Autor Thema: Reinigung  (Gelesen 1005 mal)

Ingo Baumgartner

Reinigung
« am: Juli 24, 2013, 09:46:38 »


Dem See entsteigt ein Nebelstreif,
auch meine Nachtgedanken fliehen.
Konturen schärfen sich und klar
wird alles, wenn die Schwaden ziehen.

Der Uferbusch, das Felsgestein,
sie doppeln sich im Spiegel, zeigen
ihr Wesen freudig zweifach vor
im morgendlichen, tiefen Schweigen.

Katharsis dieser schönen Art
erfasst auch mich in ihrem Wirken.
Die Zuversicht wird Tagregent
und heller als das Weiß der Birken.



Erich Kykal

Re:Reinigung
« Antwort #1 am: Juli 24, 2013, 12:24:26 »
Hi, Ingo!

Ein sehr kontemplatives, stilles Stimmungsgedicht! Gut geschrieben - nur zweierlei möchte ich anmerken:

Der avisierte ruhige Duktus wird durch die kürzeren, nur vierhebigen Zeilen doch ein klein wenig beschleunigt. Das ist aber kein eigentlicher Lapsus, bloß ein Tipp für die Zukunft.

S1Z4 - "wenn die Schwaden ziehen" - damit hattest du wohl gemeint, wenn sie FORTziehen, denn aus dem Inhalt der Vorzeile geht ja hervor, dass die Konturen sich schärfen und klar werden. Allerdings entsteht bei dieser Formulierung beim Leser nur der Eindruck, dass die Schwaden sich hin oder her bewegen, quasi durch's Bild ziehen und eben nicht verschwinden.
Wolltest du ebendies aussagen, müsstest du schreiben: "wenn die Schwaden sich heben/sich verlieren/abziehen..."
Wenn die Nebel aber "steigen/ziehen/wabern...", dann sagt das Bild eben eigentlich das Gegenteil von "verschwinden". Deshalb ist auch das Bild von Z1 missverständlich: Wenn ein Nebel (Streif oder nicht) "dem See entsteigt", so heißt das, dass er sich erst bildet, aus dem Wasser erwächst, nicht, dass er verschwindet!
Solltest du allerdings tatsächlich gemeint haben, dass die Schwaden über den See wandern, dann ist das mit den sich schärfenden, klar werdenden Konturen nicht korrekt. In dem Fall müsstest du entweder im Gedicht eindeutig darauf hinweisen, dass die Schwaden Lücken haben, durch die hindurch man alles klarer sieht als sonst, oder es entsteht beim Leser eben dieser logische Konflikt. Du hattest zwar in Z1 von einem einzelnen "Streif" geschrieben (ohne Größenangabe), in Z4 aber sprichst du im Plural von "Schwaden". Deshalb das indifferente Bild! Z3 oder 4 - eine davon solltest du auf jeden Fall ändern!

Alternative S1 für Z3:
Dem See entsteigt ein Nebelmeer,
und meine Nachtgedanken fliehen.
Konturen bleiben nah, und schwer
wird alles, wo die Schwaden ziehen.

Alternative S1 für Z4:
Dem See entsteigen Nebelstreifen,
und meine Nachtgedanken schweigen.
Konturen schärfen sich und klar
wird Sicht, wo keine Nebel steigen.


Das sind natürlich nur Beispiele für ein jeweils klarer formuliertes Gedankenbild. Möglicherweise fällt dir da noch was eigenes ein!

Gern gelesen!

LG, eKy
« Letzte Änderung: Juli 24, 2013, 12:26:16 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Daisy

Re:Reinigung
« Antwort #2 am: Juli 25, 2013, 19:38:59 »
Hallo Ingo,

dieses wunderbare, gefühlvolle Gedicht enthüllt für mich ganz klare, sehr schöne Bilder.

Als Naturliebhaberin spricht es mich ganz besonders an!

LG Daisy

cyparis

Re:Reinigung
« Antwort #3 am: Juli 31, 2013, 19:38:38 »
Ich schließe mich Daisy an:
Das ist einfach zauberhaft.
Ich habe jedes Bild und jede Empfindung in mir!


Ganz lieben Gruß
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
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