Autor Thema: Ohne Titel  (Gelesen 1203 mal)

gummibaum

Ohne Titel
« am: Oktober 14, 2018, 10:52:51 »
Heute bin ich Zug gefahren,
und ein Reisender wie ich,
ähnlich grau und reich an Jahren,
wirkte äußerst sonderlich.
 
Kurz vor jedem Bahnhof ballte
er die Faust vor seinem Mund,
rief den Ort aus, dass es hallte,
tat die Anschlusszüge kund.
 
Alle schauten ganz verstohlen
auf den Greis mit seinem Spleen,
der, als sei es ihm befohlen,
einem Amt zu dienen schien.
 
Endlich ist er ausgestiegen,
und ich hab mich still gefragt,
ob er nun in andern Zügen
mehr von meinem Leben sagt…

Erich Kykal

Re: Ohne Titel
« Antwort #1 am: Oktober 14, 2018, 11:57:27 »
Hi Gum!

Bombige Conclusio! Erst meint man, es gehe um diesen Autisten (was er wahrscheinlich war) und seine soziale Isolation, nur um dann vom LyrIch eines Besseren belehrt zu werden! Jemand, der so allein ist, dass er sein ganzes Leben damit füllt, mit Zügen umherzureisen, um eine Rechtfertigung dafür zu haben, unter Menschen zu sein, oder weil er manisch die Lande bereist auf der Suche nach Begegnungen. Vielleicht kaschiert er das mit dem Anspruch, sich zu bilden, die Welt zu sehen, Sehenswürdigkeiten zu bestaunen, Kultur zu verinnerlichen usw. - aber diese letzte Zeile atmet so viel Einsamkeit, dass man das Gefühl hat, diesem LyrIch müsse es noch schlechter gehen als dem beschriebenen Autisten (der als solcher ja eigentlich gar nicht so sehr unter sozialer Isolation leidet, er kann mit Menschen ja ohnehin kaum etwas anfangen).
Das erklärt auch die Titellosigkeit - ein solcher könnte zu viel über die eigentliche Absicht der Verse verraten ...

Klasse geschrieben - mit Knalleffekt!  :)

LG, eKy

« Letzte Änderung: Oktober 24, 2018, 19:49:42 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Copper

Re: Ohne Titel
« Antwort #2 am: Oktober 14, 2018, 12:37:19 »
Hallo Gummibaum,

Unser Leben besteht aus vielen Stationen und Anschlussstationen. Wir steigen ein und aus. Wir sind Reisende.
Dein Gedicht ist etwas sehr besonderes. Wie schon Erich schrieb, Das lyr Ich denkt über sein Leben nach. Mir geht es oft so, wenn ich mit jemanden konfrontiert werde der nicht der Norm entspricht. Sei es ein Obdachloser oder einer, der sich in irgendeiner Weise auffällig benimmt.

Ein klasse Gedicht.

LG. Copper

gummibaum

Re: Ohne Titel
« Antwort #3 am: Oktober 14, 2018, 15:20:39 »
Lieber Erich,

dein Kommentar ist ein Geschenk. Einfühlsam geschrieben, bringt er alle im Gedicht versteckten Empfindungen und Gedanken zur Geltung. Ich freue mich.

Lieber Copper,

hab vielen Dank. Ja, das Abnormale kann uns zum Zweifeln und Nachdenken bringen.


Einen schönen Tag wünscht euch
gummibaum



 

Sufnus

Re: Ohne Titel
« Antwort #4 am: Oktober 15, 2018, 10:52:40 »
Hi gummibaum!
Eine famose Form, das liest sich so leicht und ohne jede Anstrengung, fast liest man über die Abgründe der letzten Strophe hinweg...
Wobei mir eKys Kommentar sehr geholfen hat, einen Zugang zu finden... zunächst war ich bei der letzten Strophe zwar betroffen, dass der Ton plötzlich eine Wendung ins "ungemütliche" nimmt, wusste mir aber nicht so recht einen Reim darauf zu machen (ups, nicht beabsichtigter Wortwitz).
Mit eKys Anmerkung im Hinterkopf lese ich hier eine Geschichte über das unheimliche Phänomen des Doppelgängers im düster-romantischen Sinn.
Aber wer von den beiden Personen des Gedichts ist nun gruseliger? Der (harmlose?) Spinner oder der stille Beobachter?
Gerne gelesen!
S.

gummibaum

Re: Ohne Titel
« Antwort #5 am: Oktober 17, 2018, 00:25:56 »
Viel Dank, liefer Sufnus,

ja, das fragt man sich. Ich hatte die Überschrift "Der Doppelgänger" überlegt, hab aber aus dem Grund, der Erich nennt, dann keinen Titel gegeben.

Liebe Grüße von
gummibaum