Autor Thema: Ein menschliches Adventsereignis  (Gelesen 1723 mal)

Erich Kykal

Ein menschliches Adventsereignis
« am: Januar 06, 2019, 18:25:40 »
Ein dünner Mann in abgewetzten Sachen
steht murmelnd vor beladenen Regalen
mit Etiketten voller schwarzer Zahlen,
die ihn befangen und verzweifelt machen.

Nach allen Seiten klamme Blicke äugend
hat er nach dem Gewünschten sich gebückt,
es unter seinen Jackensaum gedrückt,
und tut sofort, doch wenig überzeugend,

grad so, als wäre nichts davon geschehen.
Er tigert an die Schlange vor der Kasse
und fragt devot, ob man vorbei ihn lasse -
er habe nichts, das könne jeder sehen.

Er sieht den Ausgang schon, und seine Schritte
sind wie beflügelt von gelöstem Bann,
da tritt ein strenges Paar an ihn heran
und nimmt ihn unauffällig in die Mitte.

Man bittet ihn, die Jacke aufzumachen -
er ist ertappt! Er kann nicht mehr entkommen!
So hat man ihn nach hinten mitgenommen
und staunt nicht schlecht ob der geraubten Sachen:

Ein Kinderpulli bis zu sieben Jahren
und Förmchen für den Sand mit Plastikschippe,
das trug der „Kriminelle“ an der Rippe!
Er schweigt dazu, will sich nicht offenbaren.

Der Detektiv tauscht einen langen Blick
mit dem Kollegen, und er spricht sodann:
„Mit solchem Kleinkram fangen wir nichts an!
Entschuldigen Sie unser Missgeschick!"

Und sie begleiten ihn bis an die Pforte
und reichen ihm die Beute hinterdrein.
Da steht er nun und denkt: 'Das kann nicht sein!',
und lange Zeit noch fehlen ihm die Worte.
« Letzte Änderung: Januar 06, 2019, 18:38:49 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Martin Römer

  • Gast
Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #1 am: Januar 06, 2019, 19:37:39 »
Guten Abend!

Ich traue wegen der ganzen Ereignisse in diesen Zeiten nicht mal mehr der eigenen Hand vor den Äuglein.

Ist das der Realität entnommen? Es scheint so, obwohl ich eigentlich immer wieder die „volle Härte“ bei diesen Diebstahlfällen mitbekomme. Natürlich weniger persönlich, obschon mir die Obdachlosen, die Penner, die Armen lange Zeit ein interessantes und eigentlich fast romantisches Thema waren.

Was man stehlen kann und was einen Preis hat, hat keinen Wert. Besser glänzt die Rolex-Uhr am Handgelenk, als in der Vitrine: das ist so das Selbstverständliche meiner Hausmoral…

Viele Grüße an den Virtuosen
M.

Sufnus

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #2 am: Januar 06, 2019, 20:16:29 »
Lieber eKy!
Auch Dir noch alles Liebe zum neuen Jahr! :)
Und Du hast es hier mit einem Deiner anrührendsten Gedichte (soweit ich das nat. sehr unvollständig überblicke) eröffnet. Da kann ich mich Martin nur anschließen: Virtuose!!!
Lg,
S.

gummibaum

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #3 am: Januar 06, 2019, 21:06:08 »
Schön geschrieben, lieber Erich.

Gut, wenn es wirklich so kam, denn der Mann hat alles versucht, einem Kind eine kleine Freude zu machen.

Liebe Grüße
gummibaum
 

p.s.: Mir fiel dazu eine Weihnachtsgeschichte ein, die ich mal für meine Kinder schrieb. Hab sie unter "Erzählungen" eingestellt.
« Letzte Änderung: Januar 06, 2019, 21:29:52 von gummibaum »

Erich Kykal

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #4 am: Januar 06, 2019, 22:00:10 »
Hi Martin, Suf, Gum!

Hier dachte ich an einen arbeitslosen, verarmten Familienvater, vielleicht mit kranker oder verstorbener Frau, der mehrere Kinder zu versorgen hat, und das wenige Geld hinten und vorne nicht reicht, schon gar nicht für die simpelsten und billigsten Weihnachtsgeschenke! Man denkt bei europäischer Armut gern an die Romane von Charles Dickens aus dem 19. Jhdt, aber die heutige Armut ist kaum weniger hart, auch wenn die Kinder betroffener Familien heute nicht mehr so offensichtlich in Lumpen herumlaufen wie damals.
Oder man denkt an rumänische Kinderbanden, die Klebstoff schnüffeln und in Ubahnschächten nächtigen, weit weg von uns, und dass es sowas bei uns nicht mehr geben könnte - aber auch da sind wir mit der immer weiter aufklaffenden Schere zwischen Wohlstand und Mangel nicht mehr allzu weit entfernt!
Alle verspotten die SPD, und keiner will sie mehr gewählt haben - aber ich erinnere mich an Zeiten Schmidt'scher Integrität, da waren sie noch nicht von der Schröder'schen slicken Managerattitüde verdorben, und damals wären Zustände wie die heutigen unter ihrer aufrichtig humanen Ägide einfach nicht denkbar gewesen! Aber was weiß schon ein weltfremder Träumer wie ich ...

Nun, wie auch immer - die angesprochene herz- und geistlose Nulltoleranz zur Gewinnoptimierung ist ja kein neues Merkmal einer emotional immer mehr verarmenden Gesellschaft. In Wirklichkeit wären die Detektive wahrscheinlich sofort entlassen worden, hätte jemand die Vorgänge auf den Kameras mitverfolgt oder jemand sie später gesichtet, egal, ob sie die gestohlenen Artikel aus eigener Tasche sofort bezahlt hätten oder nicht.
Konzerne machen vielleicht manches einfacher und bieten dank internationaler Aufstellung bessere Auswahl an Produkten, aber wir bezahlen dafür mit einer Kleinherzig- und Kleingeistigkeit in Dingen, die uns eigentlich menschlich berühren sollten, einfach, weil die große Maschine, die wir bedienen, damit sie uns dient, es so für effizient und adäquat hält. Dieses Denken erstreckt sich dann irgendwann auf unsere ganze Zivilisation - wie anders könnten Politiker ungeohrfeigt vorschlagen, man solle Flüchtlinge mit Elektrozäunen fernhalten, oder gar mit gezielten Todesschüssen, oder sie gleich im Mittelmeer ersaufen lassen!?

Vielen Dank für eure Einlassungen!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Januar 31, 2021, 13:44:17 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Martin Römer

  • Gast
Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #5 am: Januar 07, 2019, 03:48:30 »
Ein weltfremder Träumer aus einer anderen Generation – wenn ich das noch anmerken darf. Die Zivilisation ist bei mir untergegangen und dafür sehe ich einen eigenen Kosmos und Kessel. Konzerne sind ein Spektakel von vielen.

Dabei wird schon länger eine „Sensibilität“ gelehrt zugunsten der Religion des Geldes, der Rationalität, der Hemmungslosigkeit usw. und aus der Psychopathie ein neues Gewissen geschöpft.

Mit einem versilberten Gulag hat man die Zustände eigentlich einfach beschrieben. Ich habe lange Zeit von Gosse und Wodka geträumt – weil die eigene Zerfleischung nichts Würdiges sein kann. Und in meinen Träumen zeigen sich wohl schon die nächsten Alpgestalten…

Agneta

  • Gast
Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #6 am: Januar 12, 2019, 19:13:09 »
eine Ballade, ein verdichtetes Märchen, lieber Erich. Wird es wohl real so nicht geben. Aber die Hoffnung sollte man ja nie aufgeben.
LG von Agneta

Erich Kykal

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #7 am: Januar 12, 2019, 19:16:37 »
Hi Agneta!

SEHR selten mag es solche Momente in der realen Welt geben - aber was ist schon Realität ...  ;) ::)

LG, eKy
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Letreo71

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #8 am: Januar 15, 2019, 07:58:52 »
Lieber Erich,

auch wenn ich hier nicht mehr so aktiv bin, lese ich immer noch gerne mit. Bei diesem Gedicht muss ich einfach einpaar Worte schreiben, da es mich sehr berührt.

Danke für diese schönen Zeilen, mögen sie hin und wieder Wirklichkeit sein.

Lieben Gruß

Letreo

Sufnus

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #9 am: Januar 15, 2019, 14:08:57 »
auch wenn ich hier nicht mehr so aktiv bin

Was durchaus bedauerlich ist, beraubt es doch uns, nicht bei anderen Foren registrierten Dortnurmitlesern, der Möglichkeit, Perlen wie "Mach'n Fisch", ein Gedicht, das meiner ohnehin gerade recht serenen Laune weiteren Auftrieb zu verleihen höchst imstande war und bei dem mich einzig und allein der Titel etwas zweifelnd (aber so freundlich wie erfreut) Kopfwiegen machte, zu rühmen und zu preisen! :)

Erich Kykal

Re: Ein menschliches Adventsereignis
« Antwort #10 am: Januar 15, 2019, 18:01:31 »
Hi Letreo, Suf!

Vielen Dank für die lieben Worte!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: August 19, 2020, 12:36:52 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.