Autor Thema: Zu spät  (Gelesen 1792 mal)

galapapa

Zu spät
« am: Mai 13, 2014, 10:53:54 »
Ein müder Abend, voll von toten Stimmen,
sie sagen nichts und tun dies unentwegt.
Gesichter ohne Züge, sie verschwimmen,
sind bald ins Nirgendwo hinweggefegt.

Ich sitze, lausche ängstlich in die Stille,
fühl mich bedeutungslos und winzig klein;
dem Gaffer an der Tür beschlägt die Brille,
er sieht mich nicht, es scheint, ich bin allein.

Verbrauchter Luft entfliehen die Gefahren,
sie sind verfehlt gelebter Tage Lohn.
Die Gäste desertieren leis in Scharen,
von ihren leeren Stühlen grinst der Hohn.

Gleich wird die Uhr im Turme zwölfmal schlagen,
sie zeigt die Zeit, nach der kein Hahn mehr kräht.
Ich hol den Schaumwein und hör auf zu klagen -
für die Vernunft ist es fortan zu spät.
« Letzte Änderung: Mai 14, 2014, 17:10:22 von galapapa »

Erich Kykal

Re:Zu spät
« Antwort #1 am: Mai 13, 2014, 19:25:01 »
Hi, Charly!

S3Z4 ist um eine Stelle hereingerutscht.

Ein beeindruckend depressives Werk - ich hoffe, ich habe dich mit meinem Gedicht gleichen Themas letzthin nicht womöglich angesteckt! :o

Das einzige Problem, das ich habe ist, dass ich kein stringentes Bild bekomme. Der "Gaffer an der Tür" weist eher Richtung Altenheim, auch die "leeren Stühle" der "desertierenden Gäste". In dem Fall allerdings bezweifle ich, dass das LyrIch zum "Schaumwein" greifen kann, das wiederum weist eher auf eine einsame Wohnung hin, in der das LyrIch allein lebt und leidet, und wo ihm kein Pflegepersonal dreinredet. Könntest du da bitte Klarheit schaffen?

Sehr gern gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Curd Belesos

Re:Zu spät
« Antwort #2 am: Mai 13, 2014, 22:55:54 »
moin moin Charly,

S1/Z3 wirft mich völlig aus dem Gleichgewicht  ???

Vorschlag: Gesichter ohne Züge die verschwimmen
oder        : Gesichter deren Züge mir verschwimmen

oder ähnlich, denn dreizehn Silben werfen mich aus der Bahn, beim lesen.

LG
CB
Nur wenn du frei bist " IF " ....dann bist du ein Mensch

Erich Kykal

Re:Zu spät
« Antwort #3 am: Mai 14, 2014, 08:52:26 »
Hi, Charly!

Ein Heber zuviel - wie konnte ich das übersehen!!? :o Curd hat recht mit S1Z3, allerdings würde ich vorschlagen: "Gesichter ohne Züge, sie verschwimmen,"

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

galapapa

Re:Zu spät
« Antwort #4 am: Mai 14, 2014, 17:57:20 »
Hallo Erich,
danke für Deinen Kommentar!
Beim Nachdenken, was mit dem Text wohl gemeint sein könnte, bist Du vielleicht etwas zu konkret vorgegangen. Du musst den Inhalt abstrakter behandeln und dann entstehen andere Bilder.
Ich versuche mal ein Beispiel zu machen:
Das lyrische Ich wünscht sich eine friedliche, harmonische und "warme" Welt, in der es Gleichgesinnte sucht. Doch diese sind entweder zu fremd, wie aus einer Welt mit ganz anderen Zielen, oder sie kommen aus einer kalten Umgebung (beschlagende Brille) und sind blind für diese Wünsche. Es scheint, es gibt keinen Menschen mehr, der sich der Verantwortung eines respektvollen und harmonischen Umgangs miteinander stellen will, alle desertieren scheinbar aus dieser Verpflichtung der gengenseitigen Achtung. Letztendlich sieht das lyrische Ich die Menschheit daran zugrunde gehen. Es will sich nicht mehr engagieren und resigniert, "feiert" schließlich den Untergang mit dem Schaumwein.
Natürlich kann man das auch anders interpretieren und mein Versuch ist eben nur ein Beispiel, wie man die Metaphern lesen kann.
Angesteckt hast Du mich nicht; es ist ein alter Text, den ich aufgearbeitet habe.
Mit dem Heber zu viel wollte ich Dich nur prüfen. Hast ja grad noch die Kurve gekriegt. ;D
Danke nochmal und liebe Grüße!
Charly

Hallo Curd, moin moin,
danke für Deinen Hinweis!
Ich orientiere mich allerdings nicht nach den Silben, sondern nach den Hebungen und da war eine zu viel.
Ich habe Deinen Vorschlag übernommen mit einer kleinen Abänderung. Alles wieder in der Bahn. :)
Liebe Grüße!
Charly

Erich Kykal

Re:Zu spät
« Antwort #5 am: Mai 14, 2014, 22:18:43 »
Hi, Charly!

Danke für die Erläuterung, aber ich kriege diese Idee einfach nicht in das Bild obiger Zeilen hinein. Da sehe ich nur das LyrIch, einen sich Abwendenden, Aufgebenden. Deine Metaebene findet keine Verbindung mit dem sehr dicht und intensiv umrissenen Resignierenden, da er als zentrale Figur zu präsent erscheint, um die Gedanken des Lesers (zumindest meine...) auf so abstrakte Umlaufbahnen wie die in deinem Kommi beschriebenen zu schicken. Dazu ist mir seine persönliche erzählende "Schwerkraft" zu potent.
Erlaube mir also bitte, bei meiner mir verständlicheren Deutung zu verbleiben... :-\ Die möglichen Gründe für seine Abkehr kann sich ja jeder selbst zurechtdenken. ;)

Erneut sehr gerne gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

cyparis

Re:Zu spät
« Antwort #6 am: Mai 19, 2014, 18:54:54 »
Lieber Charly -



Gleich wird die Uhr im Turme zwölfmal schlagen,
sie zeigt die Zeit, nach der kein Hahn mehr kräht.
Ich hol den Schaumwein und hör auf zu klagen -
für die Vernunft ist es fortan zu spät.



Die betonte Zeile ist wunderbar tiefgründig!
Das gesamte Gedicht ist leicht deprimierend, wenn man die gleiche Grundeinstellung wie das LI hat
(ich habe sie nicht).


Herzlichen Gruß
von
Cyparis


Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
copyright auf alle Texte

galapapa

Re:Zu spät
« Antwort #7 am: Mai 20, 2014, 08:51:42 »
Liebe Cyparis,
danke für Deinen Kommentar!
Das lyrische Ich ist auch hier, wie meist, nicht identisch mit dem Autor.
Die Einstellung, wie Du es nennst, des lyrischen Ichs soll hier ja auch Warnung sein und den Betrachter aufrütteln und zum Nachdenken anregen.
In Wirklichkeit sind wir ja auch nie lange vor zwölf, egal wie man es betrachtet.
Liebe Grüße!
Charly