Autor Thema: Die Unverzeihenden  (Gelesen 1193 mal)

Erich Kykal

Die Unverzeihenden
« am: November 01, 2018, 17:35:10 »
Am Horizont so eben noch ein Streifen
von letztem Licht und seiner Abendröte,
als ob der Tag uns einen Gruß entböte,
nach dem schon alle Dunkelheiten greifen.

Es ist die Zeit, da die Gedanken reifen
an alle jene, die man schon verloren,
verworfen hat, in altem Schmerz vergoren,
und die uns durch Erinnerungen schleifen.

Wir könnten jederzeit die Hände reichen,
vergeben und verzeihen, was uns trennte,
jedoch der Ort, wo alte Knochen bleichen,

verbietet uns die aufgetane Geste,
als zahlten wir noch immer Alimente
an das vor Ewigkeiten schon Verweste.
« Letzte Änderung: November 02, 2018, 00:10:53 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Sufnus

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #1 am: November 05, 2018, 11:15:39 »
Düstere Zeilen zu einem schönen Sonett mit ungewöhnlichem Reimschema gefügt.
Ich denke, es war eine sehr gute Idee, nicht aus formalen Gründen um jeden Preis zwei weitere Reimwörter auf -öten "passend zu machen" :) - Du hast ja nun auch wahrlich genügend klassische Sonette geschrieben und musst niemandem einen Befähigungsnachweis für zweimaliges ABBA-Reimen liefern. :)
Nur gegen die "Dunkelheiten" schaue ich an - ein Abstraktum wie Dunkelheit in den Plural zu setzen, kann durchaus auch recht poetisch wirken; hier, eingebettet in Zeilen mit eh schon ziemlich viel "gravitas", ist es mir persönlich zu viel: wie ein dick bebuttertes Brot, das dann noch mit Mayonnaise bestrichen wird (was sicher auch Geschmackssache ist ;) ).
Davon ab sehr gern gelesen! :)
S.

Erich Kykal

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #2 am: November 05, 2018, 16:21:05 »
Hi Suf!

Ich habe schon immer gern mit der Sonettform gespielt und breche durchaus so manche Regel, wenn es mir für die gewünschte lyrische Wirkung probat erscheint. Ein allzu enges Korsett macht atemlos, wie ich das immer augenzwinkernd rechtfertige. Sollen die Regelgläubigen und Puristen doch im Dreieck springen und mich zur Hölle wünschen!  8) >:D

Mit dem Plural "Dunkelheiten" habe ich kein Problem. Man kann sie als eigene Entitäten betrachten, wie Nachtmahre oder dunkle Ängste aus dem eigenen Bewusstsein, die sich mit der aufkeimenden Finsternis in der Fantasie vermengen. Das öffnet so manche Metaebene.

Vielen Dank für deine vertiefenden Gedanken!  :)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #3 am: November 09, 2018, 10:48:36 »
Die Alimente sind ein starkes Bild, lieber Erich, das zur nachdenklich machenden Pointe führt. Im Grunde ist es so. So lange wir Alimente zahlen, also immer wieder dran denken, den Unmut schüren, den , ja, soll ich sagen, Hass? konservieren, werden wir nie Frieden finden. Irgendwann muss jeder abschließen, hinter sich lassen, nicht unbedingt verzeihen  das ist einfach unrealistisch manchmal - aber abhaken.
Dann wird auch die Dunkelheit sich lichten, möglicherweise auch die Dunkelheiten, die ich hier als das von dir erklärte Metapher nachvollziehen kann.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #4 am: November 09, 2018, 11:59:54 »
Hi Agneta!

Vielen Dank für deine vertiefenden Folgerungen, mit denen du meinen Gedankengängen nachspürst.  :)

Wenn es nur nicht so schwer wäre, das "innere Abhaken", wenn ein Tort sich erst einmal so richtig eingegraben hat! Manches kann die Zeit eben auch nicht heilen, bloß überdecken ...  ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #5 am: November 09, 2018, 17:48:44 »
Ich persönlich denke, die Zeit kann gar nichts heilen, schon gar nicht Verletzungen, Schmähungen oder Streit.
Es kann sein, dass die Menschen, einem egal werden, die der Auslöser dafür waren. Dann kann man abhaken, wozu aber auch eine gekappte Beziehung gehört. Es gibt eben Dinge, die kann man nicht verzeihen.
Und wer schreibt uns eigentlich vor, was wir zu verzeihen haben? Und dass wir weiter Umgang haben sollen mit denen, die uns so verletzt haben?
Die Kirche- die Kinder missbraucht, Menschen um ihre Güter geprellt hat und Menschen gekillt hat?
Die Gesellschaft- die wir doch alle sind und die aus Individuen besteht?

Anderer Punkt: was krank macht, ist nicht, jemandem nicht zu verzeihen, sondern sich mit dieser Art "Schuldkomplex" herumzuschlagen, der irgendwie meint, wir müssten es doch.Wir müssen gar nix.
Nachdenkliche Grüße von Agneta

Erich Kykal

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #6 am: November 09, 2018, 23:23:45 »
Hi Agneta!

Richtig, wir müssen nicht verzeihen - aber wir wollen meistens, wenn auch insgeheim, weil wir soziale Wesen sind und uns vertragen wollen, bzw, dass andere einen guten Eindruck von uns haben. So hinterlässt die Antipathie, die einer schlimmen Verletzung folgt, leider immer auch eine Art schlechtes Gewissen darum, weil wir es offenbar nicht schaffen, über uns hinauszuwachsen und auch noch "die andere Backe hinzuhalten", wie uns von klein auf eingetrichtert wurde.

Selbst wenn man sich diese Prägungsmechanismen vor Augen hält - man wird sie nie ganz los. Aber du hast schon recht: Manches bleibt unverzeihlich, und man geht sich fürderhin besser aus dem Weg.

LG, eKy
« Letzte Änderung: September 02, 2021, 12:05:14 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Agneta

  • Gast
Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #7 am: November 11, 2018, 09:09:02 »
das ist jetzt schon noch interessant zu beleuchten, lieber Erich. Die andere Wange hinhalten ist christlich. Aber vielemnschen sind heute nicht mehr an die Kirchen gebunden. Warum also sollte uns das noch steuern?
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #8 am: November 11, 2018, 13:26:52 »
Hi Agneta!

Weil nicht die christliche Lehre unser Verhalten steuert, sondern unsere soziokulturelle Prägung. Religionen sind immer aus einer solchen heraus entstanden und werden ihr sozusagen nachträglich aufgepfropft, um die "Gebote" sozialen Umgangs zusätzlich zu heiligen und so unverrückbar zu machen.
So ist auch das Christentum nicht der "Erfinder" sozialer Regeln, sondern bestenfalls deren Erklärer, Mittler und - ohne Trennung von Staat und Kirche - auch noch der Bestrafer bei Nichtbefolgung. Das haben wir - im Gegensatz zu vielen islamischen Ländern - zum Glück hinter uns.

Was uns also steuert, sind Erziehung und frühkindliche Prägung durch ein soziales Konzept. Das mag von Kultur zu Kultur und entstprechend dem jeweiligen Entwicklungsstand leicht abweichen, aber die grundsätzlichen "Gebote" menschlichen Zusammenlebens sind im Grunde überall gleich definiert: Eigentum achten, Ehe achten, nicht Morden (außer Staat und/oder Kirche befehlen es!  ;) ::)) - kurz, leben nach dem Motto "Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu!".

Damit soziale Strukturen überhaupt funktionieren können, ist so ein verbindliches Regelwerk für alle Beteiligten eben unerlässlich. Ob nun religiös motiviert (das war früher der stärkste soziale Kitt für eine Gemeinschaft überhaupt) oder politisch (das bürgerliche Gesetzbuch kommt ohne Götter aus und regelt alles sogar noch viel gerechter und detaillierter als heilige Bücher!), wir leben danach und geben es an unsere Nachkommen weiter, durch Erziehung und Belehrung von klein auf: "Sowas tut man nicht!", "Gib das sofort zurück!", "Sitz gerade am Tisch!", "Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!", usw ...

"Die andere Wange hinzuhalten" ist (abgesehen von der dramatischen Übertreibung, die das Prinzip dahinter verdeutlichen soll) also im Grunde nicht primär christlich, sondern schlicht eine überzogen dargestellte soziale Regel, quasi das ultimative Opfer des Individuums, das in einer Gemeinschaft anerkannt sein will, die sich als friedfertig und tolerant definiert (ob sie es dann auch tatsächlich IST, steht stets auf einem anderen Baltt ...  ;) >:D).

LG, eKy
« Letzte Änderung: September 02, 2021, 12:06:08 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #9 am: November 11, 2018, 16:38:25 »
Lieber Erich,

sehr schön, die Gestaltung des Gegegensatzes zwischen gutwilligen Scheiden des Tages, an dem wir uns so leicht orientieren könnten, und dem böswilligen Festhalten an verwesten Rechnungen.

Sehr gern gelesen.
LG gummibaum

 

Agneta

  • Gast
Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #10 am: November 11, 2018, 19:45:09 »
ui, eine tolle Antwort, Erich, über die ich gerne nachdenken will.
Ja, sicherlich hast du recht. Deine Theorie würde auch erklären, warum "Atheisten" eigentlich dieselben moralischen Vorstellungen an ein Soziogepräge haben wie religiöse Menschen. Inklusive des " Sich natürlich selbst am besten von allen fühlen". Unsere Moral ist also immer noch die religiös geprägte seit Entstehung der Religion an sich.
Den Wert, den du dieser Tatsache zumisst entnehme ich deinen ironischen Seitenhieben, die ich voll unterstütze und gerne begrinse.
In der Tat aber sind alle Religionen des europäischen Raums, Christentunm, Islam, Judentum und deren diverse Untersekten von der Thora abgeleitet.

Aber auch in Hinduismus und Buddhismus findet man diese soziokulturelle Prägung. Daran sieht man ganz deutlich, dass Religion an sich schon immer ein "Erziehungsmechanismus" war. Welche Götter also immer, sie sollen uns zu gute Menschen machen ( vor allem ihre Verteter auf Erden
, Smilie käm jetzt gut, geht wieder nicht). Nur die Griechen, die hatten da auch ein paar unnette Götter, so weit ich mich erinnere GGG
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Die Unverzeihenden
« Antwort #11 am: November 11, 2018, 22:54:25 »
Hi Gum!

Vielen Dank für die ermunternden Lobesworte!  :)


Hi Agneta!

Diese "Menschlichkeit" macht mir die "alten Götter" (Bei Griechen, Kelten, Germanen oder Wikingern) wesentlich sympathischer, realistischer und aufrichtiger als der hehre Anspruch eines makellosen, unfehlbaren, allmächtigen Überwesens, dem wir alle Rechenschaft schulden.  ;) ;D

LG, eKy
« Letzte Änderung: September 02, 2021, 12:08:19 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.