Autor Thema: Der Totentanz  (Gelesen 847 mal)

gummibaum

Der Totentanz
« am: September 07, 2018, 18:10:19 »
Der Alte liegt schon viele Wochen
verwest und still in seinem Grab.
Ich polstre ihm die blanken Knochen
als letztes Hemd behutsam ab.

Doch heute, als es zwölf geschlagen,
der Kirchhof liegt im Mondesschein,
da platzt dem Ruhenden der Kragen,
er tritt von unten an den Stein.

Und dieser stürzt, das Grab steht offen,
ich seh den Kirchturm in der Nacht
und fühle vag des Türmers Hoffen,
dass ein Spektakel Freude macht.

Und wirklich, niemand bleibt heut liegen,
die Gräber tun sich alle auf,
und ringsum krabbeln wie die Fliegen
die weiß Behemdeten herauf.

Uns treue Hüllen wirft man leider
sofort ins kühle Friedhofsgras,
und schamlos nackt genießen beider
Geschlechter Reste irren Spaß.

Ein Tanz hebt an auf bleichen Hacken,
es klingt, als ob man Hölzchen schlägt,
die Schenkel und die Wirbel knacken,
die Kiefer klappern wild erregt.

Ich bin entzückt. Doch aus der Kühle
entführt mich heimlich eine Hand.
Der Türmer sprüht in dem Gefühle
des Schalks und flüchtet unerkannt.

Vom Glockenturme blick ich oben:
Der Tanz ist aus, man zieht sich an.
Nur mein Skelett beginnt zu toben,
weil es das Hemd nicht finden kann.

Gern würde ich den Freund jetzt rufen,
da wittert er mich in der Luft,
und da der Zutritt zu den Stufen
verriegelt ist, folgt er dem Duft.

Er packt den Zierrat an den Wänden
und zieht sich spinnenhaft herauf.
Der Türmer schwitzt an kalten Händen
und gibt sein Stückchen Beute auf.

Er wirft mich schreckensbleich hinunter,
doch wehrt ein Zacken meinem Fall.
Schon werden die Erinnyen munter -
Da schlägt es Eins mit dumpfem Hall.

Zerschellt, mein Liebster! Leicht und heiter
nimmt mich der Türmer mit nach Haus.
Doch trägt er mich als Nachthemd weiter,
so saug ich ihm die Adern aus…


Frei nach Goethes "Der Totentanz".
« Letzte Änderung: September 07, 2018, 20:35:56 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Der Totentanz
« Antwort #1 am: September 07, 2018, 18:50:42 »
Hi Gum!

S2Z1 - "tritt ... vor den Stein". Verständlicher wäre "an den Stein".

S7Z4 - Besser: "... und flüchtet unerkannt, das spart das ungeschickte "gleich" dort.

S10Z4 - Sein Leben? Eher doch seine Beute oder sein Vorhaben. Er stirbt ja nicht, er wirft nur das Hemd weg.


Nur du konntest auf den Gedanken kommen, ein so hochdramatisches Geschehen wie einen Totentanz ausgerechnet aus der Sicht eines personifizierten "unbelebten Gegenstandes" wie eines Totenhemds zu schreiben, was der altbekannten Thematik einen neuen Blickwinkel, eine frische dramatische Note verleiht! Damit reiht sich dieses für dich ungewöhnlich lange Werk unter eine mittlerweile umfangreiche Sammlung derartiger Gedichte.

Sehr gern gelesen!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Der Totentanz
« Antwort #2 am: September 07, 2018, 20:19:37 »
Danke, lieber Erich.

Ich habe alle Vorschläge gern übernommen.

LG gummibaum

« Letzte Änderung: September 07, 2018, 20:35:02 von gummibaum »

cyparis

Re: Der Totentanz
« Antwort #3 am: September 21, 2018, 13:05:34 »
Lieber gummibaum,

Du stürzest mich von einem Entzücken in das andere:
Erst der Handschuh, dann das Totenhemd -
Keine Ballade, die nicht Deiner Aufmerksamkeit wert wäre!
Die Lektüre ist immer wieder ein Genuß - so etwas Gelungenes liest man nicht nur einmal.

Großes Kompliment
von
Cyparis
Der Schönheit treu ergeben
(Lady Anne von Camster & Glencairn)
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