Ein interessantes (und nebenbei formal sehr sauber "verarbeitetes") Sonett.
Zwar vermeidest Du die Höchstschwierigkeit, in S2 die gleichen Reimendungen zu verwenden wie in S1, aber das ist ja nicht unbedingt zwingende Bedingung um Sonett-Status zu erlangen (ich persönlich bin da eh nicht sehr penibel, alles was 14 Zeilen, ein Mindestmaß an gebundener Sprache hat und vielleicht auch noch ein bisschen mit Reimen spielt, ist für mich ein Sonett... und wenns nur 13 Zeilen sind, isses halt ein kaputtes Sonett... )
Was die fast durchgängige Kleinschreibung, abgesehen vom Wort Europa, angeht, bin ich auch nicht besonders empfindlich.

Ehrlich gesagt, ist es mir ziemlich egal, wie in einem Gedicht geschrieben wird, ob nun alles klein oder mit Duden-konformer Groß- und Kleinschreibung, mit oder ohne Großschreibung am Zeilenanfang, mit Zeichensetzung oder ohne... ich finde, das spielt grundsätzlich eigentlich keine große Rolle - allerdings mag ich es, wenn ich das Gefühl habe, der Dichter hat sich bei seiner Wahl der Schreibweise etwas gedacht.
In Deinem Fall beinhaltet die Großschreibung von Europa schon eine gewisse Botschaft. Warum also nicht?
Woran ich noch etwas herumkritisieren möchte, ist, dass das Gedicht so geschrieben ist, als enthalte es eine eindeutige Lehre (was erstmal keineswegs negativ ist), aber wenn man darüber nachdenkt, was die Lehre nun eigentlich genau sein soll, wird es recht diffus.
Am Ende bleibt bei mir hängen: "wenn wir uns weiterhin verrennen, dann müssen Kirchen brennen". Und da weiß ich jetzt nicht so genau, was ich damit anfangen soll.
Persönlich hab ich schon mal überhaupt nicht vor, mich zu verrennen (wohin eigentlich? in die Rechtspopulistische, Europa-kritische Ecke?), von daher sehe ich etwas gegen das "wir" an. Und dann, wenn ich mich aus dem "wir" einfach mal ausnehme: Was soll dann diese Prognose (oder ist es eine Empfehlung)? Wenn die Europa-Feindlichkeit und/oder der Populismus weiter um sich greifen, dann müssen (= sollen?) Kirchen brennen?
Ein bisschen habe ich das Gefühl, dass hier der Reim die Regie übernommen und den Inhalt etwas vergewaltigt hat. Aber vielleicht blick ich auch einfach nicht durch, was "die Botschaft" ist... von daher nix für Ungut!
Mag gerne mehr von Dir lesen, ob nun gereimt oder ungereimt und groß oder kleingeschrieben!

Das ist doch das schöne an Lyrik: Fast alles ist möglich und wenn's dem einen nicht gefällt, findet's vielleicht der andere ganz wonniglich... eine große, bunte Wiese des Pluralismus!