Autor Thema: Vom Reisen  (Gelesen 2443 mal)

gummibaum

Vom Reisen
« am: Oktober 25, 2015, 11:23:23 »
Nie packe ich den Koffer leicht,
denn alles, was ich lang versäumte,
hängt lähmend sich an das Erträumte,
und jede Zuversicht entweicht.

Ich fühl, ich steh jetzt auf dem Turm,
von dem ich mich zu stürzen habe,
der Koffer gleicht dem nassen Grabe,
und Feuerglocken läuten Sturm.

Doch seltsam, kommt der Augenblick,
bevor ich kniend mich ergebe,
erheb ich mich mit ihm und strebe
davon, und nichts mehr täuscht mein Glück…
« Letzte Änderung: Oktober 25, 2015, 11:41:12 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Vom Reisen
« Antwort #1 am: Oktober 25, 2015, 13:49:16 »
Hi, Gum!

Tolles Gedicht, aber mit dem Titel bringe ich es nur schwer in Einklang.

S1 beschreibt, dass das LyrIch nicht gern reist, da lang Versäumtes sich ans Erträumte hängt und so die Zuversicht schwinden lässt. Beziehen sich Versäumtes und Erträumtes auf nie erreichte Reiseziele, nie gemachte Reisen - oder auf andere Lebensereignisse, die am Reisen hinderten?
Normal wäre, dass man sich ,hat man etwas lang versäumt, auf die Erfüllung dessen, auf das Erträumte freut, und nicht, dass es sich wie Mühlsteine ans Erträumte hängt!?

S2 beschreibt eine ausweglose Lebenssituation - den "Turm, von dem man sich zu stürzen habe". Der Koffer als Sinnbild der Reise wird zum Menetekel, und die Feuerglocken läuten wohl eher symbolisch. Der Aufbruch scheint als Abgrund, als Gefahr wahrgenommen zu werden, die Reise als eine ohne Wiederkehr.

S3 beschreibt die Überwindung dieser Angst und den erleichterten Aufbruch in ein neues mögliches Glück - das LyrIch nimmt wieder am Leben teil, freudig gespannt darauf, es zu erforschen, zu bereisen.

Das LyRIch scheint unter Agoraphobie zu leiden, vermag diese aber zu überwinden. Oder die fesselnden Krallen des lang Versäumten. Wie auch immer.

Bis auf das Bild vom Versäumten, das am Erträumten hängt, eigentlich alles klar, wenn man sich die Zeit nimmt, die Symbole zu deuten. Worum es sich bei jenen Versäumnissen handelt, wüsste man doch allzu gerne, um abschätzen zu können, warum sie jede Zuversicht lähmen. Eine große Schuld? Oder nur die Erkenntnis, vieles im Leben verpasst zu haben, weil man nicht gern reiste?

Das Gedicht passt inhaltlich besser zu einer Art Lebenskatharsis, einer Krise, die man überwindet, denn zu Kofferpacken und Reisevorbereitungen. Diesbezüglich ersuche ich um nähere Erläuterung!

Sehr gern gelesen!

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Vom Reisen
« Antwort #2 am: Oktober 25, 2015, 14:17:54 »
Da muss ich mich noch einmal durchleuchten, bevor ich genauer antworte, Erich. Danke vorerst.

LG gummibaum

wolfmozart

Re: Vom Reisen
« Antwort #3 am: Oktober 31, 2015, 17:00:52 »
Hallo gummibaum,

also obwohl das Gedicht etwas Geheimes vom Inhalt her ausstrahlt, finde ich es außerordentlich gelungen!
Dieses Poem würde ich als großen Wurf bezeichnen, seine Sprache als edel und hoch über den Wolken von Alltags-Lyrik.

Gern gelesen

wolfmozart

gummibaum

Re: Vom Reisen
« Antwort #4 am: November 05, 2015, 11:32:55 »
Danke, lieber  wolfmozart.

Der Titel ist nicht glücklich gewählt, Erich, da es um die Phase vor dem Antritt der Reise geht. Was am Grunde der Hoffnung liegt, Defizite, weckt auch Ängste, die lähmen.

LG gummibaum

a.c.larin

Re: Vom Reisen
« Antwort #5 am: November 06, 2015, 19:07:34 »
also ich verstehe das gedicht ganz leicht:
mir ist das kofferpacken nämlich auch ein greuel!

denn da muss man so einschneidende entscheidungen treffen wie:
welches T - shirt lasse ich jetzt zu hause - das blaue oder das rote?

oder:
Soll ich lieber drei paar schuhe mitnehmen oder doch nur zwei? aber was ist, wenn es viel regnet?

brauche ich die lange weste wirklich oder genügt die ärmellose auch?
herrje  -und im kasten ist noch so viel anderes, das in frage käme.... ???
ein mühsames unterfangen, vor allem, weil immer irgendwelche farben nicht optimal zusammenpassen!

seit ich mich unlängst mit mir selber auf blau- schwarz und weiß geeinigt habe, fällt es mir allerdings etwas leichter.


das heimfahr - kofferpacken hingegen ist einfach:
alles, was mir irgendwie bekannt erscheint, kommt in die kiste!

und:: heimfahren ist immer eine schöne richtung für mich!

liebe grüße an den zerrissenen weltreisenden,
larin
« Letzte Änderung: November 06, 2015, 19:09:09 von a.c.larin »

gummibaum

Re: Vom Reisen
« Antwort #6 am: November 07, 2015, 18:39:26 »
Liebe a.c.larin,

danke sehr für dein Verständnis. Diesmal war das Heimfahren auch nicht ganz leicht.

LG gummibaum