Autor Thema: Enteignung  (Gelesen 1625 mal)

gummibaum

Enteignung
« am: Mai 19, 2020, 13:22:52 »
Immer drängst du mein Gestalten
ungeduldig zum Zenit,
und mein Wunsch, mich zu entfalten,
wird zu deinem und entflieht.

Glänzen soll ich und dich spiegeln.
Ehrgeiz macht den Spiegel blind.
Drängt dazu, sich einzuigeln.
Du säst Angst in deinem Kind…

Erich Kykal

Re: Enteignung
« Antwort #1 am: Mai 19, 2020, 14:53:33 »
Hi Gum!

Sehr gut! Das Kind selbst spricht überehrgeizige Eltern an, die ihr Kind zu jenen Höchstleistungen anstacheln wollen, die sie selbst gern als Kinder erbracht hätten! Der Vater spielte nie Bundesliga? Na, der Sohn muss unbedingt hinein! Oder er wollte ein Tischtennischampion werden? Sein Nachkomme wird es auf jeden Fall, und wenn er noch so quengelt und heult!
Oder die Tochter soll jene Karriere machen, die ihre Mutter sich nie erfüllen konnte, weil sie zu früh mit ihr schwanger wurde ...

Die meisten Eltern wollen, dass ihre Kinder glücklich sind - und zumindest nicht weniger in der Welt darstellen als sie selbst. Leider gibt es jene, die immer MEHR für ihre Kinder wollen als sie selbst waren oder sein konnten, entweder aus eigenem Minderwertigkeitskomplex, oder weil sie ihren Selbstwert über Wohlstand und beruflichen oder sportlichen Erfolg definieren. Am beliebtesten ist der Reichtum: Der Filius muss unbedingt besser verdienen, es "besser haben im Leben".

Spitzenreiter im "Dressieren" ihrer Kinder zu unbedingter Leistung und Arbeitsmoral (mit entsprechender Selbstmordrate unter Kindern) sind die Asiaten, und dort die Japaner und Chinesen. Dort muss neben schulischen Spitzenleistungen und sportlicher Disziplin auch noch mindestens ein klassisches Instrument makellos beherrscht werden, und das am besten schon im Vorschulalter, zusammen mit zumindest einer Fremdsprache!

Was diese - wie sie glauben optimalen und wohlmeinenden - Eltern in ihren Sprösslingen damit anrichten, erkennen sie nicht, oder sie verschließen die Augen davor, weil sie glauben, sie könnten ihren Nachwuchs nur so auf die Herausforderungen moderner Gesellschaften vorbereiten!
Aber letztendlich produzieren sie zerbrochene Seelen oder funktionale Soziopathen.

Wer nie sein und werden darf, was er selber möchte, wer immer nur die Vorstellungen anderer zur eigenen Person leben und verwirklichen muss, kann kein glücklicher Mensch werden. Ich spreche aus Erfahrung: Mein Vater war sehr ehrgeizig, was meine intellektuelle Ausbildung anbelangte, da ich schon früh entsprechend Gaben zeigte. Leider übertrieb er es maßlos mit seinem Steckenpferd, den Fremdsprachen: Wenn andere Kinder draußen im Sonnenschein ihre Ferien genossen, musste ich täglich jeden Vormittag an seinem Tisch verbringen und seine Abreitsblätter für Englisch abarbeiten.
Schulisch hätte ich Spitzenwerte bringen sollen, nichts weniger wurde von einem Professorensohn und zukünftigen Chefchirurgen oder Teilchenphysiker erwartet! Ein Gut = Zweier im Zeugnis war schon in der Volksschule ein Grund, mich vor strengen Mienen daheim rechtfertigen zu müssen!

Als ich in die Pubertät kam, rebellierte ich immer nachhaltiger dagegen und wurde schließlich aus innerem, stillem Protest zum kompletten Leistungsverweigerer. Das Gymnasium schaffte ich nur, weil mein Vater Unsummen in meinen Nachhilfeunterricht für Mathe und Latein investierte (Meine Lieblingshassfächer! Latein deshalb, weil ich nie begriff, wozu man eine tote Sprache lernen sollte, und weil ich einen mir extrem unsympathischen und empathielos strengen Lehrer hatte, der mir Elfjährigem echte Angst machte und jede Freude an diesem Fach gleich zu Beginn zerstörte) - aber ich dankte es ihm nicht. In der Maturaklasse hatte ich im Semesterzeugnis sieben Genügend = 4 (und in Österreich ist Nicht genügend = 5 die schlechteste Note!) und tat nur gerade so viel, um durchzukommen - eher, um meinen Vater zu bestrafen und nicht, weil ich eingesehen hätte, dass ich es brauchte (ich hatte damals dank jahrelangen Mobbings durch Gleichaltrige andere und nahestehendere Sorgen und Nöte als solche um meine Zukunft, die mir in meiner Depression ziemlich egal war), sondern nur, damit man mich endlich in Ruhe ließ (mein Vater wurde fast nie laut oder verlor die Beherrschung, er hat mich nie geschlagen - Mama war diejenige mit dem Teppichklopfer und den "Watschen" - aber er war unglaublich geduldig und zäh und ließ einfach nie locker - er bearbeitete einen einfach so lange, bis man irgendwann aufgab und ihm seinen Willen ließ ...).

All das hinterließ einen bereits in jungen Jahren zynisch verbitterten, zutiefst unsicheren und gebrochenen, aber vor allem völlig antriebslosen Menschen, der sich von seinesgleichen wie von jeglichem Ehrgeiz abwandte. Damals allerdings nicht primär aus philosophischer Einsicht, sondern aufgrund bodenloser Versagensängste, die diese emotional erpresserische Überforderung mir andressiert hatte: Wir haben dich nur lieb, wenn du toll bist und alles vollbringst, was wir uns vorstellen  - ansonsten sind wir maßlos enttäuscht von dir und lassen dich das auch spüren ...
Ich war ein verwöhntes Kind und bekam praktisch jedes Spielzeug, das ich mir wünschte und mehr, materiell war ich mehr als abgesichert, gerade weil mein Vater sich kaputtrackerte "für mich und meine Zukunft" - aber ich hätte damals all das gern eingetauscht für den einen Feenwunsch, der aus meinem Vater einen Menschen gemacht hätte, der Nähe zulassen, Verständnis zeigen und mich so hätte akzeptieren können, wie ich war, und mich nicht unbedingt zu dem formen wollte, was er sich von seinem einzigen Filius erträumte.


Dein kurzes, aber intensives Gedicht fügt all das in fast einfache, aber sehr lyrische Worte, die unzweifelhaft jene Faktoren klar machen, die hinter solchen Handlungen stehen, und wozu sie führen.

Sehr gern gelesen und extrem gut nachempfunden!  :)

LG, eKy
« Letzte Änderung: Dezember 30, 2020, 13:04:45 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Enteignung
« Antwort #2 am: Mai 19, 2020, 19:19:08 »
Danke, lieber Erich,

für den den ausführlichen und interessanten Beitrag zu dem Thema. Mit so viel persönlicher Erfahrung hatte ich nicht gerechnet. Dein Feenwunsch hat mich besonders beschäftigt, denn meine Kinder haben sich von mir auch mehr persönliches und weniger schulisches Interesse gewünscht.

Liebe Grüße
gummibaum


Erich Kykal

Re: Enteignung
« Antwort #3 am: Mai 19, 2020, 19:30:38 »
Hi Gum!

Der Grat zwischen Inspiration und Förderung oder Überforderung und Aversion kann Brot schneiden!  ;)

Es liegt an unterschiedlichen Interessenlagen. Ich war/bin zwar sprachbegabt, aber was mein Vater machte, war einfach viel zuviel für einen Zehn- bis Dreizehnjährigen, und damals war ich zudem viel mehr am Zeichnen und Basteln interessiert als an Englisch- oder Französischlektionen, wenn überhaupt. Als Kind in diesem Alter will man im Wald Abenteuer suchen, Radfahren, Frösche und Schlangen fangen, Schnitzen, Gegend erforschen, Banden gründen und Baumhäuser bauen! Damals zumindest ...

LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 19, 2020, 19:33:03 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

gummibaum

Re: Enteignung
« Antwort #4 am: Mai 21, 2020, 09:57:56 »
Ja, Förderung kann leicht in Überforderung umschlagen.

Ich habe nicht wie du mit Aversion reagiert, sondern mit Verinnerlichung und Symptomenbildung. Ich schrieb mir Pläne, die erfüllen wollte, riss sofort die Seite aus dem Heft, wenn ich mich verschrieben hatte und konnte Bürgersteige nicht mehr betreten, wenn die Pflasterung Unregelmäßigkeiten aufwies.

Herzliche Grüße
gummibaum



   

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Enteignung
« Antwort #5 am: Mai 21, 2020, 10:38:27 »
Hallo gummibaum, hi Erich,

ich wurde nicht gefördert. Zum Klavierspielen kam ich durch meinen verstorbenen Bruder. Meine Eltern sagten immer, das Land brauche Handwerker und keine Denker. 
Wünsche meinerseits wurden "zärtlich" als unsinnig und unnötig abgetan. In der siebten/achten Klassen dann, entwickelte ich mich zu einem Problemschüler, der Grenzen testete und gegen allerlei Sinnlosigkeiten im Schulsystem kämpfte. Der Stein des Anstoßes wurde von einer Grundschullehrerin gelegt, die mir regelmäßig mit einem Schlüsselbund auf den Kopf schlug, weil ich zu lethargisch gewesen sei. Später provozierte ich dann Lehrer, lehnte Freundschaften ab, weil keine gemeinsamen Interessen bestanden. Ich blieb Weihnachtsfeiern fern und las stattdessen in meinem Zimmer Lovecraft und das Buch "Der blaue Planet", welches mein Bruder schrieb.

Die Art und Weise durchzog mein gesamtes Leben und ich eckte immer wieder brutal an. Getrieben von Neugier und Wissensdurst, aber abgelehnt von der Überforderung der Pädagogik.
Es gab etliche Verweise, dann griff ich zur Flasche, nahm Drogen, um meine "Welt" zu normalisieren. Ich verweigerte die Kommunikation (selektiver mutismus) und traf grundsätzlich Einsamkeit dort, wo der Mensch zu gegen war. Hörte immer von allen Seiten, ich sei dumm, begriffsstutzig usw...
2012 hat sich aber alles verändert... Aber meine Prägung saß bereits zu tief, so dass ich nach ernsthaften Versuchen im Leben Fuß zu fassen, dann doch gescheitert bin. Immerhin bestand ich die Begabtenprüfung an der Uni mit Auszeichnung und das ohne Abi. Der Arzt, der mich diagnostizierte, riet mir dazu ich solle Astrophysik studieren und das Abi nachholen. Darauf hatte ich aber keine Lust.
Aber auch in der Uni scheiterte ich, weil ich nicht sehr sozial war und mich nicht zu integrieren wusste und auch da nicht aufhören konnte, gewisse restriktive Hierarchien zu hinterfragen. Mein Hirn kann irgendwie nicht anders... Naja, jetzt bin ich seit fünf Jahren erwerbsunfähig, geplagt von episodischen Depressionen und einer Asperger-Diagnose. Dafür gehe ich jetzt allen Dingen nach, die ich mir als junger Mensch nicht erfüllen konnte und förder mich selbst, so gut wie es meine Aufmerksamkeitsspannen zulassen...

 
 
« Letzte Änderung: Mai 21, 2020, 10:42:58 von Eisenvorhang »

Erich Kykal

Re: Enteignung
« Antwort #6 am: Mai 21, 2020, 12:33:26 »
Hi Gum!

Interessant! Ich entwickelte den Zwang, alles in rechte Winkel zu legen: Wenn ein Stift oder Heft auf meinem Tisch nicht exakt ausgerichtet lagen, "musste" ich das sofort ändern. Wichtig dabei war auch mein Gefühl für Bildkomposition: Die Gegenstände mussten "formatfüllend" verteilt sein - oder alle randnah. Etwas links oben brauchte einen optischen Ausgleich rechts unten, oder, je größer der Gegenstand war, desto mittiger - die "optische Waage" musste immer akribisch ausbalanciert sein ...

Hi EV!

Bei mir war eben der eigene Vater, der "Herr Professor", die "überfordernde Pädagogik" in Reinkultur ...  ::)


Vielen Dank für das Teilen der Details zum besseren Verständnis und Kennenlernen eurer Personen!  :) Man fühlt sich so einander näher.


LG, eKy
« Letzte Änderung: Mai 21, 2020, 20:05:05 von Erich Kykal »
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.

Eisenvorhang

  • Gast
Re: Enteignung
« Antwort #7 am: Mai 21, 2020, 13:48:59 »
:) Man fühlt sich so einander näher.


LG, eKy

Ja, alle verkorkst!  ;D ;D

gummibaum

Re: Enteignung
« Antwort #8 am: Mai 21, 2020, 14:13:36 »
Lieber Eisenvorhang,

danke für den interessanten Bericht über deine Schwierigkeiten. Dein Talent und Können bilden ein Gegengewicht. Gut, wenn du dich darauf stützt und aus den Hemmnissen und Ungleichgewichten herausarbeiten kannst. Ich musste es auch, und der Prozess ist wahrscheinlich nie abgeschlossen.


Lieber Erich,

danke noch für deinen letzten Beitrag.


Herzliche Grüße an euch
g


Sufnus

Re: Enteignung
« Antwort #9 am: Mai 22, 2020, 09:47:41 »
Lieber gum,
wie keiner sonst vermagst Du das Düstere in ganz locker gefügten, lakonischen Versen zum Ausdruck zu bringen. Dein Gedicht ist sehr berührend und die folgenden Beiträge dokumentieren, wie aus fehlgeleiteter Fürsorge tiefe Verletzungen resultieren können. Ich muss an den oft fälschlicherweise Kurt Tucholsky zugesprochenen Aphorismus denken: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint.
LG!
S.

gummibaum

Re: Enteignung
« Antwort #10 am: Mai 23, 2020, 19:22:00 »
Danke, lieber Sufnus. Der Aphorismus gefällt mir.

Herzliche Grüße
von gummibaum

AlteLyrikerin

Re: Enteignung
« Antwort #11 am: Mai 25, 2020, 16:09:39 »
Lieber gummibaum,

Dein Text hat zurecht schon ausführliche Kommentare geerntet. In die Reihe der begeisterten Leser reihe ich mich gerne ein. So kurz, so treffend und so wenig moralinsauer.

Herzliche Grüße, AlteLyrikerin.

gummibaum

Re: Enteignung
« Antwort #12 am: Mai 27, 2020, 23:35:03 »
Danke für dein Lob, liebe AlteLyrikerin.

Grüße von gummibaum

Eleonore

  • Gast
Re: Enteignung
« Antwort #13 am: Juni 09, 2020, 10:57:39 »
*wow* Gummibaum,

das ist Klasse.

Und erklärt soviele Verweigerer, soviele abgebrochene Karrieren usw. usf.

Im Märchen Rumpelstilzchen wird diese Überforderung f.m. Empfinden sehr deutlich.
Stroh zu Gold verspinnen könne sie .... aijaiijaii.

Schlimm ist, wenn der Überfordernde irgendwann Einzug in das eigene innere Mietshaus gefunden hat.
Das ist bei mir der Fall und ich habe lange Jahre gebraucht, um herauszufinden,
dass meine vermeintliche Lässigkeit ein gute getarnter Perfektionismus ist.

Schöne Grüße

Eleonore

Erich Kykal

Re: Enteignung
« Antwort #14 am: Dezember 30, 2020, 13:09:16 »
:) Man fühlt sich so einander näher.


LG, eKy

Ja, alle verkorkst!  ;D ;D

Sind wir doch alle - es gibt keine "unverkorksten" Menschen, nur solche, die es mehr oder weniger gut verbergen oder kompensieren können!  ;) >:D
Ironie: Ich halte euch einen Spiegel vor, damit wir herzlich lachen können.
Sarkasmus: Ich halte euch einen Spiegel vor, weil ich von euch enttäuscht bin.
Zynismus: Ich halte euch einen Spiegel vor, aber ich glaube nicht mehr an euch.