Alle Pilger zu begrüßen,
steht er lächelnd am Portal,
doch der Stein verrät im süßen
Lippenspalt versteckte Qual.
Schielt der Mann als Lotterbube
auf den Stein in Weibsgestalt,
opfert sich der Löwengrube
seines Triebes Urgewalt?
Daniels Lüste hart zu geißeln,
naht der Bischof, lässt genant
Esthers Brust heruntermeißeln -
Doch das Lächeln bleibt pikant…
Es geht um eine Skulptur des Propheten Daniel (der einst in die Löwenengrube geworfen wurde). Die Skulptur ist im Hauptportal (Portico de la Gloria) der Kathedrale in Santiago de Compostela (Spanien) angebracht. Dort treten die Pilger (und Touristen), nachdem sie den Jakobsweg gegangen sind, in die Kirche ein, um das legendäre Grab des heiligen Apostels Jakobus (Santiago) zu besuchen. Die übrigen steinernen Propheten-Skulpturen wirken ernst und gesammelt, nur Daniel lächelt. Vielleicht wollte der Steinmetz einfach, dass wenigstens einer die Pilger freudig begrüßt.
Doch fanden manche Katholiken das Lächeln schon früh anstößig und frivol und verdächtigten die Skulptur, sich an der ihr gegenüber angebrachten Statue (die für die Königin Esther oder die Königin von Saba gehalten wird) und ihren weiblichen Reizen lustvoll zu entzücken. Da Esther recht flachbrüstig wirkt, geht die Legende um, dass ein besonders körperfeindlicher Bischoff ihr die einst üppigere Brust wieder abmeißeln ließ, um Daniels Lächeln auszulöschen. Der Erfolg blieb aber aus.