasein fristen. Das muss sich ändern.

Liebe Grüße
Seeräuber-Jenny
Ideale sind wie Sterne. Wir erreichen sie niemals, aber wie die
Seefahrer auf dem Meer richten wir unseren Kurs nach ihnen.
Carl Schurz

cyparis

Re:Halbe Frau
« Antwort #8 am: November 18, 2011, 21:52:59 »
Ich, persönlich, habe mich aus der Unfreiheit rausgeschaufelt!

Lieber arm als unfrei!


cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte